von LunaYazz
Eine Begegnung in den Schatten des Waldes
Die beklemmende Finsternis gab Severus langsam frei in die Schatten des düsteren Waldes. Er ließ seinen Zauberstab zurück in die Innentasche seines Reisemantels gleiten und sah sich um. Das kalte Licht des Mondes ergoss sich über den Forest of Dean und ließ die Eiszapfen an den Ästen der kahlen Bäume silbrig schimmern. Vorsichtig stakste Severus durch den knirschenden Schnee, seine Augen gewöhnten sich langsam an die Dunkelheit. Die silberne, juwelenbesetzte Klinge hielt er fest in der Hand. Wenn ihn seine Erinnerung nicht trog … hier irgendwo, ganz in der Nähe, musste er sein. Der kleine, abgelegene Waldsee. Severus hatte sofort an ihn gedacht, als Phineas Niggelus ihm mitgeteilt hatte, dass Potter und seine Freunde im Forest of Dean campierten. Phineas Niggelus, den er immer nur als ein nutzloses und nervendes altes Portrait gesehen hatte, der ihm eines Tages aber doch sehr hilfreich gewesen war.
Kurz nach Severus´ Duell mit Bellatrix war es gewesen, als Niggelus in seinen Rahmen im Schulleiterbüro geeilt gekommen war und Severus atemlos Bericht erstattet hatte. Bericht erstattet, dass Hermine Granger sein Portrait im Grimmauldplatz Nr. 12 gestohlen und in ihrer magischen Handtasche verstaut hatte. Und daraufhin zusammen mit Potter und Weasley mit ihm geflohen war. Aufgeregt hatte ihm Severus befohlen, in seinen anderen Rahmen zurückzukehren und ihm jedes Zeichen auf den Aufenthaltsort der drei sofort mitzuteilen. Doch nichts. Granger holte das Portrait zwar regelmäßig aus ihrer Tasche, um es nach Informationen über Hogwarts auszuquetschen, doch sie hatte Vorsichtsmaßnahmen getroffen. Eine magische Augenbinde hatte sie dem Portrait gezaubert, so dass es nichts sehen konnte, und während sie, Potter und Weasley mit ihm sprachen, erwähnten sie selbstverständlich nie, wo sie sich befanden. Fürs erste genügte es Severus zu wissen, dass es Potter gut ging. Aber er hoffte tagtäglich sehnsüchtig darauf, dass die Freunde einmal unvorsichtig waren, einmal einen Fehler machten. Und tatsächlich konnte Niggelus nach Wochen und Monaten des Wartens Severus endlich mitteilen, dass Granger mal nicht richtig aufgepasst hatte mit dem, was sie sagte. Das Gemälde wüsste nun, wo Potter, Weasley und sie sich befänden: Sie würden im Forest of Dean campieren, einem dichten, düsteren Wald, einem Ort, an dem der Mensch noch nicht in die Natur eingegriffen hatte. Auf diese Chance hatte Severus lange gewartet. Nun konnte er endlich die Mission erfüllen, die Dumbledore ihm aufgetragen hatte: Potter das Schwert Godric Gryffindors zukommen zu lassen, und zwar so, dass er es unter Heldenmut und in Not entgegennehmen muss. Dumbledores Portrait weigerte sich zwar immer noch beharrlich, Severus zu sagen, was in aller Welt das nützen sollte, aber er tat es in stillschweigendem Gehorsam. Es musste äußerst wichtig sein für Potters geheimen Auftrag, den er von Dumbledore erhalten hatte. Und so war Severus in dieser samtschwarzen Nacht voll Entschlossenheit in den Forest of Dean appariert.
Entschlossenheit, die seinen Körper wie loderndes Feuer durchströmte, wie heiße Glut durch seine Adern rauschte. Hier war er endlich einmal nützlich, der Einzige, der Potter helfen konnte bei seiner Mission. Dumbledore vertraute ihm, und er würde ihn nicht enttäuschen. Auch wenn vom größten Zauberer aller Zeiten nur noch ein Portrait, ein kunstvoll gemalter Schatten seines Selbst übrig war und der wirkliche Albus Dumbledore in seinem schneeweißen, marmornen Grabmal ruhte und Severus nie mehr zur Seite stehen konnte, ihm nie mehr diese Sicherheit und Gewissheit geben konnte, wie er es in seinem Leben getan hatte. Der einzige Mensch, der ihm je vertraut hatte. Und seit dessen Tod Severus´ Leben eine radikale Wende genommen hatte. Seit dessen Tod Severus in der Einsamkeit zu ertrinken drohte, die ihm zuvor schon wie eiskalte Wellen umspült hatte. Nun war aus diesen Wellen ein unaufhaltsamer Hurrikan geworden.
