von Blue
Liedtipp: „Monster“ von Paramore
Das Reh hetzte wie von wilden Hunden gejagt durch das Unterholz. In seinen dunklen Augen trat das weiß deutlich hervor. Die Todesangst brach aus jedem seiner Muskeln hervor. Es rannte. Auch wenn seine Lunge beinahe dabei war, zu kollabieren und seine dünnen Beinchen drohten, nachzugeben, es raste weiter. Blitzschnell um die Bäume, durch die Sträucher hinweg, es ignorierte die Äste, die ihm gegen den Körper schlugen und ihm zum Teil die Haut aufrissen. Es sprang über einen hohlen Baumstamm. Weg, weg, nur weg!
Jegliches Blut wurde in seine Muskeln gepumpt, sein Herz raste mit einer unglaublichen Geschwindigkeit, zehnmal so schnell wie im Normalfall und damit zwanzigmal so rasch wie das eines Menschen. Es war klar, dass es innerhalb der nächsten Minuten entkommen musste, andernfalls würde es durch den erhöhten Blutdruck, den gigantischen Adrenalinspiegel und durch sein hoffnungslos überlastetes Herz einen Schock erleiden und auf der Stelle sterben. Sein Körper würde kollabieren, in sich zusammenfallen. Überlastung! Es schrammte an einem Baum vorbei, es sprang und wurde plötzlich am Hals gepackt. Durch die Luft wirbelnd, knallte es kurze Zeit später gegen einen Baum. Das arme Tier versuchte sich voller Panik wieder aufzurichten, doch sein linkes Vorderbein vor gebrochen. Es kam nicht mehr weiter.
Sein Kopf wurde an den Ohren gepackt, dann tat es ein lautes Knacken, das Reh riss die Augen auf und sank mit gebrochenem Genick auf den Waldboden. Die Luft wich aus seiner geweiteten Lunge, es wirkte, als würde es ausatmen. Seine Nerven, die die letzten Minuten auf Hochtouren gearbeitet hatten, ließen seinen leblosen Körper zucken, sein Kopf bewegte sich vor und zurück, während seine Beine noch die Laufbewegung inne hatten.
Patrick riss das Tier hoch, schlug seine Zähne in seinen Hals und trank so gierig wie nie. Nach einer relativ kurzen Zeit schleuderte er das tote Reh weg und wischte sich über den blutverschmierten Mund. Diese Portion reichte ihm schon seit Monaten nicht mehr. Er war blutrünstiger geworden. Rücksichtsloser. Brutaler. Er dachte an Emily. Aber nicht mit Trauer oder Bedauern, sondern mit Wut und Hass. Diese kleine Schlampe hatte ihn betrogen, nach all den Jahren, die sie glücklich mit ihm gewesen war! Und selbst jetzt, wo er Snape endlich aus dem Verkehr gezogen hatte, fühlte er sich miserabel! Es hatte nichts genutzt. Im Gegenteil, Emily hatte ihn verlassen! Für diesen alten Sack! Diesen Verräter, diesen Todesser! Was war der denn schon gegen ihn?! Er, Patrick Warner, erfolgreichster Anwalt des Zaubereiministeriums seit 100 Jahren! Er, der auf ewig jung und gut aussehend blieb!
Er, der ihr die Ewigkeit hätte schenken können! Was hatte Severus Snape dagegen zu setzten? Nichts! Er war ein erbärmlicher Versager, ein Nichts! Was wollte Emily denn noch? Was hatte Snape, was er nicht hatte? Im Großen und Ganzen ging es ihm eigentlich immer weniger um Emily, sondern viel mehr darum, es sich selbst zu beweisen! Sie hatte ihn fürchterlich gekränkt! Und dafür sollte sie büßen! Oh ja, er würde Snape auf ewig nach Askaban bringen, sie würden sich nie mehr wiedersehen! Dafür würde er schon sorgen! Er stand auf und leckte sich mit der Zunge über seine Reißzähne, die sich kurz darauf wieder zurückbildeten. Das Reh war nichts Besonderes gewesen, eher ein Happen für zwischendurch und die beiden Kaninchen zuvor waren auch nicht sonderlich deliziös gewesen.
Weißt du, was dir hundertmal besser munden würde? , meldete sich plötzlich eine Stimme in seinem Kopf.
„Was willst du und wer oder was bist du überhaupt?“, fragte Patrick genervt.
Ich bin’s, du Trottel, deine Natur! Dein Instinkt, das Tier in dir, nenn’ es, wie du magst.
„Verschwinde!“, rief Patrick aufgebracht. Das hatte ihm gerade noch gefehlt!
Oh nein, Kumpel! Nicht noch mal! Du hast mich schon mal verleugnet und sieh’, was es dir gebracht hat! Null! Außer die Unmöglichkeit, die Kleine doch noch zu essen!
Die Kleine zu essen! Das waren schlechte Aussichten für Emily. Sicherlich, er hatte mit dem Gedanken gespielt, aber….
Nichts, aber! Es ist dein gutes Recht, sie zu beißen! Das kannst du so oft verleugnen, wie du willst. Aber früher oder später werde ich mein Recht einfordern!
„Halt’s Maul!“, giftete Patrick und versuchte die Stimme zu verscheuchen. Es war unheimlich. Im Grunde sprach seine „Natur“ genau das aus, was er dachte, was er wollte. Aber etwas in ihm wehrte sich dagegen. Ein Teil von ihm war noch menschlich und seine kaum noch vorhandene Moral, sein Gewissen erlaubte ihm nicht, so etwas zu denken, geschweige denn, in Erwägung zu ziehen.
Lange hältst du das nicht mehr durch, mein Guter! Das verspreche ich dir!
„Lass mich in Ruhe!“
Verflucht noch mal! Die Stimme schien wütend zu werden.
Hör endlich auf, dich so anzustellen und akzeptier’, was du bist!
„Ich hab zu viel getrunken.“, sagte Patrick zu sich selbst. „Das wird’s sein, ich muss einfach wieder runterkommen.“ Ihm wurde unweigerlich übel. Solch ein Gefühl kannte er nicht mehr.
Es war fremd, es war menschlich. Ihm war zum letzten Mal übel geworden, als er noch ein Mensch gewesen war, 1886. Was war nur los mit ihm?
Das fragst du noch!?, rief die Stimme aufgebracht. Du hast dich viel zu lange nur von Rohkost ernährt! Irgendwann macht dein Körper das nicht mehr mit und ICH IM ÜBRIGEN AUCH NICHT!!
Patrick hielt sich den Kopf. Es war wie vor einem halben Jahr, nur noch schlimmer.
Das kleine bisschen Restmenschlichkeit, das irgendwo in seinem Unterbewusstsein noch existiertewurde nun endgültig von dem Vampir erdrückt. Das Tier brach hervor. Es verschlang die Moral, zerriss jegliche Skrupel.
Er brach zusammen und hielt sich den schmerzenden Schädel. Es fühlte sich an, als würden alle Blutgefäße darin zerplatzen. Seine Augen färbten sich rot, obwohl er nicht wütend war.
Sein Atem ging schnell und ungleichmäßig, obwohl er nicht rannte. Seine Zähne entblößten sich, obwohl er nicht jagte. Alles wurde schwarz um ihn herum.
Wenige Sekunden später ertönte ein fürchterlicher Wutschrei und über dem Wald flogen die Vögel in Scharen auf.
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