von Lilienblüte
Die große Halle von Hogwarts ist voller Trümmer und die Wände blutbefleckt. Die Fensterscheiben sind zerbrochen, Teile der Wände sind herausgesprengt. Die Wunden der Verletzten sind noch nicht geheilt, der Schmerz der Trauernden nicht gestillt.
Und obwohl ich die große Halle nie verwüsteter gesehen habe, obwohl ich noch nie mehr weinende Menschen an den Haustischen habe sitzen sehen als in diesem Augenblick, sind Trauer und der Schmerz doch nicht die vorherrschenden Gefühle.
Erleichterung und Freude darüber, dass es endlich vorbei ist, überwiegen. Der Stolz, Lord Voldemort und seine Anhänger besiegt zu haben ist jedem Gesicht in der großen Halle anzusehen.
Natürlich trauern alle um die Toten, die nicht so viel Glück gehabt haben. Aber vor allem feiern alle den Sieg dessen, wofür die geliebten Toten ihr Leben gegeben haben.
Heute Nacht sind über fünfzig Menschen auf unserer Seite gestorben, allesamt waren sie noch zu jung, um zu gehen. Aber sie sind nicht umsonst gestorben. Heute Nacht haben sie den Krieg beenden können. Drei lange Jahre hat ein grausamer Krieg in der Welt gewütet. Unschuldige Menschen sind dem Krieg zum Opfer gefallen, Zauberer und Hexen haben ihr Leben gegeben, weil sie ihren Überzeugungen nicht abschwören wollten und Familien wurden auseinander gerissen. Dieser fruchtbare Krieg ist nun vorbei und wir schauen friedlichen, wenn auch zu Beginn chaotischen Zeiten entgegen. Voldemort, der dunkelste Magier aller Zeiten, ist vernichtet. Dies ist der Grund, warum bei den meisten Menschen in diesem Raum die Freude stärker wog als die Trauer.
Bei mir selbst konnte ich nicht von Freude sprechen. Selbstverständlich war ich froh, dass dieser Krieg nun ein Ende hatte und sowohl mein Enkel als auch ich selbst den Kampf überlebt hatten.
Doch mir war die schwierige Zeit, die dem ersten Krieg gefolgt war, noch in zu guter Erinnerung. Es würden nun keinesfalls einfache Zeiten auf uns zukommen würden. Es konnte nicht morgen schon eitler Sonnenschein in der Zaubererwelt herrschen, wenn heute noch der Krieg gewütet hatte. Voldemort hatte unsere Welt in ein dunkles Chaos gestürzt und es würde Wochen und Monate, vielleicht Jahre dauern, bis sich nach dem zweiten Krieg wieder alles normalisiert hatte. Das Schreckensregime, welches Voldemort im vergangenen Jahr errichtet hatte, war nicht ohne Spuren an uns vorüber gegangen. So viele undschuldige, junge Menschen hatten den Tod gefunden, nur weil sie sich ihm mutig entgegen gestellt hatten. Wunden konnte man heilen und Gebäude wieder aufbauen. Aber die Toten würden nicht zu uns zurück kehren, den trauernden Familien konnte man nicht den Schmerz nehmen.
Die vielen Opfer des zweiten Krieges würden nicht in ein paar Wochen in Vergessenheit geraten, sondern es würde seine Zeit brauchen, bis die Familien der Opfer wieder Hoffnung schöpfen konnten. Ich wusste das – schließlich hatte meine Familie zu Zeiten des ersten Krieges unter der Hand Lord Voldemorts zwei schreckliche Verluste erlitten. Dies war ein Schmerz, dem einen die Jahre und die friedlichste Zeit nicht nehmen konnten. Irgendwann lernte man mit dem Schmerz umzugehen und weiterzuleben, aber ganz verschwinden würde er niemals.