Das Glitzern des zugefrorenen Sees inmitten des blütenweißen Schnees stach Severus durch das kahle Astgewirr des Waldes in die Augen. Sehr gut. Er hatte also Recht behalten. Nach fast dreißig Jahren war er zurückgekehrt und hatte diesen kleinen Waldsee auf Anhieb gefunden, war genau an den richtigen Ort appariert. Zum Glück hatte er sich noch entsinnen können, dass sich hier im Dickicht des Waldes so ein Tümpel befand. Aber wie hätte er das auch vergessen können? Für einen Moment flammte die Erinnerung vor seinen Augen auf, so klar und deutlich und so nah an seinem Herzen wie das Hier und jetzt, mindestens.
Er, ein kleiner, magerer Junge mit bleicher Haut und langen, schwarzen, im sanften Wind wehenden Haaren, der auf einem schmalen Waldweg einige Schritte hinter seinen schlecht gelaunten Eltern hinterher trottete, die wütend miteinander diskutierten über dies oder jenes. Er wusste es nicht. Es war ihm auch egal. Mittlerweile war es ihm egal. Es war immer dasselbe. Kleinigkeiten. Er hatte sich schon so auf diesen Ausflug gefreut, tagelang. Wir gehen zum Forest of Dean, spazieren, picknicken, einfach ein wenig entspannen, das hatte ihm Mutter gesagt. Endlich mal wieder raus, raus aus der bedrückenden Enge des dunklen, heruntergekommenen Hauses. Mit Mama und Papa was unternehmen. Doch das hatte er sich anders vorgestellt. Seine Eltern beschäftigten sich mal wieder nur mit sich selbst. Das Licht der morgendlichen Sonne schien durch das Blätterdach der Bäume und sprenkelte den Waldboden grün und golden. Severus machte einen Schritt hinein in den Wald, spürte das weiche Laub unter seinen Füßen. Noch einen. Und noch einen. Kehrte dem schmalen Trampelpfad den Rücken zu. Er wollte einfach nur alleine sein. Das war er doch sowieso. Alleine, ob seine Eltern nun bei ihm waren oder nicht. Tränen der Enttäuschung schossen in seine Augen, als er weiter in den Wald vordrang, sich Schritt für Schritt vom Weg entfernte und im Dickicht verschwand, ohne dass seine Eltern etwas bemerkten, ohne dass jemand ihn zurückrief. Ein Chor von Vögeln erfüllte den Wald mit einem freudigen Zwitschern, ein Duft nach Blättern und Blumen lag in der Luft. Und Severus konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten, wie Diamanten im Licht der Sonne glitzernd liefen sie seine Wangen herunter. Er wischte sie mit dem Ärmel seines T-Shirts weg, ging unbeirrt weiter. Immer weiter, ohne auch nur irgendetwas von all dem um ihn herum wirklich zu sehen, die Schönheit der Natur auch nur wahrzunehmen. Tauchte immer tiefer in die grüne Welt des Waldes ein, die Tränen, die erneut in ihm aufstiegen und ihn in einen Wirbel der Traurigkeit zu ziehen drohten, energisch wegblinzelnd… Ein lautes Platschen. Nässe, die innerhalb eines Augenblicks in seine Kleidung drang und jeden Millimeter seines Körpers erreichte. Eisige Kälte. Schock. Sein Herz hämmerte laut gegen seine Brust. Er fuchtelte wie wild mit den Armen im Wasser herum. Nein. Er durfte nicht untergehen. Severus war so in schwermütige Gedanken versunken gewesen, hatte nur noch Abstand von allem in der Welt gewollt und nun …nun war er in den See gefallen, in diesen Se, der plötzlich einfach im Dickicht aufgetaucht war wie der gierige Schlund eines Ungeheuers. Das ist mein Ende, dachte Severus, eine schreckliche Panik hatte ihn gefangen und ließ ihn nicht mehr los wie ein Klammergriff eiskalter Krallen. Er konnte doch nicht schwimmen, es hatte ihm doch nie jemand beigebracht… Er fühlte sich wie betäubt, sah alles um sich herum wie in Zeitlupe. Seine blassen Hände, die immer und immer wieder in einem verzweifelten Versuch das widerspenstige, zähe Wasser durchpflügten, und sich dabei fremd anfühlten, so als gehörten sie gar nicht zu ihm. Das Wasser, dass wild umher spritzte im unerbittlichen Kampf mit ihm, während es versuchte, ihn zu verschlingen. Jeder Tropfen schimmerte in den Farben des Regenbogens… Und Severus schrie um Hilfe, schrie so laut, wie er nur konnte. Aber im Grunde wusste er es doch. Wusste, dass