von whisperend
prolog.
Der Wind hatte sich gedreht. Es schien mir klischeehaft und idiotisch, aber es war die Wahrheit. Von Norden blies eine Brise durch uns hindurch, wehte fast meinen Hut weg und brachte uns zum staucheln. Sie ließ meine Hände einfrieren, obwohl du sie in deinen hieltest, und brachte das Windspiel, das an dem Baum in der Nähe, wo wir standen, hing, zum Klingen. Die Töne drangen durch meine rauschenden Ohren und läuteten diese neue Phase in unserem Leben ein.
Dort standen wir, inmitten von Leuten, die ich nicht kannte; die dunklen Wächter mit ihren schaurigen Manteln und ihren gierigen Mündern wurden noch etwas abseits gehalten ? deine Strafe hatte noch nicht begonnen.
Auch jetzt wusste ich noch nicht, wie ich dir begegnen sollte, wie ich dir in die Augen sehen konnte, ob ich es konnte. Meine Hände zitterten heftigst, ebenso wie meine Mundwinkel. Ich hielt die Lider halb geschlossen, um die Realität zu einer verschwommeneren, sanfteren Unwahrheit verschwimmen zu lassen; einem Zustand des Leugnens, den ich so spät wie möglich verlassen würde.
Noch hielt er mich vollkommen gefangen; noch hielten sich die quälenden Fragen im Hintergrund; noch konnte ich mich dazu zwingen, nicht über das Warum? nachzudenken. Noch.
Mein Leben bestand im Moment aus zwei Dingen; die eine war das Aufschieben der Fragen, die Konfrontation mit der Vergangenheit, die mir noch verborgen war. Ich hätte die Details haben können, jede einzige blutige Sekunde, doch wollte ich wirklich wissen, was geschah, wenn ich die Augen schloss? Wollte ich wissen, was hinter meinem Rücken geschah? Wollte ich so genau wissen, wozu er fähig war? Was er tun konnte, wissend, was es für uns bedeutete?
Nein.
Und so blieb dieser Raum leer, ein schwarzes Loch, das sich nie mit der Wahrheit füllen würde, nur mit den Möbelstücken, die ich unbewusst aussuchte und so anordnete, wie es mir gefiel. Ich wusste, dass ich das tun würde. Die Ausreden würden kommen, die Entschuldigungen.
Aber ich war bereit. Ich war bereit, dich zu meinem Feind zu machen, zu einem Hassobjekt, das ruiniert hatte, was, es ist nicht anders auszudrücken, unser Leben gewesen war. Unser Haus, unsere Kinder. Unsere Jahre.
Nun begann unser Herbst, und wir lebten ihn jeder für uns alleine, tausend Meilen von einander entfernt. Wir lebten ihn zusammen, weil er nur Teil unseres großen gemeinsamen Puzzles war, und wir lebten ihn getrennt, weil er gespalten und an den entgegengesetzten Ecken des Puzzles anzuordnen war.
Deine Hand zitterte auch. Ich sah auf, mit dem scheuen Blick einer zurückgestoßenen Frau, und sah, dass dein ganzes Gesicht verschwommen war vom Zittern. Deine Augen waren starr auf mein Haar gerichtet, und für Sekunden wünschte ich, ich hätte mir mehr Mühe gegeben am Morgen, hätte sie doch nicht nur achtlos und ungebürstet aufgesteckt in der Eile. Ich hätte dir etwas als Erinnerung gegeben, etwas, nachdem ich schon nicht mehr hinter dir stand. Das dachte ich, bis der Moment vorbei war, und der Schmerz erneut mein Herz erfasste.
Du hast uns in diese Scheiße herein geritten, dachte ich, nun musst du uns auch herausziehen.
Du musstest es, weil ich es nicht konnte.
Ich war vor zwei Jahren nach Hogwarts gefahren; acht lange Stunden mit dem Zug, und hatte den Schulleiter angefleht, unserem mittleren Sohn noch eine Chance zu geben. Ich hatte ohne Beschwerden die vielen, langen Gespräche mit den Lehrern geführt. Ich hatte jedes Jahr die Weihnachtspost an unsere ganze Familie erledigt, ich hatte deinem Vorgesetzten die Hölle heiß gemacht, als er dich wegen Überbesetzung feuern wollte.