Das Misstrauen in unserer Welt in den nächsten Wochen und Monaten mochte ich mir gar nicht vorstellen. Viel zu viele Menschen waren Voldemort gefolgt – und genau das würde unsere Welt noch so lange in ein Chaos stürzen. Todesser waren auf der Flucht, all die Menschen, die das vergangene Jahr unter Lord Voldemort gearbeitet hatten, würden behaupten, sie hätten unter einem Fluch gestanden. Wie lange würden wir brauchen, anderen Menschen wieder zu vertrauen. Denn auch wenn nicht alle Voldemort unterstützt hatten, so hatten ihn doch viele als Herrscher über die Zauberwelt akzeptiert. Nicht jedem, der sich ihm widerstandslos ergeben hatte, wird der Prozess gemacht werden. Doch wie sollen wir, diejenigen, welche die letzten Jahre im Kampf gegen den dunklen Herrscher und in dem Wissen verbracht haben, dass wir den morgigen Tat vielleicht nicht mehr erleben, wie sollen wir unseren Mitmenschen, die in dieser Zeit weggeschaut haben, das verzeihen?
Wenn ich in der Schlange eines unserer Zaubererläden stand oder im Fahrenden Ritter fuhr, dann hatte ich mich in der Zeit kurz nach dem ersten Krieg immer gefragt, welch schreckliche Dinge mein Vordermann im vergangenen Krieg zugelassen hatte. Sobald ich einem Menschen auf der Straße begegnete, hatte ich überlegt, ob nicht vielleicht gerade dieser Zauberer oder diese Hexe mit den Todessern, die meinen Frank auf dem Gewissen hatten, schon mal gemeinsam an einem Tisch gesessen hatten.
Natürlich gab Möglichkeiten, die Todesser zu finden – schließlich hatte Voldemort sie alle mit dem dunklen Mal versehen. Aber herauszufinden, ob sie ihm in vollem Glauben an seine Ideale gedient hatten oder ob sie einem Imperius-Fluch unterlegen waren, war ebenso unmöglich wie die ganzen Menschen zu bestrafen, die Voldemorts Idealen gefolgt waren oder sich zumindest nicht gewehrt hatten.
Nein, ich wusste, dass in der Zaubererwelt nach der dunklen Zeit des Krieges nicht sofort sonnige Tage bevor standen, sondern wir die nächsten Monate mit Beerdigungen und Trauer, Wideraufbau und Schmerz, Prozessen und Verdächtigungen beschäftigt sein würden.
Deswegen sitze ich in diesem Moment auch etwas abseits der Menschenmassen. Ein freundlicher junger Ravenclaw hat mir einen Sessel aus dem Lehrerzimmer geholt, weil die Bänke an den Haustischen nichts für meinen alten, kaputten Rücken sind. Ich brauche jetzt meine Ruhe und kann mich nicht mit den anderen freuen. Nach den Jahren der Sorge brauche ich etwas Zeit für mich alleine. Dieser Krieg hat viel Kraft gekostet.
Von meinem Platz aus kann ich Neville beobachten.Mein geliebter Enkel ist inmitten der Menschenmenge zu finden. Er ist umringt von Menschen, die ihn für seine Taten des heutigen Abends bewundern.
Ich weiß, dass es meinem kleinen Jungen sicher auch nach Zeit für sich verlangt, aber noch hält er sich tapfer. Er ist einer der Helden des Abends und jeder möchte ihm die Hand schütteln. Alle wollen wissen, was ihm den Mut gegeben hat, sich Voldemort entgegen zu werfen, wie er auf die Idee gekommen ist, die Schlange zu töten und ob es sehr weh getan hatte, als Voldemort ihn gefoltert hat. Verschiedene Zeitungen und das Radio sind da und er muss ein Interview nach dem anderen geben. Ein Reporter schießt ständig Bilder von ihm, ein anderer legt den Stift gar nicht mehr beiseite, während er Neville unaufhörlich Fragen stellt. Geduldig beantwortet er sie alle. Ich kann von hier aus kein Wort vernehmen und doch weiß ich, was er sagt. Dass ihm seine Eltern die Kraft gegeben haben. Dass er an seine Eltern gedacht hat, während er gefoltert wurde und dass er, wie einst Alice und Frank Longbottom, sich selbst auch dem Kampf gegen Voldemort geopfert hätte.
Als Großmutter ist man da von Stolz ganz erfüllt. Neville, der Junge, den ich seit seinem ersten Lebensjahr wie einen Sohn bei mir aufgezogen habe, hat eine solche große Leistung zu dem Sieg gegen Voldemort beigetragen. Der kleinen, tollpatschige Jungen, der am Anfang nur das Herz nicht aber die Begabung seiner Eltern geerbt zu haben schien und der von einem Fettnäpfchen ins nächste stolperte, hat sich heute Abend gegen Voldemort gestellt und als Erster bewiesen, dass er bedingungslos auf Harrys Seite kämpft, auch wenn er dafür sterben müsste. Er hat unseren Truppen die Kampfmoral zurückgegeben. Und deswegen wird er zu Recht als einer der großen Helden des Abends gefeiert.
