von Lili Braun
Tom ließ mir keine Zeit auch nur eine der Fragen zu stellen, welche seit jener Nacht in einer gut verschlossenen Schublade meines Verstandes pochten. Das anfängliche Schneegestöber hatte sich in einen erbitterten Sturm aus undurchdringlichem Weiß gewandelt. Er ging vor mir, was ich nur noch durch seinen sanften Händedruck merkte, mit welchem er mich behutsam hinter sich herzog.
Es schien mir als wolle er etwas sagen, ich spürte es. Aber er schwieg. Nur das tosende Peitschen des Windes in den hohen Nadelbäumen am Waldrand war zu hören. Als die rötlichen Backsteinmauern der Schule hinter einer Straßenkehre durch den dichten Schneevorhang in der Luft zu erkennen waren, blieb er plötzlich stehen. Sofort wollte Ich Ihn mit Fragen bombardieren, die Gelegenheit wahrnehmen, doch als hätte er dies vorhergesehen, legte Tom mir sanft seinen Zeigefinger auf die Lippen. Er hatte sich umgedreht und erst jetzt, in der zunehmenden Morgendämmerung, sah ich sein Gesicht wirklich klar. Ich erschrak und er schien es zu bemerken. Tiefe schwarze Schatten lagen unter seinen Augenliedern und sein Gesicht hatte unglaublich scharfe Züge. Die Wangenknochen lagen höher als sonst und Toms Haut war so weiß wie der Schneesturm selber. Er sah immer noch wundervoll aus, trotzdem machte mir sein Ausdruck Sorge. Nein. Vielleicht eher Angst. Meine Mimik schien mich verraten zu haben denn er versuchte sofort sanfter zu wirken auch wenn Ich sah, dass Ihn dies große Anstrengung kostete. “Nella”, fing er an “ Ich werde heute nicht mit am Unterricht teilnehmen können. Bitte richte es Mrs Kinsley aus.” “Tom aber ich… warum…” Er war verschwunden. Tom Riddle war vor mir einfach so verschwunden. Dort stand ich. Antornella Graf, ein 17 Jähriges Mädchen vor meiner Schule im tiefsten Schneesturm und der Junge den ich liebte war plötzlich weg. Vom Schnee verschluckt. Verschwunden. Ich lief ziellos durch den Schnee und rief nach ihm. Ich fand ihn nicht. Wie konnte das sein. Tom war nicht weg. Wie hatte er das gemacht? Einzig und allein das Schellen der Schulglocke riss mich aus meiner Hysterie heraus und mein diszipliniertes Selbst übernahm die Führung über meinen Körper. Er hatte sich bloß einen Scherz erlaubt und würde gleich wie immer neben mir in der kleinen Holzbank in Mrs Kinleys Unterricht sitzen. Mit dieser Hoffnung rannte ich auf die roten Backsteinmauern des Schulgebäudes zu. Obwohl ich die Wahrheit mit meinem Herzen schon lange erkannt hatte.
Es wurde ein trüber Morgen. Der Schneesturm peitschte weiter unermüdlich über die schottische Westküste und ich musste mich zusammen nehmen um nicht im Unterricht einzuschlafen. Bei der Analyse von Shakespeares Romeo und Julia wurde mir klar, dass ich in letzter Zeit nicht nur zu wenig geschlafen hatte, sondern auch meine Lernfortschritte erhebliche Einbußen davon getragen hatten. Ich konnte nur an diesen Jungen denken. Egal was ich tat.
Gerade las Mike Turner aus der ersten Reihe, ein sehr schüchterner kleiner Junge, die ersten Sätze seines eher unvollständigen Aufsatzes vor als ein ohrenbetäubender Donner die roten Backsteinmauern des Gebäudes erzittern ließ. Ich fiel vor Schreck von meinem Stuhl und schlug hart mit den Knien auf dem spröden Holzparkett des Bodens auf.
