von LunaYazz
Die untergehende Sonne, die sich wie ein flammend oranger Feuerball im Schwarzen See spiegelte, tauchte das Schulleiterbüro von Hogwarts in ihren warmen Schein. Severus saß auf seinem thronartigen Stuhl am Schreibtisch und las mit gerunzelter Stirn den Abendpropheten vom 1. Mai 1998.
Potter bei Gringotts eingebrochen, lautete die Schlagzeile auf der Titelseite, und darunter prangte ein halbseitiges, bewegtes Schwarz-Weiß-Foto von einem Drachen, der seinen gewaltigen, narbenübersäten Kopf mühelos durch das stählerne Tor von Gringotts brach, hinaus in die Winkelgasse wankte und sich mit ein paar Schlägen seiner mächtigen Schwingen in die Lüfte erhob. Fest an seinen Rücken geklammert, ihre Umhänge im Wind der Flügelschläge der Bestie flatternd, waren unverkennbar niemand anderes als Potter, Weasley und Granger.
In dem Artikel hieß es:
Kürzlich wurde gemeldet, dass Harry Potter zusammen mit Ronald Weasley, Sohn von Arthur Weasley, und der schlammblütigen Hermine Granger ein Hochsicherheitsverließ der Gringotts-Bank ausgeraubt hat. Sie haben sich anscheinend mithilfe von Vielsaft-Trank und dem Imperius-Fluch Zugang verschaffen. Anschließend sind sie auf dem Rücken des Drachen, der die Verließe bewacht hatte, geflohen und haben dabei eine Spur der Zerstörung hinterlassen. Die jungen Magier sind damit die ersten, denen ein Raub bei Gringotts geglückt ist. Sowie wir genauere Informationen über diese kriminelle Tat erhalten, werden wir sie selbstverständlich veröffentlichen.
Nach wie vor ist ein jeder, der etwas über den momentanen Aufenthaltsort von Harry Potter weiß, verpflichtet, es dem Ministerium mitzuteilen. Das Kopfgeld auf Potter wurde nun auf 15.000 Galleonen erhöht.
Severus starrte ungläubig auf die Titelseite. Warum in aller Welt brach Potter bei Gringotts ein? Es wurde nicht erwähnt, was er gestohlen hatte – leider… Severus konnte sich keinen Reim darauf machen, weshalb der Junge für seine Mission etwas aus einem Hochsicherheitsverließ der Zaubererbank benötigen könnte. Was hatte sich er, der meistgesuchteste Zauberer Englands, dabei gedacht, am helllichten Tage in den wohl am schärfsten bewachten Ort des Landes einzubrechen? Er konnte von großem Glück reden, dass er noch lebte…
Severus legte die Zeitung weg und sah gedankenversunken aus dem Fenster, in den nun blutroten Himmel, an dem vereinzelt wie in Feuer getränkte Wolken vorbeischwebten. Die letzten Wochen und Monate waren Tag für Tag in demselben eintönigen, einsamen, tristen Trott vergangen. Der Frühling war gekommen und hatte Schnee und Kälte vertrieben, es war wärmer geworden, während die Lage in der Zaubererwelt sich mehr und mehr verdüsterte.
Als Schulleiter hatte er weitaus weniger zu tun, als er gedacht hätte. Und so hatte Severus jede Menge Zeit, zu viel Zeit zum Nachdenken. Seine Gedanken schweiften oft zum Spiegel Nerhegeb und dem, was er im Tagebuch Christopher Morgans gelesen hatte, eine schmerzliche Quelle des Trosts, während die Welt um ihn herum im Chaos versank, in einer Schule, die sich nun endgültig seiner Kontrolle entzogen zu haben schien. Tatsächlich waren viele Schüler einfach spurlos verschwunden, und Severus konnte das ebenso wenig begreifen wie die Carrows. Als erster war Neville Longbottom plötzlich nicht mehr zu finden gewesen, der sich zuvor so hartnäckig gegen die beiden Todesser zur Wehr gesetzt hatte, damals, als seine Freunde Lovegood und Weasley ihm noch zur Seite standen. Er hatte sich von allen am leichtsinnigsten verhalten, was Severus ziemlich wütend gemacht hatte. Wie sollte er ihn schützen, wenn er die Carrows ständig so provozierte? Longbottom, wie Potter Ende Juli geboren, von Eltern, die dem Dunklen Lord drei Mal die Stirn geboten hatten, wäre der Auserwählte gewesen, wenn Voldemort selbst sich damals nicht Potter ausgesucht hätte. Hätte Voldemort ihn gewählt, dann würde Lily noch leben. Der einzige Grund, warum Neville Longbottom am Leben war, war ihr Tod. Und so spürte Severus jedes Mal, wenn er den Jungen ansah, eine heiße Wut in sich aufsteigen, fast so heftig wie die auf Harry Potter, den Menschen, für den Lily tatsächlich ihr Leben gegeben hatte. Aber dennoch schauderte es ihn, wenn er mit ansehen musste, wie die Carrows ihn wieder und wieder verletzten. Bis er eines Tages einfach fort gewesen war und nicht mehr wiederkam.