Der kleine, unsichere Junge von einst ist verschwunden. An seine Stelle ist ein starker und stolzer Junge von siebzehn Jahren getreten, der weiß, was er will und bereit ist für die eigenen Überzeugungen bis zum letzten Atemzug zu kämpfen.
Im Gegensatz zu so vielen anderen Menschen, bei denen schlechte Zeiten auch nur das Schlechte zeigte, hatte Voldemorts Rückkehr und der darauf folgende Krieg in meinem Enkel nur das Beste geweckt.
In den letzten Jahren hat er bewiesen, was in ihm steckt. Härter als jeder andere hat Neville an sich gearbeitet. Als verlässlicher Freund stand er Harry Potter in so manchem Kampf gegen das Böse zur Seite. Seine Unsicherheit war dem Mut gewichen, denn er aus seinen Überzeugungen, das Richtige zu tun, schöpfte, seine Ungeschicktheit einer Begierde, so viel Wissen wie möglich in sich aufzusaugen, um bessere Chancen im Kampf zu haben.
Nicht, dass mir jemand anzweifelt, dass ich meinen Neville nicht schon geliebt habe, als er noch ängstlich und unsicher gewesen ist. Ich habe diesen Jungen von dem Moment an wie eine Mutter bei mir aufgezogen, in dem seine Eltern der schrecklichen Todesserin zum Opfer fielen. Ich liebe ihn als wäre er mein eigener Sohn, auch wenn er noch so tollpatschig und ungeschickt ist. Nur manchmal, wenn er wieder ein unterdurchschnittliches Zeugnis mit nach Hause brachte, habe ich mich gefragt, wo das Talent seiner Eltern geblieben ist, die beide zu den Besten ihres Hauses gehört hatten. Und deswegen war ich sehr, sehr stolz, als er endlich anfing, sein Talent zu zeigen.
Der Wendepunkt war bei ihm mit fünfzehn Jahren gekommen. Neville besuchte das fünfte Schuljahr.
Weder er noch ich werden diesen Tag als einen der dunkelsten Tage unseres Lebens wohl jemals vergessen – und wenn wir noch so alt werden. Es war am ersten Februar des Jahres 1995. Dass irgendetwas nicht stimmte, hatte ich schon am Morgen gespürt. Ein dunkler Nebel lag über unserem Landsitz und erzeugte eine bedrohliche Stimmung. Beim Frühstück sagte ich mir noch, ich solle nun bitte nicht durchdrehen, nur weil ich in einer etwas merkwürdigen Stimmung war. Voldemort war wieder zurück und es hätte jeden Tag einen Grund für Besorgnis gegeben.
Aber dann war meine Post eingetroffen und mir blieb mein Toastbrot förmlich im Halse stecken. Mein Gefühl, dass etwas Furchtbares geschehen war, war leider nicht trügerisch gewesen. Ich hatte eine Eileule vom Zaubereiministerium bekommen und als ich den Brief las, hoffte ich nichts anderes sehnlicher, als dass ich aufwachte.
„Sehr geehrte Mrs. Longbottom,
zu unserem großen Bedauern müssen wir Ihnen mitteilen, dass am gestrigen Abend zehn Askabanhäftlinge fliehen konnten. Unter Ihnen befinden sich auch die drei Lestranges, die schuldig an der Folter Ihrer Familie waren.
Es ist möglich, dass diese Todesser es auch weiterhin auf Sie oder Ihre Familienmitglieder abgesehen haben. Um Ihre Sicherheit zu gewährleisten, werden wir Ihnen und Ihrer Familie einen Auroren zu Bewachung schicken. Wenn Sie einen der Todesser sichten, informieren Sie bitte umgehend das Zaubereiministerium.
