von ~Cassiopeia~
Wörteranzahl: 2280
Thema: eine Szene aus den 12 Jahren zwischen James' und Lilys Tod und seiner Tätigkeit als Lehrer
Puzzlestücke
Manchmal frage ich mich, ob es das Prinzip Zufall wirklich gibt.
War es Zufall, als vier Schüler sich in einem Zugabteil trafen und so Freunde fürs Leben wurden? War es Zufall, dass ein Kind, gerade ein Jahr alt, als einziges Mitlied der Familie überlebte und obendrein den dunkelsten aller Zauberer selbst richtete?
War es Zufall, dass ich an jenem Morgen, als die Geschichte sich scheinbar wiederholte, seit langer Zeit wieder einmal von damals geträumt hatte, ohne ersichtlichen Grund?
Ich weiß es nicht.
Aber vielleicht würde ich sonst niemals erfahren, was in jener Nacht des 31.10.1981 wirklich geschehen war.
Zwölf lange Jahre hatte Sirius Black als verurteilter Massenmörder und einst engster Todesser Voldemorts die eisige Hölle Askabans überlebt. Minister Fudge hatte ihn vor einiger Zeit besucht und es hatte ihn „erschreckt, wie normal Black war. Hat mich gegrüßt und die Kreuzworträtsel in meinem Tagespropheten gelöst, um welchen er mich höflich gebeten hatte“.
Zwei Wochen später war Black aus Askaban geflohen.
Niemals werde ich das Bild aus dem Tagespropheten vergessen, den ein Kauz an jenem nebligen Morgen vor einem Monat gebracht hatte.
Sirius Black war entkommen. Niemand konnte sagen wie, aber dass es passiert war, stand außer Zweifel.
Im beinahe selben Moment hatte ich einen Brief erhalten mit der Bitte Dumbledores, im kommenden Schuljahr als Lehrer für Verteidigung gegen die Dunklen Künste ein besonderes Auge auf Harry zu haben. Ich war verwirrt, noch nie hatte mir jemand einen Job angeboten.
Mir, einem Werwolf, ausgerechnet einen Lehrerposten anzubieten, hielt ich dann doch für etwas unüberlegt. Ich wusste, dass Dumbledore mich nicht ohne Grund bitten würde, denn auch für mich würde es alles andere als einfach werden und für ihn musste es eine Menge Arbeit im Ministerium bedeuten, das durchzusetzen.
Die letzten Jahre hatte ich froh sein können, wenn ich meinen Job länger als zwei Monate behalten durfte. Selbst in der Muggelwelt wurde es nicht besser (nicht, dass ich es nicht versucht hätte). Doch meine Monatlichen Ausfälle wollte niemand so einfach hinnehmen, also wurde mir Mal um Mal gekündigt.
Ich nahm den Job an, was blieb mir auch anderes übrig? Selbst, wenn er mich als Filchs Assistent engagiert hätte, hätte ich angenommen, ich brauchte jeden Penny.
Nun bin ich hier, mit zwei Koffern in schäbiger Kleidung. Einige glotzen, andere lachen, es kümmert mich nicht.
Der Bahnsteig ist noch leer, als ich ankomme. Nur vereinzelt stehen einige Eltern mit ihren Kindern in eine Ecke gedrängt, doch ich beachte sie nicht weiter. Müde schleppe ich meinen Koffer hinter mir her und ziehe die erstbeste Abteiltür auf, die nicht direkt am Eingang des Waggons liegt. Ich wuchte mein Gepäck in die Ablage und erinnere mich erst hinterher daran, dass ich dafür ja auch meinen Zauberstab hätte benutzen können.
Achselzuckend und verärgert über mich selbst setze ich mich schließlich an den Fensterplatz und ziehe die Gardinen zu, um die unerträgliche Helligkeit auszuschließen.
Ich atme einmal tief durch in dem Versuch, das Kribbeln, welches meinen ganzen Körper erfasst hat, etwas zu beruhigen.
Es hilft nicht wirklich, aber meine Müdigkeit überdeckt meine Nervosität genug, sodass ich, noch ehe die ersten Kinder hier ankommen, eingenickt bin und meinem Körper versuche den Schlaf zu gönnen, der ihm seit Nächten verwehrt blieb.