seine Schreie niemand hören würde, dass niemand ihm zu Hilfe kommen würde. Dass seine Eltern viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt waren, um auch nur zu bemerken, dass er weg war. Wasser drang in Severus´ Nase und füllte seinen Mund, in dem Moment, als er plötzlich festen Boden unter seinen Füßen spürte. Mit all seiner Kraft drückte er sich mit den Beinen vom Boden ab, an die Oberfläche, atmete so tief ein, wie er nur konnte. Strampelte weiter. Seine Füße fanden einen Moment später abermals Grund, und er konnte stehen, er konnte dort tatsächlich stehen, seine Nase war knapp über der aufgewühlten Wasseroberfläche und er atmete süße, klare Luft. Sein Herz machte einen Sprung vor Erleichterung, als er langsam aus dem See watete und sich schließlich erschöpft ans Ufer, ins hohe, trockene Gras sinken ließ. Severus atmete tief durch, um seinen rasenden Puls zu beruhigen. Sein Blick schweifte über den See, von dem er einen Moment vorher noch geglaubt hatte, er würde dort sein nasses Grab finden. Es war ja bloß ein kleiner Tümpel. Gar nicht so tief und gefährlich, wie er in seiner kopflosen Panik gedacht hatte. Es war wahrscheinlich nur der Schock gewesen. Nur der Schock. Und plötzlich erdrückte ihn die Vorstellung, hier ganz allein im dichten Wald zu sein. Eine seltsame Verfolgungsangst hatte von ihm Besitz ergriffen. Er stand auf und rannte, rannte bis der kleine, staubige Trampelpfad Laub und Dickicht ablöste. Seine Eltern waren bereits ein ganzes Stück weitergegangen, klein wie winzige Insekten in der Ferne, hatten sein Verschwinden tatsächlich noch immer nicht bemerkt. Er lief zu ihnen hin, ohne auch nur einmal anzuhalten und Atem zu schöpfen, plötzlich brauchte er bloß Trost. Er war nass bis auf die Knochen und noch wie betäubt von dem Schock. Er wollte nur noch in den Arm genommen und getröstet werden. Er rannte so schnell er konnte zu seinen Eltern, die ihn mit offenen Armen empfangen und beruhigen würden, ja, das würden sie tun. Sie würden ihm den Kopf tätscheln, seine Tränen wegwischen und sagen, dass alles in Ordnung ist. Doch da irrte Severus sich. Das sollte er nicht erfahren. Sein Vater brüllte ihn an, warum er denn einfach alleine losgezogen war, ohne ihm Bescheid zu sagen. Brüllte und brüllte, voller Wut und mit hochrotem Gesicht. Schimpfte auf dem ganzen Nachhauseweg. Jetzt wäre der schöne Ausflug verdorben, nur wegen ihm, wegen diesem nervigen kleinen Jungen, der immer nur an sich selbst denkt und macht, was er will. Und jetzt verlangte Severus allen Ernstes auch noch Mitleid. Wie konnte er das bloß wagen! Seine Mutter sagte nichts. Rein gar nichts. Ihre Augen waren gerötet, ihr Gesicht verschwollen, sie wirkte vollkommen fertig und erschöpft. Erschöpft vom Streiten, vom ewigen Streiten…
Severus blinzelte, schüttelte den Kopf, wie um diese Erinnerung abzuschütteln. Er musste sich jetzt auf die Gegenwart konzentrieren, nur auf die Gegenwart. Das hier war äußerst wichtig. Er stapfte durch den Schnee zum Seeufer und hob seinen Zauberstab. Richtete ihn auf direkt auf die Mitte des zugefrorenen Sees. „Incendio!“ Eine saphirblaue Flamme züngelte aus der Spitze des Stabs und stieb gegen die Eisdecke. Weißer Dampf stieg auf in den düsteren, sternenübersäten Himmel. Einen Augenblick später klaffte ein fast kreisrundes Loch im Eis, wie mit dem Zirkel gezogen, und ein bleicher Mond spiegelte sich in der leicht gekräuselten Wasseroberfläche. Severus warf noch einen letzten Blick auf die silberne Klinge in seiner Hand, auf das Schwert Godric Gryffindors, dann dachte er fest Wingardium Leviosa, in dem Moment, als er die Waffe losließ. Einen Herzschlag lang verharrte das Schwert in der Luft, um daraufhin langsam auf das Loch im Eis zuzuschweben. Ein Zauberstabschlenker, und es versank im Wasser. Severus murmelte einen Gefrierzauber, der mit einem lauten Zischen als gleißend hellblauer Eisstrahl aus seinem Zauberstab hervor geschossen kam und den See binnen weniger Sekunden wieder vollständig zufror.