Nach und nach waren ihm viele Schüler gefolgt, hauptsächlich Gryffindors, alles Widerstandskämpfer. Einerseits war Severus froh darüber; er befürchtete, wenn die Carrows diese Unruhestifter in die Finger kriegen würden, würden sie ihre Abmachung vergessen, nicht unnötig magisches Blut zu vergießen und sie kurzerhand umbringen. Andererseits schien ihm all dies einfach über den Kopf zu wachsen, er fühlte sich machtlos und den Umständen seltsam ausgeliefert.
Und dieser Zeitungsartikel über Potter setzte all dem die Krone auf. Wie sollte er auf ihn aufpassen, wenn er nie wusste, wo er war, was er gerade Riskantes und Unsinniges tat? Zum wiederholten Male hatte Severus gerade aus zweiter Hand erfahren, dass Lilys Sohn in tödlicher Gefahr geschwebt hatte und nur knapp entronnen war.
Einige sonnige, einsame Wochen war es nun her, dass Voldemort seinen Todessern mitgeteilt hatte, Harry Potter wäre von Greifern gefangen und ins Hause Malfoy entführt worden. Und warum? All dies bloß, weil er in seiner unsäglicher Arroganz den Namen des Dunklen Lords aussprechen musste, obwohl doch allseits bekannt war, dass auf ihm ein Fluch lag. Nur mithilfe des Hauselfs Dobby waren er und seine Freunde schließlich noch entkommen. Zudem hatte Voldemort durchsickern lassen, dass er Wurmschwanz töten musste, weil er ihm Untreue erwiesen hatte. Untreue… Das passte nur zu gut… Jetzt hatte zumindest einer die gerechte Strafe für seine Taten erhalten…
Severus erinnerte sich an einen sternenklaren Abend vor fast vier Jahren zurück, als sei er gestern gewesen. Der Abend, an dem er besorgt und beunruhigt allein in die Heulende Hütte geeilt war, nachdem er Potters Tarnumhang vorm Eingang zum Tunnel liegen gesehen hatte. Drinnen hatte er Sirius Black vorgefunden und das kalte und grimmige Verlangen nach Rache an dem Mann, an dem widerlichen Kerl, der Lily so gut gekannt und sie dennoch wissentlich verraten hatte, hatte ihn gepackt. Und dieser dubiose Lupin… allem Anschein nach war er schon immer auf Blacks Seite gewesen, hatte vermutlich damals auch von seinem Verrat gewusst und geschwiegen, keine Versuche unternommen, .Lily und James zu warnen... All ihre Beteuerungen, dass Peter Pettigrew noch am Leben und der eigentliche Verräter sei, hatte Severus als Unsinn abgetan, nicht einmal einen Gedanken daran verschwendet. Black und Lupin, die schon in ihrer Schulzeit versucht hatten, ihn wegen Lappalien hinterhältig zu ermorden, denen hatte er einen kaltblütigen Verrat viel mehr zugetraut als diesem kümmerlichen Mitläufer Pettigrew. Doch er hatte sich geirrt, die Beiden hatten damals tatsächlich die Wahrheit gesprochen. Und so hatte fast ein Unschuldiger den Kuss des Dementors gespürt und der eigentliche Täter war entkommen. Hatte bis zu jenem Tage weiterhin sein schmutziges Spiel getrieben. Bis er ermordet worden war von dem Menschen, den Severus am allermeisten hasste, in dessen blutroten Augen sich die ganze brennende Wut zu spiegeln schien, die sein Herz wie ein eiserner Käfig gefangen hielt… Der Mensch, vor dem Severus stets den unterwürfigen Diener spielen und all seinen Hass in sich verschließen musste, hinter seiner jahrelang bewährten emotionslosen Maske…
„Worüber grübelst du nach, Severus?“
Severus wirbelte erstaunt, leicht erschrocken herum, als er die verhasste, hohe kalte Stimme plötzlich direkt hinter sich hörte. Und da stand Lord Voldemort vor ihm in seinem Büro, ein Ausdruck von zorniger Anspannung zeichnete sein knochenbleiches Gesicht. Nagini, seine riesige Schlange, hing über seinen Schultern und starrte Severus mit ihren stechend gelben Augen böse an.
