von minimuff
Leise schleiche ich mich durch den Vorgarten. Jeder Schritt von mir ist wohl bedacht, und kein Zweig knackt unter meinen Füßen. Mich herumzuschleichen war schon immer meine Stärke. Weil ich so leicht und schmal bin, hat mich nie jemand erwischt, nicht mal mein Vater, als er noch da war. Diesmal verstecke ich mich jedoch nicht vor ihm, sondern vor Lilys verrückter Muggelschwester. Sie würde ausrasten, wenn sie mich schon wieder Lily besuchen sähe. Aber heute ist es unglaublich wichtig, ich MUSS einfach zu ihr.
Ich schiele durch die Hecke der Familie Evans und entdecke Lily auf dem Rasen. Sie hockt inmitten von rosa Blumen. Sanft streckt sie mit der Hand über die Blüten, und sie schließen sich, als wenn es bereits Abend wäre. Eine weitere Bewegung von Lily, und die Blütenblätter öffnen sich wieder. Es sieht ein bisschen unheimlich aus und gleichzeitig wunderschön. Es scheint, als könne Lily die ganze Welt zum Blühen bringen. Ihre roten Locken ringeln sich um ihre Schultern, und eine Wärme entflammt in mir, wie immer, wie ich sie sehe. Wie schon beim ersten Mal, als sie wie ein Engel von der Schaukel auf dem Spielplatz geflogen ist.
Ich presse den Brief fest an meine Brust. Für mich besteht kein Zweifel, dass sie ihn auch erhalten hat, aber ich will ganz sicher sein.
"Lily!", rufe ich in Flüsterton, und wie immer zuckt sie zusammen und dreht sich verwirrt um. "Sev? Bist du das?", flüstert sie. "Wo bist du?"
Ich traue mich nicht, ganz durch den Busch zu kriechen, ich weiß nicht, wo das Muggelmädchen ist. Vorsichtig strecke ich meinen Arm durch die Blätter und winke Lily einmal schnell zu. Sie strahlt und geht langsam und geduckt auf mich zu. Schnell rutscht ihr schmaler Körper durch die Hecke und sie sitzt neben mir. Ob sie hören kann, wie schnell mein Herz pocht?
"Sev, ich hab ihn bekommen, ich hab ihn bekommen!" Ihre Augen leuchten. Sie zieht einen Brief aus der Rocktasche, den gleichen Brief, den ich immer noch in der Hand halte.
"Lily, das ist wunderbar! Jetzt können wir zusammen nach Hogwarts!" Ich strahle mit ihr um die Wette. Obwohl ich mir so sicher war, kann ich mein Glück kaum fassen.
Plötzlich schwindet Lilys Lächeln. Sie guckt mich traurig an: "Aber wie soll ich mir die ganzen Schulsachen besorgen? Da war eine Liste in dem Umschlag, da stand, wir brauchen Zauberbücher und einen Zauberstab und so was alles. Ich habe noch nie ein Geschäft gesehen, das solche Sachen verkauft. Und meine Eltern wissen bestimmt auch nicht, wo man so etwas bekommt. Schließlich sind sie ja Muckel."
"Muggel", verbessere ich sie lächelnd. Dann sage ich tröstend: "Du brauchst dir keine Sorgen machen. Meine Mum ist eine Hexe, die weiß genau, wo man das alles kaufen kann. Wir müssen in die Winkelgasse. Wenn du möchtest, nehmen wir dich mit."
Lilys Gesicht strahlt aufs Neue. Mit großen Augen blickt sie mich an. "Die Winkelgasse? Wo ist das? Und wie sieht es da aus? Laufen da nur Zauberer herum?" Für die nächste halbe Stunde erzähle ich ihr von der Winkelgasse. Ich war erst ein Mal da, und das war vor zwei Jahren gewesen. Trotzdem weiß ich alles noch so genau, als wäre es erst gestern gewesen. All diese Geschäfte mit den merkwürdigsten Zutaten und den seltsamsten Gegenständen.
"Ich bin schon so aufgeregt! Ich wünschte, die Sommerferien wären schon vorbei." Sie überlegt kurz, dann fragt sie mich: "Worauf freust du dich am meisten in Hogwarts?" Ich muss nicht lange überlegen.