Mit großem Bedauern, G. Dawlish, aus der Aurorenabteilung
Starr vor Schreck lies ich das Blatt sinken. Ich spürte wie mir die Tränen in die Augen stiegen. Das konnte einfach nicht sein. Bitte, lass es nur einen schlechten Scherz sein, flehte ich. Aber tief in meinem Inneren wusste ich, dass sich weder jemand einen dummen Scherz erlaubt hatte noch dass ich träumte. Ich war hellwach und doch waren die Dinge, die in der Nacht geschehen waren mein schlimmster Alptraum. Dass die Lestranges, die Schuld am Zustand meines Sohnes und seiner Frau waren, entkommen waren, erschien mir einfach zu grausam.
Wie viel kann ein Mensch an Schicksalsschlägen verkraften, bevor er zugrunde geht, fragte ich mich in diesem Moment. Reichte es nicht, dass mein Sohn bis zum Wahnsinn gefoltert wurde? War es nicht genug, dass Nevilles Mutter unter einem so heftigen Cruciatus-Fluch gelitten hatte, dass sie ihr Gedächtnis verloren hatte und nicht einmal ihren eigenen Sohn mehr erkannte? Mussten jetzt auch noch ihre Folterer der gerechten Bestrafung entkommen?
Zuhause hielt ich es nicht mehr aus. Wenn dies tatsächlich die grausame Wahrheit war, musste ich mich sofort auf den Weg nach Hogwarts machen und meinen Enkel suchen. Es wäre sicher besser, wenn er diese Nachricht von mir erfuhr und nicht aus dem Tagespropheten oder einer blöden Eule aus dem Zaubereiministerium.
In Windeseile apparierte ich nach Hogsmeade, wo mir am Bahnhof die Schlagzeilen des Tagespropheten die letzte grausame Gewissheit haben: Bellatrix Lestrange, sowie ihr Ehemann und Schwager waren aus ihrer lebenslänglichen Askabanhaft entkommen und würden nun erneut Unheil und Unglück über die englische Bevölkerung bringen.
Mir wurde das Herz schwer, als die Tore von Hogwarts vor mir auftauchten. Es schmerzte mich, dass ich meinem Enkel diese Neuigkeit überbringen musste. Es tat mir fürchterlich Leid, dass ich schon wieder dunkle Wolken in sein ohnehin nicht besonders sonniges Leben bringen musste.
Er saß in der großen Halle und aus seinem Gesichtsausdruck konnte ich lesen, dass er es bereits wusste. Er war leichenblass, seine Augen starrten geradeaus und es wirkte, als sei er meilenweit weg.
Seine Freunde, Harry, Ron und Hermine warfen ihm hin und wieder einen besorgten Blick zu. Seit den Weihnachtsferien wussten sie über das grausame Schicksal von Nevilles Eltern Bescheid. Als ich an den Tisch trat, ergriff Hermine das Wort: „Mrs. Longbottom … ich … es tut uns so Leid, dass … .“ Der intelligentesten Schülerin aus Nevilles Jahrgang fehlten die Worte. Es gab auch keine Worte, die mich in dieser Situation aufmuntern konnten. Aber das Mitleid, welches in ihrem Blick lag, vermochte es.
Neville war hier in Hogwarts nicht allein. Er hatte Freunde, die für ihn da sein würden und dieses Wissen tröstete mich ungemein.
„Er sitzt schon seit einer halben Stunde so da“, flüsterte Hermine und sie hatte Tränen in den Augen.
Ich nickte.
„Neville“, sagte ich leise und setzte mich neben ihn.
Neville fuhr zusammen, als hätte ich ihm gerade von hinten einen Fluch auf den Hals gehetzt. Offenbar war er mit seinen Gedanken vollkommen woanders gewesen. In den Händen hielt er noch den Brief aus dem Zaubereiministerium, den gleichen, den ich ihn am heutigen Morgen erhalten hatte. Der Brief trug exakt den gleichen Wortlaut wie meiner, nur die Anrede war verändert worden. Das war wieder typisch Zaubereiministerium, Mitleid zu heucheln obwohl es ihnen im Grunde vollkommen egal war, bedauernde Schreiben aufzusetzen und es dann an mehrer Empfänger zu senden, um ja nicht mehr Arbeit zu haben. Wahrscheinlich hatten sie den gleichen Brief an jede Familie geschickt, bei denen einige Mitglieder den zehn entflohenen Todessern zum Opfer gefallen waren. Dem Zaubereiministerium tat der Ausbruch nur Leid, weil er mehr Arbeit für sie bedeutete, nicht aber weil die Einzelschicksale sie in irgendeiner Weise interessierten.Wenn sie durch uns zu den Straftätern geführt werden könnten, würden die uns doch als Köder einsetzen.