Wie so häufig in letzter Zeit träume ich von damals. Es ist erschreckend, wie genau sich mein Unterbewusstsein noch an Dinge erinnert, die tagsüber vollkommen vergessen sind. Doch sobald Morpheus mich in sein Reich holt, begegne ich dort allen wieder. Erlebe von neuem, was wir damals erlebten, erinnere mich an die ersten einsamen Jahre, als ich glaubte, es meinen Freunden gleich zu tun und meinem Leben ein Ende zu setzen. Gebe den Ereignissen eine andere Wendung, eine gute Wendung.
Die Abteiltür wird ruckartig aufgeschoben und ich erwache, bleibe jedoch in meiner Schlafposition, ich bin so unendlich müde.
Drei Schüler setzen sich, ein Mädchen und zwei Jungen. Als der eine jedoch beim Namen genannt wird, klopft mein Herz schneller. Aber noch will ich die Augen nicht öffnen, was ich brauche ist Schlaf nach der letzten Vollmondnacht. Außerdem kann ich, wenn ich ihnen weiterhin einfach nur zuhöre, vielleicht mehr über Harry erfahren, wie er wirklich ist und nicht, wie er sein wird, wenn er mir als Schüler gegen über steht?
„Professor R. J. Lupin“, liest das Mädchen von meinem Koffer, der andere Junge ist beleidigt.
„Mann Harry, wieso weiß die immer alles?!“
Doch zu meiner Enttäuschung spricht nicht Harry, sondern die Mädchenstimme erneut.
„Es steht auf seinem Koffer, Ron.“
„Oh.“
Ich bin sehr versucht, wenigstens einmal zu blinzeln, doch meine Augenlider widerstehen dem Drang sich zu öffnen, sie sind so unglaublich schwer. Harry hat bisher noch keinen Ton gesagt und ich frage mich, ob er wirklich mit im Abteil ist oder ob meine Fantasie mir wieder einmal einen Streich gespielt hat, als er plötzlich tatsächlich spricht.
„Glaubt ihr, er schläft?“
Kurzes Schweigen, offensichtlich beobachten sie mich und ich gebe mir große Mühe, so auszusehen, als würde ich wirklich schlafen, kontrolliert langsam atme ich ein und wieder aus.
„Ich glaube, schon, warum?“, antwortet das Mädchen mit leiser Skepsis in ihrer Stimme.
„Weil ich euch etwas erzählen muss…“ Damit wird die Abteiltür krachend zugezogen und Harry beginnt seinen Freunden zu erzählen, was er über Sirius erfahren hat.
Mir wird kalt. Sirius. Wieso weiß Harry davon, wer er wirklich ist? Arthur muss es ihm erzählt haben, war Harry nicht mit seiner Familie zusammen in der Winkelgasse?
Ich blende Harry immer mehr aus. Was er seinen Freunden erzählt, ist für mich nichts Neues. Im Gegenteil. Ich weiß, wer Sirius Black ist und ich weiß weitaus mehr, als Harry auch nur ahnt. Wahrscheinlich bin ich zur Zeit der einzige im ganzen Zug, der weiß, wer Sirius wirklich ist.
Wieder einmal wandern meine Gedanken zurück, lassen die letzten zweiundzwanzig Jahre im Zeitraffer an mir vorbei flimmern. Angefangen an jenem ersten September neunzehnhunderteinundsiebzig durch die Schuljahre mit ihren Höhen und Tiefen hindurch bis zu unserem Abschluss. Dann der Eintritt in den Orden, aus den Rumtreibern waren Freiheitskämpfer geworden.
Doch ebendiese mussten wir alle nach und nach aufgeben. Lily und James mussten sich schließlich ganz verstecken und suchten einen Geheimniswahrer, der sie und den kleinen Harry beschützen sollte.
Ihre erzwungene Isolation währte ganze sechs Monate, doch ihre Befreiung kam anders als erwartet. Weder James noch Lily überlebten den Angriff und niemand hätte jemals gedacht, dass das Ende so aussehen würde.
Denn am Ende war Voldemort der Gerichtete, nicht Harry. Voldemort war seinem eigenen Todesfluch zum Opfer gefallen und hatte somit die Zaubererwelt unfreiwillig befreit. Der Richter hatte seinen Henker gefunden
Doch was die Freiheit für jeden einzelnen bedeutete, war weit entfernt von jeglichen Klischees, die wir alle in unseren Hinterköpfen all die Zeit über aufrecht erhalten hatten, sollte der unverhoffte Tag des Sieges über Voldemort wirklich eintreten.