„Mein Herr“, meinte er etwas perplex, erhob sich von seinem Schreibtischstuhl und machte hastig einen kleinen Knicks. „Mein Herr, was führt Euch hierher?“
Der Dunkle Lord schien durch ihn hindurch zu blicken, seine Gedanken schienen nicht wirklich in diesem kreisrunden Büro zu verweilen, sondern bereits weit voraus zu eilen, an ferne Orte, an die Severus ihm nicht folgen konnte. Der Blick von Voldemorts roten Augen, in denen sich das gleißende Licht des Sonnenuntergangs spiegelte, fand erst nach einigen langen Momenten den Seinen.
„Hör zu.“
Sein lippenloser Mund zitterte, als er redete. Severus hatte ihn noch nie so abwesend und aufgewühlt und irgendwie so verstört, ängstlich erlebt und fragte sich jäh, was ihn wohl dermaßen beunruhigte.
„Es geht um Harry Potter“, sprach Voldemort vor mühsam beherrschtem Zorn schier bebend weiter und augenblicklich hielt Severus gespannt den Atem an. Was hatte er ihm über Potter zu sagen?
„Der Junge könnte versuchen, in Hogwarts einzudringen, und du musst darauf vorbereitet sein.“
„Hier einzudringen?“ fragte Severus vollkommen entgeistert. „Herr, warum-“
„Das sollte nicht dein Interesse sein“ sagte Voldemort in einem Tonfall, der Severus wissen ließ, dass er lieber nicht weiter fragen sollte. „Ich habe den Carrows befohlen, dass sie unverzüglich beginnen sollen, in der Schule zu patrouillieren und Ausschau nach Harry Potter zu halten. Meine Todesser überwachen zwar bereits Hogsmeade und die Eingänge zur Schule, so dass ich es eigentlich für nicht sehr wahrscheinlich halte, dass Potter überhaupt hereinkommt, doch auch der Fall muss bedacht werden. Alecto hält Wache im Gemeinschaftsraum der Ravenclaws, denn ich habe den Verdacht, dass der Junge versuchen könnte, dort herein zu kommen. Amycus patrouilliert in den Korridoren. Du wirst den Eingang zum Gryffindor-Gemeinschaftsraum bewachen, falls Potter versuchen sollte, seine alten Freunde um sich zu scharen. Mache dich sofort auf den Weg. Und wenn du den Jungen haben solltest, rufe mich augenblicklich!“
„Mein Herr“, sagte Severus reichlich überrumpelt. „Meint Ihr denn, der Junge könnte heute-“
„Ich weiß es nicht“ zischte Voldemort und seine feuerroten Augen loderten. Nagini ringelte sich züngelnd um seinen Hals. „Es wäre möglich.“
„In Ordnung, Herr, dann werde ich jetzt-“
„Sofort!“
„Ja, mein Herr, selbstverständlich.“
Voldemort nickte kurz, dann zückte er seinen Zauberstab. Severus bemerkte, dass er einen neuen besaß, knorrig und aus glänzendem, dunklem Holz, der Dumbledores erstaunlich ähnlich sah. Einen Wimpernschlag darauf war er mit einem leisen Plopp in einer gräulich schimmernden Rauchwolke verschwunden und ließ Severus ziemlich irritiert und mit dem Kopf voll rasend umher wirbelnden Gedanken zurück.
Die Nacht hatte sich über Hogwarts gelegt wie ein samtschwarzes Tuch. Severus stand vor dem tief schlafenden Portrait der fetten Dame und spähte stumm und starr wie eine Statue in die Dunkelheit. Auf jede Bewegung achtete, auf jedes Geräusch horchte er. Sich selbst hatte er mit einem Desillusionierungszauber belegt, war mit den Schatten verschmolzen.