Neville war das ganze Frühstück über nicht ansprechbar und ich ließ ihn in Ruhe. Hier in der großen Halle konnte ich ohnehin nicht mit ihm sprechen. Seine Mitschüler verließen schließlich einer nach dem anderen die große Halle, um zum Unterricht zu gelangen. Auch Neville erhob sich: „Gran, ich muss los …“
„Nein, warte!“ Ich zog ihn wieder auf die Sitzbank. „Neville, lass dich davon nicht fertig machen. Das hätten deine Eltern nicht gewollt.“
Zum ersten Mal an diesem Morgen schaute mir Neville direkt in die Augen: „Ich hatte nicht vor, mich von ihrer Flucht fertig machen zu lassen. Ich habe mir überlegt, wie ich mich an ihnen rächen soll, nun, da sie draußen sind.“
In seinem Gesicht war ein Ausdruck wilder Entschlossenheit zu finden. Ich hatte meinen Enkel noch niemals so erlebt.
„Sie werden büßen für das, was sie Mum und Dad angetan haben. Das verspreche ich dir.“ Und obwohl Neville ein kleiner Junge von gerade einmal fünfzehn Jahren war, der nicht mal besonders gut im Zaubern ist, hatte seine Miene etwas so Entschlossenes, dass ich mir das fast vorstellen konnte.
Mit Neville ging seit diesem Tag eine Wandlung von sich. Zwar sah ich ihn erst einmal ein paar Monate nicht mehr, aber meine alte Freundin Poppy Pomfrey hielt mich über alles, was Neville betraf auf dem Laufenden. Die Lehrer hatten weniger Grund über meinen Enkel zu klagen. Neville, der in seinen ersten Jahren ein schlechter Schüler gewesen war, besserte sich in jedem Fach. Er arbeitete hart an sich selbst, verbrachte neben seinen Hausaufgaben noch eine Menge Zeit damit neue Zaubersprüche zu pauken und steigerte sich in jedem Fach so stark, dass sich die Lehrer oftmals wunderten. Doch womit er mich am stolzesten machte, war sein Mut, gegen die neue Lehrerin von Hogwarts zu rebellieren. Die neue vom Ministerium eingesetzte Lehrerin bevorzugte die theoretische anstelle der praktischen Unterweisung und betrachtete die Rückkehr des dunklen Lordes als eine Lüge.
Einige Schüler erhoben sich gegen diese Lehrerin. Zusammen mit Harry Potter gründeten sie eine illegale Vereinigung, die sich selbst Dumbledores Armee nannte und praktische Verteidigungszauber gegen die dunklen Künste übte. Mein Enkel wurde eines der eifrigsten Mitglieder in dieser Vereinigung. In den Sommerferien, als wir Hermine in London trafen, erzählte sie mir, dass Neville sich in dem letzten Monaten des Schuljahres zu einem der Besten aus Dumbledores Armee entwickelt hatte und viel an Selbstvertrauen gewonnen hatte. Ende des Schuljahres musste Neville seine Zaubergradprüfungen absolvieren und er schnitt deutlich besser ab als ich erwartet hatte.
Am Ende seines fünften Schuljahres schaffte er es nicht nur, mich mit seinen für seine Verhältnisse doch ziemlich guten ZAG-Noten zu überraschen, sondern bewies in seinem ersten Kampf gegen Todesser so viel Mut und Tapferkeit, die ihm nie jemand zugetraut hatte. Ich war noch nie so stolz auf ihn wie an dem Tag, als ich davon im Tagespropheten las. Zusammen mit Harry Potter und ein paar weiteren Freunden hatte er den Todessern im Zaubereiministerium die Stirn geboten und hatte verhindert, dass Voldemort eine wichtige Prophezeiung in die Hände fiel.