"Auf Tränke brauen. Ich will Gifte mischen, ich will einen Kessel haben, in dem ich seltsame Zutaten und Einhornhaare und sowas verrühren kann. Und ich freue mich auf die dunklen Künste. Mein Dad hat immer gesagt, das sei das Beste am Zaubern."
Lily verzieht das Gesicht: "Ich möchte lieber keine bösen Künste lernen. Ich finde es gemein, das geht immer auf andererleuts Kosten. Ich möchte lieber Fliegen lernen. Das muss doch unglaublich sein, so weit oben im Himmel. Und ich freue mich auf das Verwandeln. Dann zaubere ich mir alle Sachen rosa und rot und golden."
Sie grinst über beide Wangen vor Vorfreude, und ich schließe kurz die Augen. Ich bin ja so froh, Lily in Hogwarts bei mir zu haben. Was immer dort geschieht, sie wird mich zum Lächeln bringen.
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"Mum? Mum, ich kann meinen schwarzen Zauberumhang nicht finden! Wo hast du den hingetan?"
"Den habe ich schon längst eingepackt", informiere ich meinen Sohn. Er ist schon seit Tagen ziemlich aufgeregt, was mir fremd vorkommt, weil er sonst eher still ist. Heute, am Tag der Abfahrt, kann ich ihn kaum noch bändigen.
Severus kommt die Treppe von seinem Zimmer herunter, einen riesigen Koffer hinter sich herziehend. Er ist völlig außer Atem.
"Warum hast du nicht gewartet? Der Koffer ist doch viel zu schwer für dich. Wingardium Leviosa!" Schon schwebt der gewaltige Koffer über dem Kopf meines Sohnes. Severus atmet erschöpft auf. "Danke, Mum." Doch schon wenige Sekunden später ist er so aufgeregt wie vorher und ruft: "Mum, wir müssen los, der Zug fährt ohne uns weg, wenn wir zu spät kommen!"
Panik spiegelt sich in seinem Gesicht wieder.
"Ruhig, mein Kleiner. Der Zug kommt doch erst in zwei Stunden." "Ja, aber wir müssen doch noch Lily und ihre Eltern abholen!"
Ach ja, genau. Das hatte ich vergessen. Wir nehmen das kleine rothaarige Mädchen von nebenan ja mit zum Bahnhof. Die Eltern haben als Muggel scheinbar keinen blassen Schimmer, wie man zum Gleis 9 3/4 kommt. Die Kleine ist wirklich süss, und scheinbar hat mein Sohn ein Auge auf sie geworfen. Der Ton, der immer in seiner Stimme liegt, wenn er über sie spricht... Mir soll es nur recht sein, schließlich will ich Severus ja von der Todesserlaufbahn abbringen, und wenn er sich in ein Muggelmädchen verliebt, erhöhen sich die Chancen garantiert.
Also steigen wir in mein magisch vergrößertes Auto und fahren los. Unterwegs rutscht Severus unruhig auf seinem Platz neben mir herum. "Ich wünschte, Dad wäre heute auch dabei", meint er schließlich.
In mir zieht sich alles zusammen. Natürlich wäre es schön, wenn Tobias dabei wäre, wenn unser Sohn zum ersten Mal nach Hogwarts fährt. Aber er hat seinen eigenen Weg gewählt, und ich werde es auch ohne ihn schaffen.
"Mummy, halt an, wir sind da, da vorn stehen sie!" Ich blicke in die Richtung, in die Severus zeigt, und erblicke vier Personen am Straßenrand. Eine davon ist Lily, die übers ganze Gesicht strahlt und ihre kleinen Arme um einen großen Vogelkäfig geschlungen hat, in dem eine kleine hellbraune Eule herumflattert. Ich lächle, denn diese Eule haben wir noch vor wenigen Tagen gemeinsam in der Winkelgasse gekauft. Neben Lily steht ein etwas größeres Mädchen mit unscheinbarem braunen Haar und einem ziemlich unfreundlichen Gesichtsausdruck. Hinter den beiden stehen Lilys Eltern.