Es war ihm am vernünftigsten erschienen, Voldemorts Anweisungen zu befolgen und am Eingang zum Gemeinschaftsraum der Gryffindors Wache zu halten. Wenn Potter tatsächlich in die Schule eindringen sollte, hielt Severus es für wahrscheinlich, dass er hier her kam. Freilich wusste er nicht, was Potter bei den Ravenclaws wollen könnte. Er wusste überhaupt nicht, was er in Hogwarts suchte. All das war ihm schleierhaft, und Dumbledores Portrait sträubte nach wie vor beharrlich, Severus irgendetwas über die Mission mitzuteilen, die er Potter aufgetragen hatte. Er meinte, er habe eine ziemlich sichere Vermutung, was Harry Potter in die Schule führte, würde es aber nicht für notwendig halten, ihm diese mitzuteilen. Severus schluckte die heiße Welle der Wut herunter, die wie kochendes Wasser in ihm zu brodeln begann. Warum weigerte sich dieses Gemälde –das ohne Frage den Charakter von Albus Dumbledore besaß, mitsamt seiner übertriebenen und fast schon beleidigenden Verschwiegenheit– noch immer, ihm auch nur das kleinste Fünkchen an Informationen zu geben? Es schien so, als vertraue er ihm nicht voll und ganz. Selbst jetzt nicht, nachdem er ihm den größten aller Dienste erwiesen hatte. Was durfte er nicht wissen? Severus hatte tausend Theorien, eine unsinniger als die andere.
Severus blickte in den dunklen Gang und überlegte. Falls Potter sich wirklich hier vorbei und in den Gemeinschaftsraum schleichen sollte, dann würde er ihm unauffällig folgen. Um ihn zu bewachen, im Auge zu behalten. Und um vielleicht endlich selbst herauszufinden, was der Junge vorhatte. Vermutlich wäre er unter seinem altbewährten Tarnumhang verborgen, dann würde es etwas schwierig sein, ihn zu verfolgen…
Ein eiskaltes Schaudern erfasste ihn, wenn er daran dachte, was geschehen würde, wenn die Carrows oder einer der Todesser, die an den Eingängen zur Schule und in Hogsmeade stationiert waren, Potter in die Hände kriegen würden. Dann musste er dazwischen gehen, sagte er sich wieder und wieder grimmig. Er würde es augenblicklich in seinem Dunklen Mal spüren, wenn jemand Potter geschnappt hätte, Voldemort rief. Wie ein düsterer Film flackerte vor seinem inneren Auge auf, wie er den Jungen packte und mit ihm floh, es mit jedem Todesser, der versuchte, ihn daran zu hindern, aufnahm, mit Voldemort selbst, falls es sein musste. Alles würde er riskieren, seine Tarnung auffliegen lassen, wenn es nötig war, um Lilys Sohn zu schützen. Er durfte nicht umsonst sterben, sie durfte nicht umsonst gestorben sein. Ihr Mörder sollte seine verdiente Strafe bekommen, ihr Tod endlich gerächt werden. Und Lord Voldemorts grausame Herrschaft musste um jeden Preis beendet werden… Diese wild entschlossenen Gedanken durchfuhren Severus wie kaltes Feuer, während er allein in dem finsteren Korridor stand.
Severus vernahm ein leises Rascheln in der Dunkelheit. Blitzschnell zückte er seinen Zauberstab und dachte fest „Homenum revelio!“, doch nichts geschah. Es schien niemand in der Nähe zu sein.
Er lauschte angespannt, doch er konnte nichts mehr hören. Vermutlich war es nur eine Maus gewesen, dachte Severus. Er wollte seinen Zauberstab gerade wieder in die Innentasche seines Umhangs stecken – da durchzuckte ein Schmerz von glühender Intensität seinen linken Unterarm wie ein brennender Blitz. Er sog scharf Luft ein. Sein Herz schien einige Schläge lang auszusetzen, dann pochte es wie wild, so stark und schmerzhaft wie sein Dunkles Mal.
Voldemorts Anweisungen waren klar gewesen.
Ruft euren Herrn nur herbei, wenn ihr Harry Potter habt.
Ein Todesser hatte ihn gerufen.