Einwandfrei, dachte sich Severus mit einem Anflug von Selbstzufriedenheit. Der erste Teil seines Auftrags wäre gemeistert. Das Schwert Gryffindors im See versenkt. Jetzt zum zweiten Teil. Potter musste diesen Waldsee und das Schwert finden, das Schwert bergen, sonst wäre alles zwecklos. Doch Severus würde ihn niemals entdecken können. Selbst wenn er sich nicht durch Magie vor Blicken verbergen würde, der Wald war groß, wo sollte er anfangen zu suchen? Nein, er konnte Potter nicht finden. Dafür brauchte es eine höhere Form der Magie. „Expecto Patronum!“ Ein silbrigweißer Schein erhellte den düsteren Wald, als aus der Spitze von Severus´ Zauberstab eine Lichtgestalt von zierlicher Anmut hervorbrach, eine silberne Hirschkuh mit langen, dünnen Beinen, Hufen, die wie Diamanten funkelten und großen, so sanften Augen. „Finde Harry Potter“ wisperte Severus. „Finde ihn und führe ihn hierher!“ Einen Moment lang sah ihn das Patronustier intensiv an mit seinen schimmernden Knopfaugen, deren Blick auf eine befremdliche Weise so sehr dem von ihr glich, dann drehte es sich um und trabte geräuschlos davon, hinein in die Finsternis des Waldes. Bald war von der Hirschkuh nur noch ein schwaches Funkeln in der Ferne zu sehen, und plötzlich wurde Severus überwältigt von einem seltsamen Gefühl der Verlassenheit. Sein Patronus war wie ein Teil seines Selbst. Ein gut verborgenes und tief in seinem Inneren verschlossenes Teil seines Selbst. Die Personifizierung seiner Erinnerungen, in all ihrer Schönheit und all ihrem stechenden Schmerz. Irgendwie war mit diesem anmutigen Lichtwesen immer ein Teil von Lily bei ihm geblieben, dass ihn niemals verlassen würde. Auch nach ihrem Tod nicht. Auch nachdem der Spiegel zerbrochen war nicht. Er lag schon so viele Jahre zurück, doch der Tag, an dem ihm die silberne Hirschkuh zum ersten Mal zur Hilfe gekommen war, kam Severus wie gestern vor…
Es war ein stürmischer Herbsttag. Die Sonne versank langsam im Horizont und färbte den Himmel orangerot, als er mit einem lauten Knall in die dunkle Gasse apparierte. Sie war beengend und trist mit ihren staubigen, teils zerbrochenen Straßenlaternen und den leer stehenden, heruntergekommenen Häusern, die sie wie finstere Gestalten belagerten. Ein mächtiger Fabrikschlot, der die Luft mit tiefschwarzem Qualm füllte, überragte die Szenerie als düsterer Schatten. Spinner´s End. Severus´ Heimat. Immer gewesen. Hier stand sein Haus. Er blickte hoch an dem kleinen Häuschen, von dessen blassgrauen Mauern schon an vielen Stellen der Putz abblätterte. Links und rechts verfallene Bauten, durch deren brüchige Fenster der kalte Wind pfiff. Severus hatte dieses Haus einst geerbt. Vor einigen Jahren. Viel zu früh.
