von -Hermine-
Andie legte sich die schwarze Lederjacke um, strich sich die Haare hinter die Ohren und packte seufzend einen Koffer um den Henkel um ihn aufzuheben. Mit einem Ruck schoss dieser jedoch empor und zog Andie aus dem Haus. Ungeschickt schob sie ihre Sonnenbrille auf die Nase, stolperte über die Kante und erkannte aus den Augenwinkeln Mr und Mrs Winston im Nachbargarten. Sie winkte kurz und versuchte es nicht allzu offensichtlich zu zeigen, dass es der Koffer war, der sie zum Auto zog. Als der Koffer in den Kofferraum fiel, biss sie sich auf die Lippe und verlagerte ihr Gewicht von einem Fuss auf den anderen, in der Hoffnung, dass sie das ältere Paar nicht beobachtet hatten.
„Guten Morgen Rimelda! Guten Morgen Alfred! Ist es nicht ein schöner Tag?“
Durch ihre Sonnenbrille konnte Andie ihre Mutter erkennen, welche in einem rötlichen Kleid aus dem Haus tanzte und dabei überfreudig ihren Nachbarn zuwinkte. Andie wandte sich ab, öffnete die Autotür, liess Barney hineinspringen und liess sich auf den freien Platz nieder. Als sie die Türe hinter sich geschlossen hatte, war es auf einen Schlag still und Andie genoss die wenigen Sekunden Ruhe. Ihr Blick fiel noch einmal auf ihr Haus und ihr wurde klar, dass sie es für eine längere Weile nicht mehr sehen würde. Gedankenverloren fing sie an Barney zu kraulen, welcher einen zufriedenen Laut von sich gab. Sie setzte sich anders hin und merkte wiederum den Zauberstab in ihrer Tasche – eines Tages würde er unter ihrem Gewicht zerbrechen. Sie zog ihn hervor und hielt ihn prüfend vor sich. Sie hatte ihn in der letzten Nacht studiert, hatte ihn versuchshalber bewegt und es mit „Abra Kadabra“ versucht, jedoch hatte nichts funktioniert. Barney schaute den Zauberstab mit Interesse an. Er stand mit seinen Vorderpfoten auf ihren Oberschenkel und fing an daran zu schnuppern. Barney war noch so klein, dass Andie ihn ohne Mühe hochheben konnte. Sie bekam ihn letztes Jahr zu Weihnachten weil ihre Mutter der Meinung war, dass Andie ein Haustier brauchen würde. Der Grund war jetzt klar. Anscheinend brauchte man ein Haustier in der Schule.
„Freust du dich?“ Andie strich über seinen Kopf und lächelte, als der Kleine einmal bellte und mit dem Schwanz anfing zu wedeln.
Der Bahnhof Kings Cross war voller Leute. Ansagen drangen aus den Lautsprechern als Andie mit einer Hand ihren Koffer hinter ihr herzog, und mit der anderen Barney an der Leine hatte. Sie trug einen Rucksack auf ihrem Rücken und schaute sich um. Höchstwahrscheinlich war dies der letzte Augenblick in der Welt, in der sie aufgewachsen war. Barney trippelte fröhlich hinter ihrer Mutter her, welche schnurstracks ihren Weg durch die vielen Wartenden bahnte. Ihr Bruder lief neben ihrem Vater her. Erst nach ein paar Minuten erreichten sie die Gleise 9 und 10. Andie stand neben ihre Mutter und schaute sich um. Es war noch kein Zug angekommen und auf diesem Perron, warteten nicht allzu viele Leute. Ihr Vater und ihr Bruder tauchten neben ihr auf.
Ihre Mutter legte eine Hand auf ihre Schulter und zeigte mit der anderen geradeaus. Voller Stolz richtete sie sich an Andie. „Darf ich vorstellen? Der Eingang in einen neuen, aufregenden Lebensabschnitt. Wollen wir?“
Andie schaute von ihrer Mutter zu der Mauer und wieder zurück. „Mum du…zeigst gerade auf eine Backsteinmauer. Bist du sicher dass es dir gut geht?“
Ihre Mutter kicherte. „Das, Andrea, ist der Zugang zum Gleis 9 ¾. Du gehst einfach mit Schwung gerade darauf zu.“
„Du meinst…du willst dass ich in eine Wand laufe? Mit voller Absicht?“, fragte Andie amüsiert und schaute ihre Mutter unsicher an.