Ein Todesser hatte Potter.
Severus schloss krampfartig die Augen und konzentrierte sich auf den Ruf des Mals, dass in seine Haut gebrannt war. Für einen Moment flammte Alecto Carrows dickliche Gestalt vor seinem geistigen Auge auf. Vor einer steinernen Wand stand sie, die mit blau-bronzen schillernden Bannern verhangen war. Ein hämisches Grinsen in ihrem teigigen Gesicht, presste sie einen stummeligen Zeigefinger auf die Schlange und den Totenkopf, die auf ihren Unterarm tätowiert waren.
Severus riss die Augen wieder auf und rannte ohne auch nur einen Herzschlag lang zu zögern so schnell wie er konnte los, in Richtung Ravenclaw-Gemeinschaftsraum.
In diesem Moment hörte sein Mal so plötzlich auf zu brennen, wie es angefangen hatte und er hielt überrascht inne. Er konzentrierte sich abermals angestrengt auf sein Dunkles Mal, doch er konnte es nicht mehr spüren. Er fragte sich jäh mit einem Anflug von Hoffnung, ob jemand Alecto angegriffen, bewusstlos gemacht hatte. Doch selbst wenn, Voldemort musste diesen Ruf ebenso erhört haben wie Severus… War er bereits auf dem Weg nach Hogwarts?
Er musste Potter finden. Er musste ihn so schnell wie möglich in Sicherheit bringen – verstecken – als Schulleiter konnte er mit ihm disapparieren –
Er jagte steinerne Treppen herunter, schier endlose Treppen empor, finstere Korridore entlang, die nur vom Schein weniger züngelnder Fackeln schwach und gespenstisch erleuchtet wurden. Sein Mund war staubtrocken, sein Herz hämmerte im Takt seiner hastigen Schritte schmerzhaft gegen seine Brust.
Als er fast die Wendeltreppe zum Ravenclaw-Turm erreicht hatte, drangen die dumpfen, hallenden Geräusche anderer Schritte an seine Ohren.
Abrupt machte Severus Halt und huschte hinter eine schwere Rüstung. Er spähte ins Dunkle und konnte am Ende des Gangs die Silhouette einer Gestalt erkennen, die eiligst näherkam. Als er im rubinroten Licht einer Fackel erkannte, wer es war, beschloss er in einem plötzlichen Impuls, dass es das Beste sei, sich ihr zu zeigen. Ihm fiel jäh ein, dass er unsichtbar war, also tippte er sich mit dem Zauberstab leicht auf den Kopf und der Desillusionierungszauber löste sich wie in einem sprudelnden Schwall heißen Wassers auf.
„Wer da?“ fragte Minerva McGonagall scharf und blieb mit kampfbereit erhobenem Zauberstab stehen.
„Ich bin es“ antwortete Severus leise und trat hinter der Rüstung hervor. „Wo sind die Carrows?“ fügte er bemüht ruhig hinzu, während sein Herz sich anfühlte wie ein gefangener, heftig rebellierender Vogel.
„Vermutlich dort, wo immer Sie die beiden auch hinbefohlen haben, Severus“ antwortete McGonagall barsch, doch in ihrer Stimme lag auch etwas nervöses, ängstliches, als hätte sie etwas zu verbergen, das Severus aufhorchen ließ.
Severus´ Blick huschte durch die Luft und er fragte sich mit angehaltenem Atem, ob Potter wohl bei ihr war, unter seinem Tarnumhang verborgen.
„Ich hatte den Eindruck“ sagte er langsam und sah McGonagall dabei forschend an, „dass Alecto Carrow einen Eindringling gefasst hätte.“
„Tatsächlich? Und was vermittelte Ihnen diesen Eindruck?“
Severus winkelte zur Antwort leicht seinen linken Arm an.
„Oh, aber natürlich“ schnaubte McGonagall. „Todesser wie Sie haben ihre ganz eigenen Mittel und Wege, miteinander in Verbindung zu treten, das hatte ich vergessen.“
Severus ließ sich nicht auf sie ein. Die Zeit rann ihm davon. Er ließ seinen Blick durch den schattigen Gang schweifen, all seine Sinne auf das kleinste Anzeichen von Potter gespannt.
„Ich wusste nicht, dass Sie heute Nacht an der Reihe sind, in den Korridoren zu patrouillieren, Minerva.“ sagte er scharf.