Als ich Neville drei Wochen später am Londoner Bahnhof wieder in die Arme schloss, wurde mir zum ersten Mal bewusst, dass er genauso war wie seine Eltern. Jahrelang hatte ich versucht, ihn zum Lernen anzuspornen, indem ich ihm vorgehalten hatte, wie gut seine Eltern im Zaubern gewesen waren und wie er gegen sie zurück stand. Aber in diesem Moment wurde mir klar, dass das einfach nicht stimmte. Er war genau wie sie beide. Wie Alice und Frank würde Neville sein Leben geben, weil er seine Ideale nicht verraten wollte. Wie sie würde er den Kampf gegen Voldemort und seine Todesser aufnehmen.
Es verging nur ein Jahr, bis Neville ein weiteres Mal gegen die Todesser ankämpfte. Während Harry und Dumbledore auf geheimer Mission waren, drangen Todesser in das Schloss ein und mein Enkel war einer der wenigen, der es verteidigte. In dem Kampf schaffte er es tatsächlich sich gegen Todesser durchzusetzen.
Über die genauen Umstände des Kampfes hat mir Neville nicht viel erzählt, er ist kein Junge, der in großem Ton von seinen Heldentaten redet. Ein bescheidenes „So dramatisch war es nicht, Grandma“ und ein Abwinken, mehr hörte ich zu diesem Thema nicht von ihm. Aber ich weiß, dass sie in der Unterzahl waren und trotzdem nicht aufgegeben haben. Und trotz seiner Bescheidenheit freut sich Neville doch insgeheim sehr, dass er es
Doch dieser glorreiche Kampf meines Enkels wurde ganz und gar überschattet von einem anderen Ereignis: In dieser Nacht kam Albus Dumbledore ums Leben. Der Mann, den wir alle als Widerstandssymbol gegen Voldemort gesehen hatten, war fort und mit ihm ging auch viel der Hoffnung auf einen Sieg über Voldemort.
„Du darfst nicht aufgeben, Oma“, wiederholte Neville in den Sommerferien des letzten Jahres immer wieder. „Dumbledore ist tot, aber wir haben immer noch jemanden auf unserer Seite, der mächtig genug ist, Voldemort zu töten.“
Neville sprach über Harry Potter. Konnte ein Junge, der kaum siebzehn Jahre war, mächtig genug sein, den stärksten dunklen Magier der Geschichte zu besiegen?
Ich zweifelte daran, aber Nevilles fester Glaube an Harry Potter imponierte mir. Mein Enkel war bereit, seine Loyalität zu einem seiner besten Freunde zu beweisen und Harry somit den nötigen Mut zu geben, den Kampf gegen Voldemort anzutreten.
Zurück in Hogwarts hatte sich für Neville einiges geändert. Die Schule stand nun unter der Leitung des Mörders von Albus Dumbledore, zwei weitere Todesser waren als Lehrer eingestellt worden und die vorherigen Lehrer hatten nichts mehr zu sagen. Anstatt ein Ort der Geborgenheit und Wärme zu sein, wurde Hogwarts nun zu einem Ort der Folter und Grausamkeiten.
Nevilles Idol war fort – Harry Potter war nicht aufzufinden, hatte sich vor Lord Voldemort in Sicherheit gebracht und niemand wusste, ob er noch lebte.
Der Cruciatusfluch wurde an Hogwarts offiziell als Strafe erlaubt, jedes Bekenntnis zu Harry Potter bitter bestraft und die dunklen Künste als Unterrichtsfach eingeführt.
Das waren die Sachen, die man über Sender wie Potterwatch hören konnte und ich war mir sicher, dass das nicht gelogen war. Neville erzählte mir kein Wort über die Zustände von Hogwarts. Seine Briefe waren nichtssagend, er wusste, dass sie abgefangen werden konnten. Erst in den Weihnachtsferien erzählte er mir, wie es wirklich nun in Hogwarts war und mir wurde das Herz schwer. Es war schon schlimm genug zu wissen, dass mein Enkel an so einem düsteren Ort zur Schule gehen musste – aber noch viel schlimmer war es, ihn in so großer Gefahr zu wissen. Neville akzeptierte das neue Hogwarts nicht. Zusammen mit Ginny Weasley und Luna Lovegood hatte er Dumbledores Armee zurück ins Leben gerufen und kämpfte so gegen die neue Schulordnungen. Er trainierte alle, die es lernen wollten, in Verteidigung gegen die dunklen Künste, schmierte nachts Parolen gegen Snape auf die Wände und bekannte sich öffentlich zu Harry Potter.
