von hilgener-jung
Er lag mit dem Gesicht nach unten da und lauschte in die Stille. Er war vollkommen allein. Niemand beobachtete ihn. Niemand war da. Er war nicht einmal ganz sicher, dass er selbst da war.
Eine lange Zeit später, vielleicht aber auch im selben Augenblick, kam ihm, dass er existieren musste, mehr sein musste als körperloses Denken, denn er lag eindeutig auf irgendeiner Oberfläche. Folglich spürte er eine Berührung, und das Etwas, auf dem er lag, existierte ebenfalls.
Kaum war er zu diesem Schluss gelangt, wurde Harry bewusst, dass er nackt war. Und in dem Augenblick, in dem er diese Erkenntnis erlangt hatte, schoss Harry durch den Kopf, was dies für ihn bedeutete.
Er hatte es wieder geschafft. Er war wieder einmal in einer Zwischenwelt, zwischen Diesseits und Jenseits, auf der Schwelle zwischen Leben und Tod. Es war nicht das erste Mal, dass Harry an diesem Punkt angelangt war. Nein, er hatte diese Situation bereits zweimal erlebt. Jeweils nachdem Lord Voldemort ihn mit dem Todesfluch getroffen hatte. In seinem ersten Leben. Und in seinem Zweiten, erst wenige Momente bevor Lord Voldemort endgültig besiegt werden sollte. Umso erstaunter war Harry darüber, dass er wieder an diesem Punkt angelangt war. Denn dieses Mal gab es keinen Teil eines bösen Zauberers in seinem Körper, der statt ihm die Reise ins Jenseits antreten konnte. Dieses Mal war es lediglich Harry gewesen, der von einem tödlichen Fluch getroffen worden war. Nur eine Seele in einem Körper. Nicht mehr, und nicht weniger.
Langsam öffnete Harry seine Augen. Er lag in einem hellen Nebel, der gleiche Nebel den er schon so oft gesehen hatte. Ein Grinsen kam auf sein Gesicht, als sich dieser Gedanke in sein Gehirn schlich. Wer sonst könnte behaupten, schon öfters in einer solchen Situation gewesen zu sein?
Er schaute sich um und versuchte im hellen Nebel die bekannten Konturen zu erkennen, die beruhigende Umgebung von King`s Cross. Doch dieses Mal sah er die Umrisse des Bahnhofs nicht. Er war nicht in dem Bahnhof gelandet, der seinem Leben so viele Veränderungen gebracht hatte, der eine so große Bedeutung für Harry hielt. Er blickte sich um und erkannte als Erstes den Schreibtisch, der vor dem geöffneten Fenster stand. Und in dem Moment in dem er das Fenster bemerkte, fühlte er auch den leichten Hauch einer Sommerbrise, der seine Haut kitzelte. Er schaute nach rechts an die Wand und entdeckte das Poster von den Schicksalsschwestern. Und auch das Poster von Gwenog Jones hing an der Wand gegenüber. Es gab also keinen Zweifel für ihn, er stand in Ginnys Zimmer im Fuchsbau. Doch wieso war er dieses Mal in diesem Zimmer gelandet, statt am Bahnhof Kings Cross?
Wieso in Ginnys Zimmer?
„Weil du dich wohlfühlen sollst, während du die Entscheidung triffst“ erklang eine weibliche Stimme, die aus dem Nichts zu kommen schien und ihn stark an die Stimme seiner Freundin erinnerte.
„Welche Entscheidung denn?“ fragte Harry leise in den Raum hinein. Kurz wartete er auf eine Antwort der Stimme, doch es kam keine und Harry lachte laut auf. Wer hätte ihm auch antworten sollen, wo sich doch die gesamte Situation in seinem Kopf abspielte?
