Briefe aus Askaban - kapitel vi
von whisperend
vi. kapitel
Du bist ein Mörder.
Ich beginne, es zu begreifen. Ich sehe diesem Monster in die Augen und warte, dass es sich zeigt. Ich will diesen bösen Geist sehen, diese Kreatur, dieses Grauen das du nun siehst.
Mörder. Mörder. Mörder.
Du hast ein Messer genommen, oder einen Zauberstab, oder ein Gewehr, und mit einer Bewegung hast du ein Licht gelöscht. Mit einem Wimpernschlag. Und nicht nur ein Licht.
Und die Kerzen haben geflackert, und mit etwas Wasser, oder etwas Wind, war es vorbei, und du standest über ihren leblosen Körpern und rochst ihren Totengeruch, und fühltest, wie das Jenseits plötzlich das Hier wurde, und du konntest diesen Ort verlassen, nach Hause kommen und deine Frau küssen und deine Kinder über den Kopf streichen.
Mörder.
Und all das ist immer noch ein halbherziger, unehrlicher, gestellter Versuch.
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Das Problem mit dem In Die Augen Sehen der Tatsachen war nicht, dass es den Horizont von dem, wovon ich glaubte, dass du fähig seist, so erweitern würde wie die Bestätigung der Theorie eines runden Erdballs, sondern das Rechnen.
Sie würden mir Daten nennen, Orte, Uhrzeiten. Sie würden sagen, wie, wann, wo. Vielleicht würden sie mir Aufnahmen von Leichen zeigen; es war egal.
Ich würde nicht mehr zuhören und beginnen zu rechnen.
Was hatte ich am Dienstag, den 16. April 1985 gemacht? Wann warst du nach Hause gekommen? Waren gerade Ferien, waren die Kinder zu Hause?
Hattest du anders ausgesehen? War da ein Funken Fremde in deinem Gesicht, war da etwas Erstartes, Totes gewesen?
Das war der Grund.
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Es begann, in Strömen zu regnen, sobald ich Platz genommen hatte. Ich wusste, dass der Regen die Qualität des Protokolls verminderte, dass es knistern würde, und ich kannte den Zauber, mit dem man das vermindern konnte. Mrs Bones kannte ihn entweder nicht, hatte ihn längst angewandt, oder es war ihr einfach egal.
„Sie waren bei der Anhörung und dem Gerichtstermin Ihres Mannes, Mrs Folchert?“
„Die ersten fünfzehn Minuten.“
Sie machte genau das gleiche Gesicht wie Alfred. „Bis dahin wurde noch nicht einmal die Anklage verlesen!“
„Ich weiß.“
„Nun, dann denke ich, muss ich Ihnen... sagen, wie die Anklage lautet.“ Sie holte Luft. Im Raum war es stickig. „Ihr Mann ist vom Zaubergamot wegen fünffachem Mord zu einer lebenslangen Strafe in Askaban verurteilt worden.“
Fünf. Das war ich, Jonathan, Will, June, und er selbst. Er hatte uns getötet.
„Die Morde wurden begangen am 17. Dezember 1985, 5. November 1987, 23. Januar 1988, 6. Juni 1988 und 31. Oktober 1990.“
Was tat ich, als die Zahlen begannen, in meinem Kopf umherzuschwirren?
Genau. Ich lachte. Das Lachen, das jemand lacht, bevor er gegen einen Baum rennt, bevor er stolpert, bevor er stirbt.
Sie schrieb mir ihre Namen auf. Ich kannte keine einzige der Personen.
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Mary,
ich weiß nun, hier werde ich sterben. Es ist ein Wunder, das der Körper nicht so stirbt wie der Geist. Aber das kommt noch.
Das einzige, was mich am Leben hält, ist die Hoffnung auf eine Nachricht von dir. Vergib mir, und ich kann sterben. Es scheint das einzig richtige zu sein.
Ich hoffe, es geht euch gut. Vergesst mich bitte.
Ich begann damit. Ich begann, die Erinnerung an dich in einen Schuhkarton zu stecken wie deine Briefe, und sie in weit fort von mir, im Keller zwischen Spinnen und der Dunkelheit, zu verstecken, damit sie niemals den Weg heraus zu mir finden würden.
Es wurde einfacher, zu leben. Ich ging einkaufen und putzte das Haus. Ich schrieb meinen Kindern und saß mit Alfred in der Hollywoodschaukel. Es schien, als würde ich immer nur das tun. Die Blättern der Bäume wachsen, reifen und fallen zu sehen, und Tee zu trinken.
Und Jahre vergingen.
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Eines Tages wachte ich auf – nein, ich schreckte auf – aus einem Traum. Das ist wohl nichts besonderes, aber ich träume nicht. Es war Jahre her seit ich zuletzt etwas geträumt hatte. Und es war nicht einmal ein Traum im klassischen Sinne, wo alles seltsam und verzerrt ist, es war nur eine Erinnerung, so detailgetreu und genau wieder gegeben, wie sie einst geschehen war.