Rissiger Putz kriselte von der Decke und ich hörte vereinzelte Schreie. Die Tür des Klassenraums wurde aufgerissen und James Gallaham der stellvertretende Schulleiter steckte seinen Kopf durch den Rahmen. Sein Gesicht war angsterfüllt. Ich war zu benommen um direkt aufzustehen und verstand nur Bruchstücke von dem was der Mann schrie, weil rings herum ein markerschütternder Lärm aus Schreien und fernem Donner entstanden war. “ Die Deutschen … Fliegeralarm… Westküste… sofort alle in den Kell…” kreischte Gallaham. Es waren die letzten Worte, die ich bewusst mitbekam. Es ging wahnsinnig schnell.
Ein tosender Donner war über dem Gebäude erklungen und es schien als erfüllte er jede noch so kleine Fuge des Raumes. Panisch riss ich meine Hände an die Ohren und versuchte mich hoch zu rappeln. Doch es war vergeblich. Augenblicklich wurde mir der morsche Dielenboden des alten Backsteingemäuers wieder unter den Füßen weggerissen, wie ein zerschlissener Teppich. Ich schlug hart mit dem Hinterkopf auf und es wurde schwarz. Schwarz wie die Nacht. Der Lärm verschwand und eine behagliche Wärme umhüllte meinen ganzen Körper.
Ich schlug die Augen auf. Grelles Abendlicht blendete mich. Der Himmel hatte eine rosige Färbung angenommen und zuerst wusste Ich nicht wo ich war. Nach meinen Nackenschmerzen zu urteilen lag Ich auf etwas sehr hartem. Und Ich blickte direkt auf einen großen Hof dessen Schneedecke im Abendrot funkelnd schimmerte. Es war ein merkwürdiger und zu gleich schöner Anblick. Doch es kam mir alles so vertraut vor.
Zu schnell richtete Ich mich auf und ein brennender Schmerz jagte mir wie tausende Hornissen durch den Kopf. Panik erfüllte mich. Überall an meinen Händen klebte geronnenes Blut, welches scheinbar von dem harten Aufschlag auf den Dielen stammte. Schlagartig wurde mir bewusst wo ich war und was entsetzliches passiert sein musste. Der schimmernde Hof auf den ich blickte war nichts anderes als der Vorhof der Hale-Square Highschool. Und ich sah ihn weil… Mein Blick streifte über das klaffende Loch in der Backsteinmauer der Klassenzimmerwand.
Es musste einen Luftangriff gegeben haben, welcher die Schule nur knapp verfehlt hatte. Ich war wie gelähmt und sah mich angsterfüllt um. Doch außer Mauerresten und Glassplittern war nichts zu erkennen. Die anderen mussten es geschafft haben in den Schutzraum zu gelangen bevor die Bombe die Highschool getroffen hatte. Unwirsch tapste ich durch den Raum. Mein Gleichgewichtsgefühl war noch nie das Beste gewesen allerdings war es jetzt scheinbar ganz verschwunden. Der stechende Schmerz am Hinterkopf trieb mir ungewollt die Tränen in die Augen. Ich sah an mir hinunter. Meine Hose war nur noch ein Bündel Fetzten, dass sich ab der Taille nach unten erstreckte. Uhrplötzlich wurde mir klar was eigentlich passiert war und mein Herz begann zu rasen. Ich ignorierte den Schmerz und stolperte blindlings aus dem Gebäude in den ruhigen Abend. Eisige Kälte wurzelte sich um meine Füße als Ich den Gehweg betrat. Ich hatte keine Schuhe mehr an. Es war mir egal. Ich musste wissen ob es meinen Grosseltern gut ging. Ob es Ihm gut ging. Die Vorstellung das Ihm etwas zugestoßen war trieb mir wiederum die Tränen in die Augen. Die salzigen Tropfen perlten meine Wange hinab während ich rannte. Als Ich die Straßenkehre erreichte hörte ich plötzlich Schritte. Es mussten zwei Personen sein. Ich rannte schneller. Ich musste fragen was geschehen war. Ob es allen anderen gut ging. Nur noch ein paar Schritte. Ich bog um die Kurve. Ich sah Sie. Zwei Männer. “Hier … Hier drüben !” entfuhr es mir hysterisch. Sie blieben stehen. Ich erstarrte. Der eine von Ihnen schrie etwas, richtete etwas auf mich. Ich verstand seine Worte nicht. Es waren Deutsche. Deutsche Soldaten. Der Mann hatte ein Gewehr auf mich gerichtet. Ich machte auf dem Absatz kehrt. Zu Schnell. Der vereiste Boden entglitt mir unter meinen nackten Füßen.