Er schaute sich noch einmal im Raum um. Erinnerungen von seinem einzigen Aufenthalt in diesem Zimmer schossen ihm durch den Kopf, Erinnerungen an den atemberaubenden Kuss, den er an seinem 17. Geburtstag von Ginny erhalten hatte. Und seine Gedanken wanderten weiter, zu heimlich gestohlenen Küssen in Hogwarts, zum Kuss im Gemeinschaftsraum nach dem Gewinn der Hausmeisterschaft und der Kuss unter dem Mistelzweig, der ihr zweiter „erster Kuss“ gewesen war. Und seine Gedanken wanderten zu all den anderen Orten, an denen Ginnys Gegenwart ihn so glücklich gemacht hatte.
„Es ist Interessant, dass du diesen Ort gewählt hast.“ hörte Harry nun eine andere, ihm vertraute Stimme. Er drehte sich um und blickte in die funkelnden Augen von Albus Dumbledore, der, aus dem Nichts erschienen, nun vor dem offenen Fenster stand.
„Der Bahnhof King´s Cross ist eine Durchlaufstation für dich, ein Ort von dem du dich entweder in die eine, oder in die andere Richtung verabschiedest.“ sprach Dumbledore weiter und Harry schaute ihn verwirrt an. Selbst der Albus Dumbledore den er sich selbst in seinem Kopf vorstellte, schaffte es, für Harry in Rätseln zu sprechen.
„Als du das erste Mal an diesem Punkt warst Harry, gab es für dich zwei Möglichkeiten, den Bahnhof zu verlassen. Entweder weiter zu deinen Eltern, oder zu deinen Freunden zurück. Dieser Raum aber Harry, hat nur einen Ausgang.“
Dumbledore lächelte freundlich und Harry dachte über das Gesagte nach. Tatsächlich war er dieses Mal gar nicht auf die Idee gekommen, weiterzugehen um seinen Eltern zu begegnen. Er hatte nur zurückkehren wollen. Zu seinen Freunden und zu Ginny. Und das obwohl er wusste, dass sie in Sicherheit waren und dass Voldemort nie zurückkommen würde.
„Ich will zurück.“ flüsterte er leise, aber bestimmt, und schaute auf die Zimmertür. Doch ein weiterer Gedanke schoss ihm durch den Kopf. Im selben Augenblick, im Bruchteil einer Sekunde, trennte sich eine weitere Tür aus der bereits bestehenden heraus und zierte nun die Wand direkt neben dieser.
„Aber wo ist zurück?“
Er schaute fragend auf den Schulleiter, der sich nun gegen die Kante des Schreibtischs lehnte und Harry interessiert musterte.
„Ist es mein erstes Leben? Zurück in die große Halle, in der ich Voldemort besiegte? Oder heißt „zurück“ für mich zurück zum Friedhof?“
„Eine sehr interessante Frage Harry.“ erwiderte Dumbledore.
„Eine Frage, die ich dir nicht beantworten kann.“
Die Enttäuschung war Harrys nachdenklichen Augen direkt anzusehen.
„Ich bin lediglich ein Produkt deiner Fantasie Harry. Und da du mich als einen offensichtlich sehr gebildeten und wissenden Menschen betrachtest, ist es nur logisch, dass ich dir in diesem Zimmer erscheine, um dir diese Frage zu beantworten. Gleichzeitig ist es aber auch logisch, dass ich, ein Produkt deines Verstandes, keine Frage beantworten kann, für die dein Verstand keine Antwort weiß.“
Harry dachte noch einmal darüber nach, was der Dumbledore vor ihm gesagt hatte. Er nickte schließlich verstehend.
„Wenn sie mir meine Frage nicht beantworten können, dann müssen sie aus einem anderen Grund in diesem Zimmer erschienen sein. Denn ohne Grund würde dieses Gespräch nicht stattfinden und ich wäre schon längst durch die Tür verschwunden. Ich brauche sie also nicht, um meine Fragen zu beantworten, sondern…“
„… damit ich dir die Tatsachen noch einmal zusammenfassen kann, ohne etwas zu vergessen.“ beendete Dumbledore Harrys Satz mit einem freudigen Lächeln.