Für zwei meiner einst besten Freunde bedeutete es nichts weiter als den Tod. Für den dritten eine Fahrt ohne Wiederkehr nach Askaban.
Für mich blieb nur die Einsamkeit.
Unweigerlich wandern meine Gedanken zu der Person, wegen der ich jetzt hier sitze.
Ich sollte Sirius danken, er hat mir einen Job vermittelt!
Ein bitteres Lachen steigt meiner Kehle empor, doch ich reiße mich zusammen, schließlich denken die Kinder, ich schlafe noch. Sie haben sich mittlerweile anderen Themen zugewandt, aber meine Erinnerungen lassen sich nicht so einfach abschütteln, wenn sie erst einmal an die Oberfläche gekommen sind.
Beinahe ist es mir ein bisschen peinlich, hier in die Ecke gequetscht zu sitzen und so zu tun, als ob ich schliefe und ich bin kurz davor, meine Tarnung aufzugeben, als mir bewusst wird, mit wem ich da wirklich in einem Abteil sitze.
Sicherlich ist Harry nicht einfach irgendwer, doch dass es wirklich James' Sohn ist, der hier sitzt, Sirius' Patensohn, ist ein Gedanke, der mich wie ein Schlag trifft.
Plötzlich ist alles wieder da. Das Lachen, die Stimmen, das Glitzern in den Augen. Gemeinsame Nächte in der Hütte, Vollmondstreifzüge. Streiche und Schulsprecherverpflichtungen. Lily und James, eine Hochzeit. Ein winziges Etwas mit grünen Augen und schwarzen Haaren, der Stolz seiner Eltern und seines Paten.
Die Anschuldigungen, Vorwürfe, Misstrauen, welches auch vor uns vier Freunden nicht halt machte.
Dann schließlich die Nacht, die alles veränderte und mit einem Mal waren wir gezwungen zu erkennen, dass wir uns alle getäuscht hatten.
Mein Magen krampft sich zusammen. Obwohl ihr Tod zwölf Jahre her ist, scheint er gerade jetzt so nah, als wäre es gestern gewesen. Es war nur eine Nacht, die es brauchte, einen Moment der Unachtsamkeit, vielleicht auch des Wunders und alles war vorbei.
Während die Zaubererwelt ihre Freiheit gefeiert hatte, hatte ich mich in den hintersten Winkeln meines Seins verkrochen, unfähig, einem Schock Ausdruck zu verleihen.
Nicht nur waren drei meiner besten Freunde tot, nein. Der Vierte von ihnen hatte sich als Verräter erwiesen, der seinen eigenen Patensohn und seine besten Freunde auszuliefern bereit gewesen war, um bei seinem Meister in hoher Gunst zu stehen.
Der Plan ging nach hinten los, doch ein Sirius Black gibt nicht auf.
Ich merke, wie ich wütend werde. Wütend darüber, solch eine Person einmal meinen Freund genannt zu haben, wütend darüber, es nicht eher gesehen zu haben.
Doch so oft ich die Jahre nach Hogwarts auch Stück für Stück in meinem Kopf durchwälze, ich finde nichts. Kein dunkles Mal, kein verdächtiges Benehmen, keine Zurückweisung. Und doch frage ich mich, wie wir alle damals so blind hatten sein können.
Wieder fühle ich mich beschmutzt und benutzt und um meiner selbst betrogen. Zehn verdammte Jahre lang hatte ich geglaubt, Sirius Black wäre mein Freund. Vertraute ihm. Glaubte ihm.
Zwei Monate später wurde dieses Vertrauen ebenso abrupt ausgelöscht wie der Avada Kedavra den Zauberstab seines Urhebers verließ und sich in Lilys und James' Körper versenkte.
Ich höre ein Lachen, James' Lachen, doch im nächsten Moment ist es nur Harry, der dort mit seinen Freunden lacht und sich über Dinge unterhält, die ich nicht verstehe, obwohl sie mir vage bekannt vorkommen wie aus einer vergessenen Zeit. Er lebt in seiner eigenen Welt, nicht der meinen. Keine Rumtreiber, keine Lily-James-Geschichten, keinen Paten, der sich liebevoll um einen kümmert.
Mein Wut steigt, als mir bewusst wird, was Sirius' Ausbruch wirklich bedeutet.
Er ist noch nicht fertig. Nein, er hat Blut geleckt und er will Rache für zwölf Jahre Askaban.
Er will diese neue, noch heile Welt abermals zerstören, doch das werde ich nicht zulassen.