„Eigentlich sollte dieses Gefühl dir sehr bekannt vorkommen.“ Ihr Vater warf ihre Tasche über seine Schulter. Als er Andies Blick bemerkte, räusperte er sich wie üblich. „Von der Tatsache ganz abzusehen dass es meistens nicht absichtlich ist. Was die Sachlage jedoch nicht gerade verändert.“
Andie seufzte. „Na gut. Dad, geh du doch schon mal voraus. Mein Körper ist zerbrechlicher als deiner.“
„Tut mir leid Schatz. Die fehlende Kreativität verbietet es mir.“
„Du bist doch sowieso schon dran gewöhnt Andie.“, kicherte Ben und reichte ihr eine kleinere Tasche, „stell dir einfach vor es passiert wie immer aus unerklärlicher Dummheit.“
Andie streckte die Hand nach ihrer Tasche aus und gerade als sie etwas erwidern wollte, bemerkte sie zwei junge Teenager, die während dem laufen wild miteinander diskutierten. Das blonde Mädchen, die Haare schön zu einem Zopf an den Seiten entlang geflochten, redete energisch auf den grossen, schlaksigen und rothaarigen Jungen ein. Andie verstand nur ein paar Gesprächsfetzen wie „unmöglich und gegen jegliches Verantwortungsgefühl“ sowie „nur Unfug im Kopf“ das aus dem Mund des Mädchens kam. Die zwei waren so sehr in ihr Gespräch vertieft, dass sie es nicht zu bemerken schienen, wie sie auf die Absperrung zuliefen und von einem Moment auf den anderen verschwanden. Andie öffnete ihren Mund, schloss ihn jedoch gerade wieder, als sie zwei Erwachsene beobachtete, welche wohl mit dem rothaarigen Jungen verwandt sein mussten. Ein grosser Mann, der einen grünen Hut, einen Anzug und einen Gips um den Arm trug, lief neben seiner kleineren, etwas runderen Frau her. „Wunderbar! Was für ein wunderbarer Tag, nicht wahr Molly? Es könnte nicht besser sein.“
„Dein Arm könnte besser sein! Wieso musstest du auch dieses Papierfliegen ausprobieren Arthur, es war ganz offensichtlich, dass die Sache nicht gut ausgehen würde!“, erwiderte die Frau in einem energischen und tadelnden Ton.
„Drachenfliegen Molly, Drachen, das ist ja das erstaunliche an Muggel. Sie sehen gar nicht aus wie Drachen, Feuer gespuckt haben sie auch nicht und-“ Das Paar blieb stehen und die Frau stemmte eine Hand in die Hüfte, währenddessen sie mit der anderen auf ihren Mann zeigte. „In Zukunft verbiete ich den Gebrauch von unbekannten Muggelgeräten, Arthur. Du setzt den Kindern nur Flausen in den Kopf, schlimm genug, dass wir auch schon ein fliegendes Auto haben. Ganz zu schweigen von diesem Gips, und deinem unendlichen Stolz.“
Der Mann, Arthur, richtete sich in seiner vollen Grösse auf und schaute seine Frau mit einem zufriedenen Lächeln an. „Es war ein ganz erstaunliches Ereignis, diese Erfahrung. Ganz erstaunlich.“ Er drehte sich auf dem Absatz um und ging mit hocherhobenen Kopf auf die Mauer zu, den Arm von sich gestreckt um seine „neue Errungenschaft“ zu präsentieren. Molly blieb zurück, schüttelte den Kopf und seufzte.
„Die Dummheit scheint gar nicht so unerklärlich zu sein, Schwesterherz.“, sagte Ben und zog die Augenbrauen hoch, „scheint als liege dir das irgendwie im Blut.“
Andie wandte den Kopf um etwas zu erwidern, ihre Mutter kam ihr jedoch zuvor.
„Molly!“, rief sie, lief zügig auf die Frau zu und winkte aufgeregt.
