Der Zug bremste und kam zum Stillstand. Alles drängelte sich hinaus auf einen kleinen, dunklen Bahnsteig. Mina begann zu zittern. Plötzlich erhob sich über ihren Köpfen der Schein einer Lampe und eine dunkle Stimme dröhnte: „Erstklässler! Erstklässler, hier rüber! Alles klar, Harry?“
Der große, bärtige Mann, dessen Kopf aussah, wie ein einziger Wildwuchs, strahlte den schwarzen Wuschelkopf an, den Mina bereits bei Madam Malkins gesehen hatte an.
„Nu mal los, mir nach – noch mehr Erstklässler da? Passt auf, wo ihr hintretet! Erstklässler mir nach!“
Rutschend, stolpernd und frierend, folgten sie dem bärtigen Riesen, denn was anderes konnte er für Mina gar nicht sein, einen steilen, schmalen Pfad hinunter. Sogar Blaise hatte aufgehört zu reden. Stattdessen hörte man ihn immer wieder fluchen und um seine Schuhe bangen, wenn er über irgendetwas stolperte. Um sie her war es so dunkel, dass Mina und Daphne vermuteten, zu beiden Seiten müssten dichte Bäume stehen.
Kaum jemand sprach ein Wort. Von irgendwo her erklang ein Schniefen. Wahrscheinlich von diesem Neville, der immer seine Kröte verlor.
„Augenblick noch, und ihr seht zum ersten Mal in eurem Leben Hogwarts,“ rief Hagrid, den Namen hatte sie aus einer kurzen Unterhaltung von Harry und dem rothaarigen Weasley-Jungen entnommen, über die Schulter, „Nur noch um diese Biegung hier.“
Es gab ein lautes „Oooooh!“
Dann war der enge Pfad plötzlich zu Ende und sie standen am Ufer eines großen, schwarzen Sees. Drüben auf der anderen Seite, auf der Spitze eines hohen Berges, die Fenster funkelnd im rabenschwarzen Himmel, thronte ein gewaltiges Schloss, mit vielen Zinnen und Türmen.
„Nicht mehr, als vier in einem Boot!“ rief Hagrid und deutete auf eine Flotte kleiner Boote, die am Ufer dümpelten. Mina, Daphne, Blaise und ein Mädchen mit rundem rosa Gesicht und blonden Zöpfen, stiegen in ein Boot.
„Alle drin?“ rief Hagrid, der ein Boot für sich allein hatte. „Nun denn –VORWÄRTS!“
Die kleinen Boote setzten sich gleichzeitig in Bewegung und glitten über den spiegelglatten See. Alle schwiegen und starrten hinauf zu dem großen Schloss. Es thronte dort oben, während sie sich dem Felsen näherten, auf dem es gebaut war.
„Köpfe runter!“ rief Hagrid, als die ersten Boote den Felsen erreichten; sie duckten sich, und die kleinen Boote schienen durch einen Vorhang aus Efeu zu schweben, der sich direkt vor dem Felsen auftat. Sie glitten durch einen dunklen Tunnel, der sie anscheinend in die Tiefe unterhalb des Schlosses führte, bis sie eine Art unterirdischen Hafen erreichten und aus den Booten kletterten.
„He, du da! Ist das deine Kröte?“ rief Hagrid, der die Boote musterte, während die Kinder ausstiegen.
„Trevor!“ schrie Neville selig vor Glück und streckte die Hände aus. Blaise, Daphne, Mina und Malfoy kicherten leise. Dann stiefelten sie hinter Hagrids Lampe einen Felsgang empor und kamen schließlich auf einer weichen, feuchten Wiese im Schatten des Schlosses heraus.
Sie gingen eine lange Steintreppe hoch und versammelten sich vor dem riesigen Eichentor des Schlosses.
„Alle da? Du da, hast du noch deine Kröte?“
Hagrid hob seine gewaltige Faust und klopfte dreimal an das Schlosstor .
Sogleich öffnete sich das Tor. Vor ihnen stand eine große Hexe mit schwarzen Haaren und einem smaragdgrünen Umhang. Sie hatte ein strenges Gesicht, und Mina konnte sie auf Anhieb nicht leiden.
„Die Erstklässler, Professor McGonagall,“ sagte Hagrid.
„Danke Hagrid. Ich nehm sie dir ab.“
„Tse,“ flüsterte Mina.
„Was ist?“, kam es von Blaise und Daphne.
„Ich mag sie nicht. Der Satz gerade. Als ob wir unliebsame Post oder so was wären.“
Sie konnten nicht weiterreden, denn die Hexe zog die Torflügel weit auf. Die Eingangshalle war so riesig und hoch, dass man die Decke nicht mehr erkennen konnte. Wie bei Gringotts wurden die Steinwände vom flackernden Licht der Fackeln erhellt, und vor ihnen führte eine gewaltige Marmortreppe in die oberen Stockwerke.
Sie folgten Professor McGonagall durch die gepflasterte Halle. Aus einem Gang zu ihrer Rechten konnten sie das Summen hunderter von Stimmen hören – die anderen Schüler mussten schon da sein -, doch Professor McGonagall führte die Erstklässler in eine kleine, leere Kammer neben der Halle. Sie drängten sich hinein und standen dort viel enger beieinander, als sie es normalerweise getan hätten. Aufgeregt blickten sie sich um.