Wie oft hatte ich mir in den ersten fünfzehn Jahren seines Lebens gewünscht, dass Neville sich zu einem ähnlichen Held entwickeln würde wie seine Eltern! Doch nun, da er wirklich in ihre Fußstapfen getreten war, wünschte ich sich ein Teil von mir, dass er tollpatschig und ungeschickt, aber dafür in Sicherheit geblieben wäre. Die Narben, die Neville im Gesicht hatte, als er mich zu Weihnachten besuchte, sahen grausam aus, am ganzen Körper hatte er blaue Flecken. Wie lange würde es noch dauern, bevor sie ihn so zurichteten, wie sie es bei seinen Eltern getan hatten?
„Ich verspreche dir, dass ich vorher fliehen werde“, sagte Neville ernst zu mir. „Aber solange es geht, werde ich noch meinen Teil für Harry erledigen.“
Der andere Teil in mir, der nicht vor lauter Sorge um meinen Enkel kaum klar denken konnte, war unglaublich stolz. Von dem kleinen, unsicheren Jungen, der seinen Platz im Leben suchte, aber nicht fand, war nichts mehr übrig. Er war ein stolzer Junge geworden, der mit vollem Einsatz hinter seinen Idealen stand und für diese bis zum bitteren Ende kämpfen würde.
Und Neville hatte es überlebt. Anders als seine Eltern war er mit ein paar Narben und blauen Flecken davongekommen.
Einige Stunden später erlöse ich meinen Enkel aus der Schar seiner Bewunderer. Die Reporterschar, die ihm umschwirrte, war noch immer nicht abgerissen.
„Entschuldigt uns nun bitte, mein Enkel und ich haben noch was zu erledigen.“
Ich lege ihm meinen Arm um die Schulter und schiebe ihn aus der Menge. Der Blick in meinen Augen hält jeden davon ab, sich uns in den Weg zu stellen, um noch ein Foto zu schießen und noch ein Interview zu bekommen.
Als wir aus dem Schloss heraus traten, umgab uns mit einem Mal eine friedliche Stille. Kein Mensch war draußen zu sehen und das Stimmengewirr aus der großen Halle verstummte mit jedem Schritt mehr. Hier draußen waren keine Spuren eines Kampfes zu sehen und man hätte beinahe vergessen können, dass in der heutigen Nacht ein Kampf statt gefunden hatte.
Und dann sagte ich es. Die Worte, die er niemals aus meinem Mund gehört hatte und die ich diesem erstaunlichen Jungen schon viel früher hätte sagen müssen.
„Neville, mein Junge, ich bin so unglaublich stolz auf dich.. Du hast den gleichen Mut bewiesen, den einst Alice und Frank im Kampf zeigten und ich bin sehr glücklich, dass du besser davongekommen bist.“
Neville lief rot an und murmelte verlegen: „Du brauchst mich nicht mit ihnen zu vergleichen. Was sie getan haben war viel …“
Aber ich unterbrach Neville bei diesen Worten. Er brauchte nicht länger so bescheiden zu sein, denn er hatte wahrhaft Großes vollbracht.
„Sie hätten am heutigen Abend genau das Gleiche getan.“ Ich lächelte ihm zu und er lächelte schüchtern zurück. An solche Komplimente aus meinem Mund musste sich Neville wohl noch gewöhnen. Eine Weile schwiegen wir beiden, dann brach er unser Schweigen.
„Glaubst du, sie werden es verstehen?“, fragte Neville mich. Er sah mich bei dieser Frage nicht an.
Die Wahrheit war: Niemand wusste, ob und was Alice und Frank noch von ihrer Umgebung und dem, was wir ihnen erzählten, wahr nehmen konnten. Sie erkannten nicht einmal ihren eigenen Sohn und es war fraglich, ob sie es verstehen würden, wenn Neville ihnen nun vom Ende des Krieges erzählte.
Aber das sagte ich nicht. Neville kannte die Wahrheit, aber hätte er sie hören wollen, hätte er nicht mir diese Frage gestellt.
„Ja“, sagte ich leise. „Ich denke, sie werden es mitbekommen. Auf ihre ganz spezielle Art und Weise.“
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