Severus war gerade in seinem vierten Schuljahr gewesen, als seine Mutter gestorben war. Magenkrebs. Sie hatte ihm vorher nichts von ihrer Krankheit erzählt, rein gar nichts. Und plötzlich war sie einfach tot gewesen. Er konnte es nicht begreifen. Sein Vater starb knapp zwei Jahre später. Eines bewölkten Abends war er im Wohnzimmersessel eingeschlafen und nie wieder aufgewacht. Herzstillstand. Der Alkohol, vermutlich. Er hatte sich nie wirklich um sich selbst gekümmert, auch wenn er immer nur an sich gedacht hatte.
Und nun, nun würde Severus das Haus seiner Eltern verlassen. Er würde nach Hogwarts ziehen, in seine erste und einzige wahre Heimat. Die Stelle als Lehrer für Zaubertränke hatte Dumbledore ihm angeboten. Eine durchaus gute Stelle. Zaubertränke brauen gehörte schon immer zu den Dingen, die er perfekt beherrschte. Severus steckte vorsichtig den Schlüssel in das rostige Schloss und öffnete die knirschende Tür. Trat ein das erdrückend enge Wohnzimmer. Während er die wenigen Dinge, die er mit nach Hogwarts nehmen wollte, in einen kleinen, zerschlissenen Koffer packte, hoffte er so sehnsüchtig darauf, dass mit seinem Neuanfang als Lehrer auch ein bisschen Vergessen eintrat. Bloß ein bisschen, das würde ihm ja schon genügen. Er hatte unermessliche Schuld auf sich geladen. Aus Enttäuschung und Verbitterung war er Todesser geworden. Hatte auf der Suche nach Anerkennung und einem Ziel für Voldemort gearbeitet, spioniert und geplant. Ihm bei seinem sinnlosen und grausamen Vorgehen gegen Muggelgeborene und der erbarmungslosen Bekämpfung von jedem, der sich ihm entgegengestellt hatte, geholfen. Er war auf Todesserversammlungen gewesen und hatte bei den schrecklichen Taten von Voldemorts Schergen zugesehen, ohne etwas dagegen zu unternehmen -er war schließlich auf ihrer Seite gewesen. Es war nicht so, dass er nicht darunter gelitten hätte, nein. So war es ganz und gar nicht. Immerzu hatte er sich eingeredet, dass Voldemorts Ideologie am Ende doch …das Richtige war. Hatte es sich eingeredet, um vor sich selbst nicht eingestehen zu müssen, dass Überzeugung keineswegs sein wahrer Antrieb war. Endlich gehörte er irgendwo dazu, wurde wirklich respektiert und anerkannt. Auch wenn es nicht er selbst war, für den sie sich interessierten, sondern bloß die Unterstützung, die er in diesem Kampf für sie sein konnte. Er war Teil eines höheren Ziels, gehörte zu den Mächtigen…
Und dann war es passiert. Er hatte diese schicksalshafte Prophezeiung Lord Voldemort mitgeteilt, wohl wissend, dass der den in ihr erwähnten Auserwählten, ein kleines Kind, verfolgen und töten würde. Aber ein Todesser, ein Todesser dient bloß seinem Herrn. Gewissensfragen sind da zweitrangig. Vielleicht war es ja die gerechte Strafe für ihn, dass es so gekommen war, wie es gekommen war. Aber was konnte denn so ein wunderbarer Mensch wie Lily für seine Fehler?
Zwei unerträglich schmerzvolle, unendlich zähe und lange Wochen war es nun her, dass Dumbledore Severus von ihrem Tod berichtet hatte. Von dem Tod seiner großen Liebe, an dem allein er die Schuld trug. Plötzlich war Severus´ ganzes Leben über ihm zusammengeklappt wie ein Kartenhaus. Und er hatte sich geschworen, es zu ändern. Vielleicht konnte er irgendwann ein kleines Bisschen von all dem wieder gut machen. Vielleicht konnte er irgendwann, in langer, langer Zeit, auch wieder ein normaler Mensch sein und einigermaßen normal durchs Leben gehen, nicht glücklich, aber wenigstens nicht so voller Leid und Wut auf sich selbst und alles in der Welt. Vielleicht. Aber er wusste nicht, ob er das je können würde. Und ob er das überhaupt verdient hatte.