„Willkommen in Hogwarts,“ sagte Professor McGonagall. „Das Bankett zur Eröffnung des Schuljahrs beginnt in Kürze, doch bevor ihr eure Plätze in der Großen Halle einnehmt, werden wir feststellen, in welche Häuser ihr kommt. Das ist eine sehr wichtige Zeremonie, denn das Haus ist gleichsam eure Familie in Hogwarts. Ihr habt gemeinsam Unterricht, ihr schlaft im Schlafsaal eures Hauses und verbringt eure Freizeit im Gemeinschaftsraum.
Die vier Häuser heißen Gryffindor, Hufflepuff, Ravenclaw und Slytherin. Jedes Haus hat seine eigene, ehrenvolle Geschichte und jedes hat bedeutende Hexen und Zauberer hervorgebracht. Während eurer Zeit in Hogwarts holt ihr mit euren Leistungen Punkte für das Haus, doch wenn ihr die Regeln verletzt, werden eurem Haus Punkte abgezogen. Am Ende des Jahres erhält das Haus mit den meisten Punkten den Hauspokal, eine große Auszeichnung. Ich hoffe, jeder von euch ist ein Gewinn für das Haus, in welches er kommen wird.
Die Einführungsfeier, an der auch die anderen Schüler teilnehmen, beginnt in wenigen Minuten. Ich schlage vor, dass ihr die Zeit nutzt und euch beim Warten so gut, wie möglich zurechtmacht.“
Ihre Augen ruhten kurz auf Nevilles Umhang, der unter seinem linken Ohr festgemacht war, und auf der verschmierten Nase des Weasley-Jungen. Dieser Harry mühte sich vergeblich und nervös ab, sein Haar zu glätten.
„Ich komme zurück, sobald alles für euch vorbereitet ist,“ sagte Professor McGonagall. „Bitte bleibt ruhig, während ihr wartet.“
Als sie die Kammer verließ, musste Mina schlucken.
Ihr Herz fing fürchterlich an zu pochen. Sollte sie jetzt vor der ganzen Schule eine Prüfung ablegen? Das einzige, was sie beherrschte, waren Zaubertränke und das auch nur, weil sie das Buch durch das ständige Lesen, bisher zu einem Viertel auswendig konnte! Blaise murmelte etwas vor sich hin, das ungefähr der Bedeutung von: „Hab schon’n Loch im Bauch. Die sollen sich beeilen. Was auch immer kommt. Ich will was essen,“ hatte. Daphne hatte sich auf den Boden gesetzt und atmete einfach nur still ein und aus. Harry Potter schob scheinbar die totale Panik und diese freche Göre, die nach der Kröte gefragt hatte, murmelte irgendwelche Zaubersprüche vor sich hin. Konnte die etwa alle Bücher auswendig? Das musste sie toppen!
Während sie noch so in ihren Gedanken feststeckte, kam vor ihr etwas aus der Wand. Sie hielt den Atem an. Soeben waren direkt vor ihrer Nase etwa zwanzig Geister durch die rückwärtige Wand hereingeschwebt. Perlweiß und fast durchsichtig glitten sie durch den Raum, wobei sie sich unterhielten und den Erstklässlern nur gelegentlich einen Blick zuwarfen. Sie schienen sich zu streiten. Einer, der aussah, wie ein fetter Mönch, sagte:
„Vergeben und vergessen, würd ich sagen, wir sollten ihm eine zweite Chance geben.“
„Mein lieber Bruder, haben wir Peeves nicht alle Chancen gegeben, die ihm zustehen? Er bringt uns alle in Verruf, und du weißt, er ist nicht einmal ein echter Geist – ach du meine Güte, was macht ihr denn alle hier?“
Ein Geist, der eine Halskrause und Strumpfhosen trug, hatte plötzlich die Erstklässler bemerkt. Keiner antwortete. Mina hatte das Gefühl, als ob sie gleich umkippen müsste, zum Glück stand Blaise hinter ihr und hielt sie fest.
„Neue Schüler,“ sagte der fette Mönch und lächelte in die Runde. „Werdet gleich ausgewählt, nicht wahr?“
Ein paar nickten stumm.
„Hoffe, wir sehen uns in Hufflepuff!“ sagte der Mönch. „Mein altes Haus, wisst ihr.“
„Ja, sicher. Gerne! Ein anderes Haus habe ich gar nicht im Blick. Bin voll Hufflepuff fixiert un‘ so.“, erwiderte Blaise zynisch.
„Verzieht euch jetzt,“ sagte eine strenge Stimme. „Die Einführungsfeier beginnt.“
Professor McGonagall war zurückgekommen. Die Geister schwebten, einer nach dem anderen, durch die Wand gegenüber.
„Und ihr stellt euch der Reihe nach auf,“ wies Professor McGonagall die Erstklässler an, „ und folgt mir.“
Mina reihte sich zwischen Blaise und Daphne ein und im Gänsemarsch verließen sie die Kammer, gingen zurück durch die Eingangshalle und betraten durch eine Doppeltür die Große Halle.
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