Hart schlug ich auf dem Kopfsteinpflaster auf und sofort färbten sich meine Hände rot. Todesangst erfüllte mich während mein geschundener Körper sich dazu zwang wieder auf die Beine zu kommen. Hinter mir schrie wieder der Mann Wörter in fremdartiger Sprache. Ich lief. So schnell ich konnte. Es ertönte ein Donner. Ich wusste wo er herkam, noch bevor das Projektil des Gewehrs meine linke Schulter durchschlug.
Als Ich ihn das erste Mal sah war mir klar das Ich die Abwesenheit dieses Jungen niemals mehr ertragen könnte. Obwohl ich Ihn gerade zum ersten Mal gesehen hatte. Als er das erste Mal das Klassenzimmer betrat schien Die Temperatur des Raumes zu sinken. Dort stand er vor allen anderen neben Ms Hugh in seinem zerschlissenen schwarzen Anzug während Sie ihn vorstellte. Amy Daniels und Zale Lissen tuschelten aufgeregt und mir wurde schmerzhaft bewusst, dass Sie nicht nur um einiges hübscher waren als ich sondern auch um einiges beliebter in der Schule. Die einzigen freien Plätze in der Klasse befanden sich neben Amy und mir. Obwohl mein Herz bei dem Gedanken, dass er sich neben Amy setzte, zu zerspringen drohte hoffte mein vernünftiges Ich dass genau dies geschah. So wie ich mich und meinen tollpatschigen Körper kannte hätte Ich eine eventuelle Sympathie, welche er zu mir entwickeln könnte, innerhalb von wenigen Sekunden zerstört. Mein Herz blieb stehen als er sich auf Ms Hughs Aufforderung sich einen freien Platz zu suchen in Bewegung setzte. Tausende Gedanken jagten sich gegenseitig und mein Herz walzte wie eine Dampflok. Natürlich würde er sich neben Amy setzten. Mein Gott Nella das ist doch klar.
Ich war so vertieft in den Kampf mit meiner Vernunft, dass Ich es fast nicht gemerkt hätte als seine anmutige Gestalt neben mir auftauchte. “Hallo. Mein Name ist Tom Riddle. Ist der Platz neben dir schon besetzt?” ertönte seine leicht heisere Stimme. Ich erschrak etwas zu heftig und blickte direkt in diese tief schwarzen Augen.
“N-N-ein da sitzt keiner..” brabbelte Ich mehr zu mir selbst als zu dem hübschen Jungen während mir das Blut in die Wangen schoss. “ Hey Tom. Hier ist auch noch ein Platz frei…” rief Amy Daniels Ihm von hinten zu unter dem Gekicher Ihrer Freundin Lizz. Tom ignorierte es scheinbar denn er blickte mich immer noch mit seinen magischen Augen an. “Hast du etwas dagegen wenn Ich mich zu dir setze?”, fragte er mit einem leichten Grinsen, dass seine makellosen schneeweißen Zähne entblößte. “N-nein, schon OK, der Platz ist noch frei…” stotterte Ich mehr entsetzt als freudig denn mir wurde in diesem Moment klar, dass mein innerlicher Tollpatsch in nächster Zeit auf eine sehr harte Probe gestellt werden würde.
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