Er trat hinaus auf die düstere Straße, den noch nicht einmal zur Hälfte gefüllten Koffer –so leer, wie er sich selbst fühlte– unter den Arm geklemmt. Die Schatten der Nacht hatten sich über Spinner´s End gelegt und tiefschwarze Regenwolken hingen über der Stadt, zwischen denen sich der Rauch der Fabrikschlote verlor. Die wenigen noch funktionierenden Straßenlampen erleuchteten die Gasse nur schwach. Severus starrte in die Dunkelheit, in quälende Gedanken versunken. Egal was er tat, jeder Moment seines Lebens war überschattet von Trauer. Er sah immer nur Lilys sanftes Gesicht vor sich, das lebhafte Funkeln in ihren grünen Augen… Und dann geisterten unwillkürlich Bilder durch seinen Kopf, wie sie zitternd und schluchzend da stand, Angesicht in Angesicht mit ihrem Mörder, verzweifelt versuchend, wenigstens noch ihren kleinen Sohn zu beschützen… Verraten, von ihrem Freund aus Kindertagen… Der grüne Lichtblitz des Todesfluchs traf sie…
Severus stockte. Eine eisige Kälte, die nichts mit dem stürmischen Wind zu tun hatte, ließ ihn frösteln. Weißer Nebel kroch langsam die Gasse entlang. Einen Herzschlag später erkannte Severus ein samtschwarzes Etwas, das sich aus der Dunkelheit der Nacht hervorhob. Es kam näher. Schwebte auf ihn zu. Streckte seine schorfigen Leichenhände gierig nach ihm aus.
Voldemort war an dem Tag, an dem er Potter angegriffen hatte, plötzlich verschwunden, vielleicht tot, aber die Dementoren, die er während seiner Herrschaft aus Askaban befreit und in seine Dienste gestellt hatte, spielten noch immer verrückt.
Severus konnte den rasselnden Atem des Dementors hören und sein Blut schien zu gefrieren. Er zückte blitzschnell seinen Zauberstab. Es war noch nie einfach für ihn gewesen, einen Patronus heraufzubeschwören. Was hatte er denn schon für glückliche Erinnerungen? Ihm fielen stets nur die wenigen Momente unbeschwerter Freude aus seiner Kindheit ein und natürlich die vielen schönen Augenblicke, die er mit Lily verbracht hatte – aber die waren schon seit Jahren von einer schmerzhaften Traurigkeit überschattet, denn zwischen Lily und ihm würde es nie so sein, wie er sich wünschte.
Doch das war Severus´ erster Versuch, das Lichttier zu erschaffen, seit… es passiert war. Angestrengt suchte er nach etwas Glücklichem in seinem Kopf, der bloß noch ein verfallenes Denkmal von Trauer und Schuld war, und fand schließlich den Augenblick, an dem er zum ersten Mal vor den Toren von Hogwarts stand, das wirkte wie das Schloss seiner Träume nach all den Jahren in Spinner´s End. Zehn Jahre waren seither vergangen. Es gelang. Die Anstrengung trieb ihm fast die Schweißperlen auf die Stirn, aber es gelang. Severus hatte den vertrauten silbernen Raben erwartet, wie er mit weit ausgebreiteten Schwingen aus seinem Zauberstab hervorbricht und den Dementor mit dem scharfen Schnabel in die Flucht jagt. Aber stattdessen erschien die Hirschkuh, graziös und feingliedrig wie ein gefallener Engel. Verstört starrte er sie an. Sie drehte ihren hübschen Kopf zu ihm und sah im direkt in die Augen. Sie war nicht bloß ein Patronus, nicht bloß ein Zauber und auch kein Tier. Da lag weitaus mehr Tiefe in diesem Blick, und das war nicht alles. Auch wenn diese Knopfaugen niemals ihren smaragdgrünen glichen, blickte ihn doch Lily an. Blickte ihn mutig und kämpferisch an, bereit, für ihn einzutreten. Und obwohl er die Muggelgeborene Lily verraten hatte, indem er Todesser geworden war, obwohl sie und ihr Mann dieser Verrat das Leben gekostet hatte, trotz allem preschte Lily voran auf ihren funkelnden Hufen, machte einen gewaltigen Satz in die Luft und rammte in einem gleißend hellen Schein den Dementor. Der wurde zurückgeschleudert, taumelte, und einen Augenblick später schwebte er hastig davon, verschmolz wieder mit der Dunkelheit. Dann löste sich auch Lily in Nichts auf, während silbrigweiße Funken sie umgaben wie eine schillernde Aura. Lily. Sie war zurückgekehrt, wieder bei ihm… Da konnte Severus nicht mehr anders. All die Trauer, die in seinem Inneren aufgestaut war wie eine Bombe, die kurz vor der Explosion steht, durchbrach die Fassade und er musste weinen. Weinen und weinen, bis er erschöpft und ausgelaugt war. Und es begann zu regnen, ein plötzlicher, heftiger Wolkenbruch. Das Wasser prasselte in Strömen vom sternenlosen Himmel, wusch schließlich seine Tränen fort…