„Haben Sie etwas dagegen einzuwenden?“
„Ich frage mich, was Sie zu so später Stunde aus dem Bett geholt haben könnte.“
„Ich dachte, ich hätte eine Ruhestörung vernommen.“ erwiderte sie abweisend.
„Wirklich? Aber es scheint alles still zu sein.“
Nun sah er in ihre Augen und versuchte angestrengt, durch diese wie durch blassgrüne Fenster in ihre Gedanken zu schauen. Doch es war, als hätte die Hauslehrerin von Gryffindor eine meterdicke, steinerne Mauer um ihren Kopf gezogen, die ihn nicht durchließ.
„Haben Sie Harry Potter gesehen, Minerva?“ sagte Severus und sah sie weiterhin aufmerksam an. „Wenn ja, muss ich nämlich darauf bestehen…“
Professor McGonagall reagierte blitzschnell. Ihr Zauberstab peitschte zornig durch die Luft und im nächsten Moment fegte ein gewaltiger Schwall eiskalter, silbrigblau schimmernder Energie schnell auf Severus zu. Im allerletzen Moment konnte er ihn noch mit einem Protego abblocken, und der Fluch zerbarst mit einem ohrenbetäubenden Brausen an seinem Schild. McGonagall wurde taumelnd zurückgeworfen.
Obwohl ihr Zauber eine eisige Gänsehaut auf seinen Armen hinterlassen hatte, obwohl die mächtige Hexe bereits zu ihrem nächsten Schlag ausholte, durchströmte die Erleichterung Severus wie eine riesige Welle wohltuend warmen Wassers. Denn diese heftige Reaktion McGonagall’s konnte nur eines bedeuten: Harry Potter war tatsächlich bei ihr, er war Alecto wirklich entkommen!
Professor McGonagall hatte das Feuer aus einer flackernden Fackel an der Wand in einen lodernden Flammenring verwandelt, der wie ein brennendes Lasso auf Severus zuflog. Doch bevor er ihn versengen konnte, dachte er fest Serpensortia und das Feuer verwandelte sich in eine große, pechschwarze Schlange, die sich bedrohlich züngelnd aufrichtete und dann regungslos verharrte, auf einen Befehl ihres Erschaffers wartend. Severus zögerte; einerseits musste er sich wehren, McGonagall war von Wut und Hass gepackt und er wusste, sie konnte äußerst gefährlich werden, wenn sie wollte. Andererseits hatte er nicht die Absicht, ihr, die bloß genauso Harry Potter beschützen wollte wie er, wirklich etwas anzutun. Die Lehrerin nutzte seinen kurzen Moment des Zögerns und zersprengte die Schlange zu Rauch, der sich in Sekundenschnelle zu einer Horde rasiermesserscharfer, silbern schimmernder Dolche verdichtete, die, tödlich und schnell wie Pistolenkugeln, auf Severus zuschossen. Er riss sich die Rüstung, hinter der er sich versteckt hatte, als Schild vor seinen Körper und laut und metallisch klirrend bohrten sich die Dolche, einer nach dem anderen, in deren eiserne Brust statt in seine.
Severus stieß erschrocken Luft aus, bestürzt über die Tatsache, dass seine alte Kollegin ihn gerade töten wollte.
„Minerva!“ hallte in diesem Moment eine quiekende Stimme durch den Korridor, und da sah Severus die Professoren Flitwick und Sprout in ihren Nachthemden im Schein der Fackeln auf sie zu rennen. Der gewaltige Professor Slughorn hastete keuchend hinter ihnen her, Schweißperlen im Gesicht.
„Nein!“ quiekte Flitwick zornig und hob seinen Zauberstab wie ein Schwert gegen Severus. „Sie werden hier in Hogwarts nicht weiter morden!“
Ein gleißend heller Lichtstrahl aus seinem Stab traf die Rüstung, hinter der sich Severus noch immer verbarg, und sie erwachte scheppernd zum Leben. Sie klammerte ihre metallenen Arme fest wie eine Zange um seine Brust – quetschte ihn schmerzhaft – würgte ihm die Luft ab…
Keuchend packte er die Hände der Rüstung und kämpfte sich mit aller Kraft frei. Er ließ sie mit einem Zauberstabschlenker von sich fort und in rasender Geschwindigkeit auf seine Angreifer zu fliegen, die nach allen Seiten auseinanderstoben, als sie dem schweren Geschoss auswichen – Und er ergriff den kurzen Augenblick der Ablenkung und floh, spurtete auf die angelehnte Tür eines Klassenzimmers am Ende des Gangs zu. Was brachte es, wenn er weiter kämpfte? Wenn er nun gegen vier mächtige Magier antrat? Potter war bei den Lehrern in bester Obhut, und dieses Gefecht raubte ihm nur unnötig wertvolle Zeit, um sich in Sicherheit zu bringen.