Aber hier konnte ich nichts tun; und andersherum betrachtet, wollte ich es überhaupt?
Diese Bürde musstest du tragen, du ganz alleine.
Zumindest war es das, was ich dachte.
Sie wollten aufbrechen; ich sah es dort, tief in ihren Kapuzen, wo ihre Augen sein sollten. Sie konnten sich kaum noch beherrschen. Sie wollten gehen, und sie wollten dich mitnehmen. Sie wollten dich von diesem Ort wegbringen, dorthin, wo der Horizont und das Glück ihr Ende finden.
Jemand räusperte sich dezent. Chrm, chrm.
Du fühltest, wie ich mich entfernte, noch bevor ich mich bewegte, und du versuchtest, mich aufzuhalten. Deine Augen waren nicht mehr länger auf meine Haare fixiert; sie starrten voller Angst in meine, wie Messer. Ich schloss die Augen wieder halb.
"Entschuldigen Sie bitte", sagte die anonyme Frau links hinter mir. ?Sie müssen wirklich aufbrechen.?
Ich gab auf. Meine Hände in deinen. Ich ließ los.
Du nicht.
"Geh, bitte.", sagtest du.
Du sagst, ich soll gehen
aber Hände flehen mich an zu bleiben
deine Lippen sagen, dass du liebst
deine Augen sagen, dass du hasst
Du zittertest schlimmer. "Bitte." Mein Herz erkaltete mit jedem Wort mehr. Ich beugte mich vor, um dich zu küssen. Ich dachte, das war das Richtige zu tun.
Deine Lippen zitterten auch; ich vermute, meine ebenfalls. Dein Gesicht war nass von Tränen. Es war kein richtiger Kuss, sie berührten sich nur leicht für den Bruchteil einer Sekunde und tauschten Atem aus.
Das war dein Atem. Der Atem, den du geatmet hattest, als du geboren wurdest, als du nach Hogwarts kamst, als wir uns zum ersten Mal begegneten. Es war derselbe Atem, der mich einst zum ersten Mal geküsst hatte. Es war der Atem, der in kleinen, kalten Wolken Zeuge gewesen war, als du der Mensch wurdest, den ich nicht mehr kannte.
Wir standen da, so nah beieinander, dass ich dich am ganzen Körper zittern fühlen konnte. Unsere Herzschläge hatten den gleichen Rhythmus angenommen, als wären wir zwei Teile eines Organismus. Aber du warst mir fremd. Du warst nicht mehr der Mann, den ich geheiratet hatte, du warst nicht einmal ein Mann, den ich kannte. Du warst jemand, bei dem ich mir unsicher war, ob ich ihn kennen wollte.
An irgendeinem Punkt zogen sie uns auseinander. Jemand legte einen Arm um mich, als wolle er mich stützen. Es war lächerlich. Sie, die uns all das antaten, wollten mich nun stützen? Wollten mir Mut machen? Ich erlaubte meinen Knien weder, zu zittern noch nachzugeben. Ich stand aufrecht und mit erhobenem Kopf da.
Du warst der, der zu Grabe kroch.
Ich beobachtete mit trockenen Augen und brüllendem Herzen, wie sie dich fortzogen, wie die dunklen Gestalten dich in ihre Mitte nahmen, wie du dich umdrehtest und nach mir schriest, wie ich zurückstarrte mit diesem ausdruckslosen Blick, der zu mir gehörte seit ich den ersten Teil der Wahrheit wusste.
Als du außerhalb meines Sichtfeldes warst, irgendwo in der Ferne, wo das Glück begann, zu schwächeln, drehte ich mich um, schüttelte den Arm des Mannes ab, der so dumm gewesen war zu glauben, ich brauchte oder wolle seinen Halt, und ging nach Hause.
Irgendwo aus der Ferne, von dort, wo du nun warst, kam der Wind und blies direkt durch meine Knochen. An diesem Tag wurde ich hundert Jahre alt.
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