Molly wandte sich um, und nach wenigen Sekunden verschwand der genervte Ausdruck auf ihrem Gesicht. „Anna! Was für eine Freude dich hier zu sehen!“ Sie breitete beide Arme aus und als sich die beiden Frauen in der Mitte trafen, umarmten sie sich herzlich.
Andie schulterte ihren Rucksack und begutachtete die Szene durch ihre Sonnenbrille. Barney legte den Kopf schief und schaute dem Schauspiel zu.
„Aber was tust du hier? Sag bloss-?“ Die beiden Frauen hielten sich immer noch an den Händen, als Andies Mutter heftig mit dem Kopf nickte. „Endlich ist es soweit, sie ist ja so aufgeregt! Ein einziges Nervenbündel!“
„Was meinst du.“, sagte Andie, wandte sich an ihren Vater, hielt den Blick jedoch immer noch nach vorne gerichtet, „sprichst sie gerade von jemandem den wir nicht kennen oder von ihr selber?“
Ihr Vater lächelte und drückte ihre Schulter. „Es ist ein grosser Tag für deine Mutter, Andrea. Für die ganze Familie, um genauer zu sein.“ Er schaute sie zwinkernd an.
„Jaah, endlich darf ich dein Zimmer haben.“ Ben fing an einen lächerlichen Tanz aufzuführen und bevor Andie etwas dagegen unternehmen konnte, hörte sie ihre Mutter.
„Andrea, Schatz, komm rüber und sag hallo!“ Ihre Mutter winkte sie zu sich und deutete auf die freundlich aussehende Frau neben ihr.
Andie seufzte und ging auf die beiden zu. Sie verzog die Lippen zu einem Lächeln und nickte kurz.
„Das ist Molly Weasley, Molly, das ist meine Tochter Andrea.“
„Endlich sehe ich dich mal.“ Molly drückte Andies Hand, „deine Mutter hat schon sehr viel von dir erzählt, es ist mir eine Freude.“
Andie lächelte. „Danke, ebenfalls.“
„Na gut!“ Andies Mutter klatschte in die Hände, „dann wollen wir mal los, du willst ja den Zug nicht verpassen.“
Andie lächelte scheu und schaute unsicher auf die Absperrung.
„Oh Kind, mach dir keine Sorgen.“ Molly legte eine Hand auf Andies Rücken und bewegte sie sachte nach vorne, „das erste Mal ist immer etwas merkwürdig, aber es kann dir absolut nichts passieren.“ Molly machte mit der freien Hand eine beruhigende Bewegung und schaute sie mütterlich an. „Du hast sicher meinen Sohn Ron und seine Freundin Hermine gesehen, sie sind vor dir grad durchgegangen. Ich wette sie warten bestimmt auf der anderen Seite…eine Sekunde Schätzchen.“
Molly lies Andie zwei Meter vor der Absperrung stehen, lief auf die Wand zu und streckte ohne Zurückhaltung ihren Kopf durch die Mauer. Andie zog die Augenbrauen hoch und begutachtete das nicht alltägliche Bild vor ihr. Nach wenigen Sekunden zog Molly ihren Kopf zurück, richtete die Haare und lief mit einem Lächeln auf Andie zu. „Ich habe nur schnell nachgesehen ob Ron auf der anderen Seite wartet. Es kann beim ersten Mal vorkommen, dass man mehr stolpert als läuft, aber es tut nicht weh.“
„Ach da kennt sie sich damit aus, nicht wahr Schatz?“ Andies Mutter legte die Hand auf die Schulter, lächelte und stupfte sie an.
„Du kannst auch die Augen schliessen Andrea, wie du gesehen hast, haben Ron und Hermine auch nicht gesehen wo sie hinlaufen.“
„Obwohl das Weasley eigentlich nie macht, oder?“
Andie wandte sich um und blickte auf die Gestalt eines blonden, grossen Jungen. Ihr Herz machte einen kleinen Hüpfer und sie schluckte. Sie blinzelte und verdrängte den Schwindel, der sich ihr schlagartig aufdrückte. Sie versetzte ihr Gewicht auf die Füsse und versuchte das klare Bild vor ihren Augen zu behalten. Wiederum blinzelte sie. Die Statur des Jungen verzog sich und ihr wurde schummrig vor Augen. Was geschah mit ihr?
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