Ich war fünfzehn, und ich saß unter einem Baum auf den Ländereien und las. Es war ein Tag wie jeder andere. Die Kerker haben keine Fenster, muss man wissen. Ich fühlte mich immer, als würde ich dort unten ersticken.
Also saß ich da und las einen Muggelroman, den ich von einem muggelstämmigen Mädchen in der Bibliothek gekauft hatte. Meine Finger strichen abwesend über den vergilbten Umschlag, und ich lächelte, weil ich wusste, dass meine Eltern, wüssten sie, was ich las, vollkommen den Verstand verlieren würden. Als ich in der dritten Klasse war, brachte ich zu einem Treffen in Hogsmeade eine entfernte Bekannte von mir, Shelley MacCombe aus Gryffindor mit, nur um sie zu schocken. Ihnen fielen fast die Augen aus den Köpfen. Wie auch immer, da saß ich nun im Schatten der alten Kastanie, neben mir mein Tagebuch und meine Schulbücher aufgestapelt, und las Jane Eyre. Es war mir fremd. Jane, muss man wissen, ist überzeigte Christin. Das bedeutet, sie ist religiös. Religion ist etwas, das es in der Zaubererwelt nicht gibt, und etwas, was ich mir nicht vorstellen konnte. Religion ist wie daran zu glauben, dass es Schrumpfköpfige Schnarchkackler gibt. Trotzdem übte Jane Eyre eine seltsame Faszination auf mich aus, und mein Blick flog über die Seiten, ohne aufzuschauen. So merkte ich auch nicht, dass ich einen Beobachter hatte.
Normalerweise, wenn ich Jungs zum ersten Mal sah, bemerkte ich, dass sie gut aussahen oder eine interessante Aura, wenn man es so will. Als ich Charles das erste Mal sah, dachte ich nur daran, dass er mit den Sommersprossen und dem lachenden Gesicht nett aussah.
Und das warst du. Du fragtest nach dem Buch, und dein Blick wanderte zur Slytherin-Robe, die wohl im Gegensatz dazu stand, dass ich Muggelliteratur las. Ich erklärte, wie ich in den Besitz des Buches gekommen war und fragte ihn, ob er es auch gelesen hatte. Du lachtest und sagtest, es sei mehr was für Mädchen. Das irritierte mich, und ich fragte, was Jungs lasen.
Es klingelte, und ich während ich noch sprach, begann ich, meine Sachen einzusammeln. Wie komisch, dass ich das noch wusste, selbst im Traum. Als nächstes hatte ich Kräuterkunde.
„Ich bring dir eins mit.“, sagtest du entschieden und lächeltest. Und dein Lächeln verwandelte sich in die Grimasse, die du trugst, während das Blut an den Menschen herunterlief.
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Du brachtest mir eine Buchserie, Herr der Ringe. Ich schätze, ich habe die Bücher nie zu Ende gelesen.
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June machte ihren Abschluss, und auf dem Familienfoto sind vier lächelnde Menschen zu sehen. Jonathan, Will, ich, und sie selbst. Nach langem Überlegen schickte ich es nach Askaban.
Ich hätte keinen von euch wieder erkannt. Hat Askaban mir nun auch meine Erinnerung genommen?, schrieb Charles.
Einige Tage nach der Abschlussfeier kamen June, Jonathan und Will – zum ersten Mal seit seinem Auszug – zu Besuch und brachten wieder Charlie Weasley mit. Auch wenn ich mich bemühte, ihn keinem der drei direkt zuzuordnen, war es dennoch mehr als offensichtlich, dass er und June hoffnungslos ineinander verliebt waren.
Wieder saßen wir am Küchentisch, nur aßen wir diesmal den Kuchen, den Alfred einige Tage zuvor zur Feier von Junes Abschluss mitgebracht hatte, und Will war ebenfalls da. Bei seinem Auszug hatte er das dunkle Haar zurückgegelt gehabt und eine schwarze Lederjacke getragen. Er trug immer noch die gleiche Jacke, aber seine Haare waren etwas länger. Er sagte nicht viel.
„Schreibt Dad immer noch?“, fragte Jonathan.
„Seltener.“, sagte ich und rührte meinen Tee um. Himmel, bestand mein Leben nur noch aus Tee?
Will rutschte seinen Stuhl etwas näher an den Tisch und legte eine Hand auf meinen Arm. Es war, als würde er sagen, Es ist vorbei. Die Jahre, in denen ich euch gehasst habe, sind vorbei.
Ich hatte ein Kind zurück.
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Wie viel Schuld lag bei mir? Wieviel Schuld lag bei mir, weil ich ihn geliebt hatte, weil ich nichts bemerkt hatte, bis eines Tages eine Spezialtruppe der Magischen Strafverfolgung vor unserer Tür stand, weil ich ihm das Gefühl gegeben hatte, nichts könnte jemals die Tatsache verändern, dass ich ihn liebte?
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Viele professionelle Lektoren in Deutschland haben die phantastische, witzige und originelle Schreibweise von J. K. Rowling entweder nicht wahrgenommen oder haben dafür keine Sensibilität.
Rufus Beck