„Fassen wir also die Tatsachen zusammen, damit du bald wieder bei deinen Freunden bist: Du hast in deinem Leben viele Opfer bringen müssen Harry, womöglich mehr als jeder andere Mensch auf dieser Welt. Und aus diesem Grund erhältst du noch eine weitere Chance zurückzugehen. Eine einmalige Chance, für die dir an diesem besonderen Ort eine große Macht zur Verfügung steht. Du kannst an diesem Ort alles tun was du möchtest. Personen erscheinen lassen oder Strukturen verändern, so wie du es gerade mit den Türen gemacht hast. Du hast also gewaltige Möglichkeiten. Wie du diese nutzt, hängt lediglich an dir und ist nur durch deine eigene Vorstellungskraft begrenzt. Kannst du dir eine Möglichkeit vorstellen, die das Problem für dich löst, dich zwischen zwei Leben entscheiden zu müssen?“
Dumbeldores Augen funkelten amüsiert, als Harry noch einmal in sich kehrte und nachdachte. Welche Möglichkeit hatte er? Wie konnte er diesen besonderen Ort nutzen? Welche Macht hatte er?
Er schaute sich noch einmal in Ginnys Zimmer um, betrachtete die Eigenarten des Raums, bevor sein Blick schließlich an den beiden Türen hängen blieb.
„Zwei Türen…. Könnte es sein…“ Harry beendete den Satz nicht sondern schaute zu Professor Dumbledore, der ihm kurz zunickte.
Nach dieser kurzen Bestätigung wusste Harry was er zu tun hatte. Als ob es das natürlichste auf der Welt wäre, stellte er sich vor die Rechte der zwei Türen und schloss die Augen. Ganz Langsam, als würde es sich mühsam durch Harrys Haut kämpfen, kam ein helles Licht aus seiner linken Körperhälfte hervor. Doch das Licht strahlte nicht wild durch den Raum, wie man es erwarten würde, sondern nahm eine beinahe feste Form an. Zuerst war ein Arm zu erkennen, dann das Bein und schließlich hatte sich ein kompletter menschlicher Körper aus Licht verfestigt und schwebte neben Harry.
Und es war nicht irgendein Körper, dessen Füße nun elegant vor der linken Tür auf dem Boden landeten. Denn da, neben Harry, stand ein zweiter Harry Potter. Beide Harrys schauten sich schmunzelnd an und guckten dann zum Schreibtisch rüber, vor dem Professor Dumbledore eben noch gestanden hatte. Doch der alte Zauberer war verschwunden.
„Weil wir ihn nicht mehr brauchen“ sagten beide Harrys gleichzeitig.
Ihre grünen Augen blitzten fröhlich und die Münder beider waren zum gleichen, schiefen Lächeln verzogen. Sie schauten sich noch einmal kurz an, nickten sich völlig identisch zu und öffneten gleichzeitig die beiden Türen. Sie holten noch einmal tief Luft und verschwanden dann beide in dem hellen Licht, dass am jeweiligen Ende der Tür auf sie gewartet hatte.
*~*~*~* Epilog 1
Eine rotgoldene Glut ergoss sich plötzlich über den verzauberten Himmel an der Decke der großen Halle, als der Rand der gleißenden Sonne am Sims des nächsten Fensters auftauchte. Das Licht traf ihre beiden Gesichter gleichzeitig und das von Voldemort war mit einem Mal ein flammender Fleck. Die hohe Stimme kreischte, als auch Harry in größter Hoffnung zum Himmel flehend schrie und mit dem Zauberstab zielte.
»Avada Kedavra«
»Expelliarmus«
Der Knall war wie ein Kanonenschlag gewesen, als die beiden Zauber sich in der Mitte über den Köpfen von Harry Potter und Lord Voldemort trafen. Alle in der Halle Anwesenden hielten ihren Atem an, als das helle Licht der Zaubersprüche sich bündelte und mit voller Wucht in Lord Voldemorts Körper fuhr. Mit einem dumpfen Aufprall landete der tote Körper des dunklen Zauberers auf dem kalten Steinboden. Die angespannte Stille hielt noch einige Sekunden an, bevor sie durch ohrenbetäubenden Lärm und Jubelschreie abgelöst wurde.