Kaum steht der Wagen, springt Severus raus und rennt auf Lily zu. Die beiden lachen und reden, vor allem Lily, während die Ältere die beiden böse anfunkelt. Auch ich steige aus und gehe auf die beiden Erwachsenen zu.
"Hallo, Sie müssen wohl Lilys Eltern sein", lächelnd gebe ich ihnen die Hand. Sie wirken auf Anhieb sympathisch auf mich.
"Ja, genau die sind wir", lacht die Frau und schüttelt dabei ihre langen roten Locken. "Dann sind Sie wohl die Mutter von Severus?" Ich nicke. "Ja, aber nennen Sie mich ruhig Eileen". "Gerne. Ich bin Monica, und das ist mein Mann Alex." Der Mann mit dem Schnauzbart nickt mir freundlich zu. Weiter geht unser Gespräch allerdings nicht, denn dann kommen Severus und Lily auf uns zu und betteln: "Können wir nicht endlich los, wir kommen zu spät, dann können wir nie im Leben nach Hogwarts!!" Monica verdreht die Augen. "Das geht jetzt schon seit Tagen so. Ich frage mich, wo mein ruhiges kleines Mädchen hin ist." Ich lächle. "Ja, Severus ist genauso."
Damit wir nicht tatsächlich noch zu spät kommen, steigen wir alle ins Auto. Monica ist begeistert von der Menge an Platz, die sich ihnen bietet (allein auf die Rückbank passt die ganze Familie Evans plus Severus, der natürlich unbedingt neben Lily sitzen muss). Als ich ihnen verrate, dass ich mit einem kleinen Zauberspruch nachgeholfen habe, sind sie begeistert und wollen wissen, ob ihre Tochter das auch einmal können wird. "Natürlich, wenn sie viel übt", antworte ich, was Lilys Eltern dazu veranlasst, ihre Tochter zu ermahnen, immer schön aufzupassen und ganz viel zu üben. Lily verdreht nur die Augen und meint, natürlich würde sie üben, Zaubern wäre schließlich tausendmal spannender als Mathe.
Am Bahnsteig angekommen, braucht es ein paar Minuten, Monica und Alex davon zu überzeugen, dass sie tatsächlich durch eine Steinsäule laufen müssen, um zum Bahnsteig zu kommen.
"Ich kann doch nicht einfach gegen einen Poller laufen, wie sieht das denn aus?", murmelt Alex und schüttelt den Kopf.
"Ihr lauft ja nicht gegen den Poller, sondern durch ihn hindurch", erkläre ich ihnen geduldig. Trotzdem wirken die beiden noch skeptisch. Doch als nacheinander die kleine Lily und Petunia durch den Pfeiler laufen (immerhin den Namen habe ich von dem mürrischen Mädchen herausbekommen), entscheiden sie sich doch dafür, es wenigstens einmal zu versuchen. Natürlich klappt es, und unter Gelächter kommen wir auf dem Bahnsteig 9 3/4 wieder heraus. Wir alle verstummen beim Anblick der gewaltigen roten Eisenbahn, die gerade in einer Dampfwolke vor uns erscheint. Einen Moment lang würde ich am liebsten selbst in den Zug einsteigen und in die geliebte Schule zurückfahren, doch meine Schulzeit ist vorbei. Jetzt ist mein Sohn an der Reihe.
Wir verabschieden uns liebevoll von unseren Kindern. "Pass auf dich auf, mein Großer", flüstere ich in sein Haar. "Und melde dich schnell. Ich muss doch wissen, in welchem Haus du bist." Severus strahlt. "Keine Sorge, ich schreibe dir. Sofort", fügt er noch hinzu, dann wirft er sich ein letztes Mal in meine Arme. Neben mir verabschiedet sich Monica unter Tränen von ihrer Tochter. Schluchzend presst sie Lily an sich, die mir einen leicht genervten Blich zuwirft. Severus und ich grinsen uns zu.
Schließlich kann sie sich doch von ihrer Tochter trennen und Lily und Severus steigen zusammen in den großen Zug. Jetzt wird auch mir ein wenig komisch zumute. Aber ich versuche, es mir nicht anmerken zu lassen. Darum lache und winke ich, bis der Zug am Horizont verschwunden ist.
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