Verborgen in der Dunkelheit des nächtlichen Forest of Dean spähte Severus hinüber zum gefrorenen See. In seinem Kopf brodelten nur so die Gedanken, Sorgen und Zweifel. Niggelus hatte bloß die Worte Forest of Dean aufgeschnappt. Mehr nicht. Was, wenn Potter und seine Freunde weit entfernt campierten, vielleicht am anderen Ende des Waldes? Würde der Junge der Hirschkuh so einen langen Weg hinein in die Dunkelheit folgen? Und- Würde Potter ihr überhaupt folgen? Immerhin suchte ein ganzes Heer von Todessern nach ihm, um ihn zu töten, er war der Unerwünschte Nr. 1 des Zaubereiministeriums. Leicht könnte er den hübschen, so wirkenden Patronus für eine Falle halten, einen weiteren Mordversuch. Außerdem, was, wenn…
Ein lautes Rascheln und Knacksen, ganz in der Nähe. Severus hielt den Atem an, sah sich hektisch um. Da. Am anderen Ufer des Sees konnte er ein silbriges Glimmen im kahlen Geäst des Waldes erkennen. Es bewegte sich langsam vorwärts. Hier hatte er sämtliches Zeitgefühl verloren, in der Abgeschiedenheit des Waldes, von Zweifeln an all dem geplagt und mitgerissen von einem Strom der Erinnerungen, doch Severus glaubte, es sei noch nicht so lange her, seit er seinen Patronus fortgeschickt hatte. Und nun war er wieder da, ließ sie Bäume hinter sich und trabte hinaus ans Seeufer, blieb dort stehen und blickte wartend zurück in die Dunkelheit. Einen laut pochenden Schlag von Severus Herz später betrat auch Harry Potter die kleine Lichtung und sah sich irritiert um. Im kalten Licht des Mondes war seine Haut sehr bleich, dunkle Ringe lagen unter seinen Augen und es sah so aus, als sei er dünner geworden, seit Severus ihn das letzte Mal gesehen hatte. Er ging langsam, Schritt für Schritt, auf die silberne Hirschkuh zu, streckte zögernd seine Hand aus, um sie zu berühren. Doch in dem Moment löste sich Lily auf. Ihre Aufgabe war nun erledigt.
Für gewöhnlich drosch ein Schwall der Gefühle erbarmungslos auf Severus ein, sobald er Potter sah.
James Gesicht. Seine Haare, seine Statur.
Und Lilys Augen, ihre wunderschönen Augen.
Sein Anblick erinnerte ihn jedes Mal aufs Neue schmerzhaft an all das, was er am liebsten einfach nur verdrängen würde, wühlte alles auf. Lily war nur gestorben, um ihren Sohn zu schützen.
Und dann kam der Hass. Severus konnte nicht sagen, dass er Potter hasste, es war viel mehr die Wut auf sich selbst, die in diesen Momenten in ihm zu brodelnd begann wie glühende Lava. Aber warum, warum musste der Junge ihn denn so quälen? Es war fürchterlich; wie sollte sich da Vergessen einstellen?
Ihm war bewusst, wie ungerecht er war. Es war ihm durchaus bewusst. Potter konnte nichts dafür, dass Lily sich für ihn geopfert hatte, sie noch leben würde, wenn es ihn nicht gäbe. Nichts dafür, dass er Severus tagtäglich so schmerzlich mit diesem alten Leid konfrontierte. Nichts dafür, dass er James wie aus dem Gesicht geschnitten war; James, an dessen Tod Severus ebenfalls die Schuld trug, der aber auch sein Leben zerstörte, wegen dessen ständigen Demütigungen er sich in Hogwarts nicht viel wohler gefühlt hatte als zuhause, durch den er schließlich Lily verloren hatte.
Nein, Severus war all das zu verdanken. Dass Harry Potter keine Eltern mehr hatte, dass seine Familie zerstört worden war. Aber das war zu leicht zu vergessen, wenn er die Schuld auf irgendjemanden abschieben konnte. Es erleichterte ihn in einer gewissen Weise. Und er konnte nicht leugnen, dass er dabei Genugtuung empfand. Genugtuung dabei, gemein zu sein.