Harry lächelte, als Ginny als erste der Anwesenden mit großen Schritten auf ihn zulief und ihn in eine feste Umarmung zog. Und obwohl die anderen Zauberer ihr folgten, obwohl jeder der Zuschauer einen Teil von Harry haben zu wollen schienen, hielt er ihren Kopf mit beiden Händen und gab ihr einen kurzen, sanften Kuss.
„Du hast es geschafft“ flüsterte sie leise in sein Ohr als ihre Münder sich wieder trennten und Harry musste lachen. Er hatte es tatsächlich geschafft, er war zurückgekehrt. Und er würde alles dafür tun, um diese Chance die er erhalten hatte zu nutzen. Und er fing damit an, dass er Ginny noch einmal an sich zog, gefühlvoll, und ihr, unter den fröhlichen Pfiffen der Umherstehenden, einen langen und leidenschaftlichen Kuss zu geben.
Etwas, was er für den Rest seines Lebens tun wollte.
*~*~*~* Epilog 2
Als Harry zu Bewusstsein kam, bemerkte er als erstes, dass er nicht mehr auf dem Friedhof in Little Hangleton sein konnte, da Madam Pomfrey, die Krankenhexe, bereits aufgeregt mit ihrem Zauberstab über ihm stand. Offenbar hatte Professor Dumbledore ihn sofort mit einem Portschlüssel in den Krankenflügel des Schlosses gebracht.
Er öffnete die Augen und hörte direkt das erleichterte Aufatmen von Madam Pomfrey.
„Mein Gott Potter, dieses Mal hast du mir wirklich Sorgen gemacht“ sagte die alte Hexe mit freundlichem Ton, während sie ihm mit festem Griff mehrere Zaubertränke in den Mund einflößte, ehe Harry sich wehren konnte.
Doch dieses Mal beschwerte sich Harry nicht über den schlechten Geschmack der bitteren Tränke und auch nicht über den durchdringenden Blick, den Professor Dumbledore ihm von der anderen Seite des Raumes aus zuwarf. Nein, Harry war zu fröhlich um sich zu ärgern. Er hatte eine neue Chance bekommen und die würde er so gut es ging nutzen. Sein Leben in vollen Zügen genießen.
Als hätte sie seine Gedanken lesen können, öffnete Ginny genau in diesem Moment die Tür zum Krankenflügel. Ihr besorgter Blick landete auf Harry, der ihr aufmunternd zulächelte. Und im nächsten Moment hielt er sie in seinem Arm und streichelte ihr sanft durch die Haare. Er sog ihren Geruch ein, den blumigen Duft den er so liebte, und streichelte ihr mit einer Hand über die Wange, bevor er ihr einen kurzen Kuss gab, den sie für seinen Geschmack viel zu früh abbrach.
„Es ist also alles gut gegangen?“ fragte sie ihn noch einmal und Harry nickte knapp.
„Und jetzt küss mich. Küss mich noch einmal… mit Gefühl“ sagte er grinsend, bevor er seiner Freundin einen leidenschaftlichen Kuss gab.
Etwas, was er für den Rest seines Lebens tun wollte.
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Ende
Ich möchte mich für all die wundervollen Kommentare meiner treuen Leser bedanken, die mir in den letzten zwei Jahren viel Freude gemacht haben. Es waren letztlich diese Leute, die mich dazu gebracht haben, diese Geschichte tatsächlich zu Ende zu schreiben. Dies habe ich jetzt geschafft, auch wenn es einige Monate länger gedauert hat, als es mir lieb und euch gegenüber fair war.
Mir persönlich fällt jedenfalls ein riesiger Stein vom Herzen :)
Und wer weiß, vielleicht habe ich ja irgendwann doch noch mal Lust, Zeit und genug Kreativität um weitere Geschichten zu schreiben.
Liebe Grüße
hilgener-jung
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