Du hast schon genug kaputt gemacht.
Ich muss wieder eingenickt sein, denn als ich das nächste Mal wach werde, ist es kalt. Sehr kalt. Unnatürlich kalt.
Und es ist sehr, sehr still. Kein Lachen, keine sich unterhaltenden Jugendlichen mehr, die sich Gedanken über das neue Schuljahr machen. Vor allem - kein Rattern der Räder auf metallenen Schienen mehr, angetrieben von bollernden Kohlekesseln.
Dann höre ich es. Ein Rasseln, es klingt wie ein Staubsauger aus der Muggelwelt. Schlagartig ist mir klar, was hier los sein muss. Ruckartig reiße ich meine noch immer müden und schweren Augen auf, bin im nächsten Moment auf den Beinen und versuche mich auf irgendetwas zu konzentrieren, dass meinem Patronus Kraft gibt und den verdammten Dementor von Harry verscheucht.
Harry - James, Lily. Freunde fürs Leben. Ich schwöre feierlich, ich bin ein Tunichtgut.
Es wirkt, zu meiner eigenen Überraschung ist der Dementor fort, als ich aus meinen Erinnerungen auftauche.
Missetat begangen.
Es funktioniert also immer noch, erkenne ich beinahe erschreckt und ich weiß nicht, wie ich das warme und zugleich kalte Gefühl in mir deuten soll.
Harry liegt ohnmächtig auf dem Boden, seine Freunde sehen mich verängstigt an. Doch ich beachte sie kaum, setze Harry in einen der Sitze und muss mich wenige Sekunden später arg zusammen reißen, als er seine Augen öffnet und ich mich Lily wieder gegenüber sehe, als wäre sie nie fort gewesen.
Abwesend erkläre ich den Kindern, was passiert ist und lasse sie dann allein mit der Entschuldigung, ein paar Worte mit dem Zugführer wechseln zu müssen. Aber kaum habe ich etwas Abstand zwischen uns gebracht, lehne ich mich schwer atmend an eines der großen Fenster auf dem Gang. Einige Schüler sehen mich verwundert an, doch ich ignoriere sie.
Vor meinen Augen sehe ich immer wieder dasselbe Bild.
Lily und James, die zu einer Person verschmelzen. Harry.
Für wenige Sekunden, die ich Harry in die Augen gesehen habe, war ich wieder zwölf Jahre jünger, sah Lilys warmes Lächeln, als sie Harry auf dem Arm hielt und James' stolzes Leuchten in den Augen, als er ihm über die schwarzen, kurzen, weichen Haare strich.
Zwölf Jahre lang hatte ich Zeit, mich mit ihrem Tod und Sirius' Verrat aus einander zu setzen. Zwölf Jahre sperrte ich den Schmerz einfach aus und nun überwältigt er mich binnen weniger Sekunden aufs zweite Mal.
Draußen vor dem Fenster verschwimmt die vorbeirasende Landschaft zu einem Schleier aus Farben und Formen. Details werden unkenntlich, ein Ganzes.
Einige Minuten starre ich förmlich auf die Welt hinter dem Glas und langsam, ganz langsam, begreife ich.
Zwölf Jahre lang war mein Leben nur eine Anhäufung aus Details. Kleine Momentaufnahmen, doch was ihnen fehlte, war das große Ganze. Wie lose verstreute Puzzleteile, die sich nun endlich nach und nach zusammen setzen. Endlich bin ich bereit, die Grenzen verschwimmen zu lassen, Formen aufzulösen und in einem jeden Moment einen Sinn zu sehen, der sich erst ergibt, wenn man sie alle gemeinsam als Einheit betrachtet.
Ein Lächeln legt sich auf meine Lippen, plötzlich fühle ich mich unendlich erleichtert. Die Zeit in Hogwarts mit Harry als meinem Schüler wird sicherlich nicht einfach werden. Doch ich weiß jetzt, ich habe das richtige getan. Es gibt nur einen Weg und der ist nach vorne.
Ich kehre nicht in das Abteil zu den Kindern zurück, nein. Ich genieße einfach die neue Freiheit, die von mir Besitz ergriffen hat und freue mich auf ein spannendes Jahr voller Puzzelstücke, die am Ende hoffentlich ein ganzes Bild ergeben werden.
Danke, Tatze.
Wenn Du Lob, Anmerkungen, Kritik etc. über dieses Kapitel loswerden möchtest, kannst Du einen Kommentar verfassen.