Es war erbärmlich, das wusste er. Sehr erbärmlich sogar. Harry Potter war nicht nur James´ Sohn, auch wenn es allzu oft so wirkte, sondern auch der von Lily. Er sollte all das hinter sich lassen und ganz neu anfangen. Einfach nur froh sein, dass wenigstens ihr Kind überlebt hatte. Eigentlich müsste er Potter aufrichtig mögen. Potter, das einzige, was von Lily noch übrig war, ihr über alles geliebter Sohn. Doch er konnte die Vergangenheit nicht begraben. Es ging nicht. Dafür war der Schmerz viel zu stark, die klaffende Wunde in seiner Seele nach all den Jahren noch immer nicht ansatzweise geheilt. Und reichte es denn nicht, dass er Harry Potter mit seinem Leben beschützte, sich ständig wegen ihm in Gefahr begab, alles für ihn aufs Spiel setzte? Musste er denn auch noch nett zu ihm sein? …Vielleicht war er schizophren. Wahrscheinlich.
Doch diesmal, dieses eine Mal löste Potters Anblick etwas ganz anderes in Severus aus als sonst. Er wusste nicht, was er fühlte, als er sah, wie Potter vor Kälte zitternd am finsteren Seeufer stand und auf den Grasfleck blickte, wo einen Herzschlag zuvor noch die Hirschkuh gewesen war, irritiert und hilflos. Wie er zögernd weiter vorwärts ging, stockte, ungläubig zum gefrorenen See hinüber starrte und dann, im nächsten Moment, einen ersten vorsichtigen Schritt aufs Eis wagte. Eine seltsame, unbändige Wärme durchströmte Severus´ Venen. Der Junge lebte. Es ging ihm gut. Und er war immer noch tapfer auf der Flucht vor seinen unzähligen Jägern, fest entschlossen, Dumbledores geheime Mission zu erfüllen. Er war der Auserwählte, der Einzige, der diesen erbarmungslosen Krieg vielleicht beenden konnte. Lilys Sohn war die allerletzte Hoffnung für die Zauberergemeinschaft…
Und auf einen Schlag wurde Severus bewusst, was er fühlte, es eröffnete sich ihm wie eine plötzliche Epiphanie. Stolz. Er war unglaublich stolz auf diesen Jungen, der dort erschöpft und ausgemergelt im kalten Mondlicht stand und versuchte, das Schwert mit Aufrufezaubern aus dem See zu bergen… Diesen Jungen, der so hart kämpfte und am Ende noch sein eigenes, junges Leben opfern müssen würde, um Lord Voldemort zu bezwingen. Er war noch jünger als seine Eltern geworden waren…
Die heißen Tränen, die Severus in den Augen brannten, überraschten ihn. Verwirrten ihn, brachten ihn aus dem Konzept. Irritiert wischte er sie weg.
Potter hatte begriffen. Er hatte ein klaffendes Loch in die Eisdecke gesprengt und war nun dabei, sich auszuziehen, jeder seiner stoßweisen Atemzüge eine Wolke aus weißem Dampf in der klirrenden Kälte. In der Ferne rief eine Eule, ein unheilvoller Schrei, der wie eine böse Vorahnung durch das kahle Geäst hallte. Severus´ Aufgabe war nun erledigt. Er hatte Potter zu dem Schwert geführt, mehr gab es hier nicht zu tun. Er sollte verschwinden, bevor er schließlich doch noch bemerkt wurde. Ein letzter langer Blick auf Potter, dann schlich er leise wie sein Schatten davon. Ein Stück hinein in die Dunkelheit der Bäume, bevor er abermals seinen Zauberstab zückte. Auf einmal war er so unglaublich erschöpft und fertig, obwohl er nicht einmal viel getan hatte. Doch gegen den Wirbel der Gefühle, der in diesem dunklen Wald unaufhaltsam in ihm aufgestiegen war und ihn hilflos mit sich gerissen hatte, war der vertraute Wirbel aus Finsternis, der ihn jetzt gierig verschlang, nichts. Und als Severus in seinem Büro in Hogwarts wieder auftauchte, dessen milde Wärme im Vergleich zur eisigen Kälte draußen fast schon ein Schock war, verspürte er nur noch das dringende Bedürfnis, sich sofort ins Bett fallen zu lassen und seine aufwühlenden Gedanken im Schlaf zu ertränken.
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