Severus stürmte hastig durch die Tür, McGonagall, Flitwick und Sprout dicht auf den Fersen, überblickte im Bruchteil einer Sekunde den düsteren Raum, der nur vom silbernen Mondlicht schwach erhellt wurde, das durch vereinzelte große Fenster in der steinernen Wand flutete – er zögerte eine weitere Millisekunde, dann donnerte er geradewegs auf eines der Fenster zu, schloss fest die Augen und krachte in voller Geschwindigkeit mitten durch das Glas. Scherben splitterten um ihn herum wie gläserne Klingen, schrammten ihn schmerzhaft, er spürte warmes Blut über sein Gesicht und seine Hände rinnen und er stürzte kopfüber in die Nacht.
Ein heftiger Luftzug umblies ihn, ein flaues Gefühl erfasste seine Eingeweide wie eine eiskalte Klaue, er riss die Augen auf und sah den grasbewachsenen Hang auf sich zukommen, dem er rasend schnell entgegen fiel, und er umklammerte fest seinen Zauberstab und schrie entschlossen die Formel , die er aus den Notizen Christopher Morgans kannte, doch die er nie zuvor ausprobiert hatte: „VOLUCERCORPUS!“
Knapp zwei Meter über dem Boden kam er in der Luft zum Stehen, als hätte ihn eine unsichtbare, watteweiche Hand aufgefangen. Dort blieb er in der Schwebe, Arme und Beine ausgestreckt, mit dem Gesicht zu Boden. Er zögerte, unschlüssig, was er nun tun sollte, dann winkelte er in einem plötzlichen Impuls die Arme ein wenig nach oben an und augenblicklich schwebte er ein kleines Stück höher. Jetzt streckte er sie in dem Versuch, weiter nach oben zu kommen, lang gen Himmel und im selben Moment glitt er so geschwind empor, dass sein Magen rebellierte. Vorbei an dem zerbrochenen Fenster, aus dem er gesprungen war und hinter dessen zersplitterter Scheibe er aus dem Augenwinkel Professor McGonagall sehen konnte, die ihm zornig nachstarrte, höher als die knospenden Wipfel der knorrigen Bäume auf dem Gelände und die peitschenden Äste der alten Weide, höher als das verwitterte Schloss – er riss die Arme hastig wieder herunter und blieb hoch in der Luft ruckartig stehen, um ihn herum nur die samtschwarze Nacht. Er zuckte mit seinen Händen leicht nach hinten und nahm so augenblicklich eine geradere Flughaltung an. Dann streckte Severus sie, seine neu entstandenen Schwingen, mit denen er nun wusste zu fliegen, weit nach vorne.
Und er flog, schnell durch den tintenfarbenen, mit einem silbernen Sternenvlies verhangenen Himmel. Der Wind peitschte ihm ins Gesicht, wehte durch sein Haar und ließ seinen Umhang flattern. Das Schloss ließ er mit jeder Sekunde weiter hinter sich zurück.
Er segelte über den Schwarzen See, über dessen glatte Oberfläche gurgelnd der Riesenkrake hinweg schwamm, und als er bemerkte, dass er geradewegs auf die Grenzmauer zu flog, winkelte er fast schon völlig automatisch seinen rechten Arm an und zog hoch über dem Wasser weit auslaufende Kreise. Er ließ seinen Blick über das dunkle Gelände schweifen und überlegte, wo er landen sollte. Die Flauheit in seinem Magen war verschwunden und es war, als sei dies das Natürlichste auf der Welt, als sei er schon immer so geflogen. Es wäre ein berauschendes, beglückendes Gefühl gewesen, wenn Severus´ Herz nicht in einem stählernen Griff aus Sorge und Angst gefangen gewesen wäre, der ihn nicht mehr losließ, seit sein Dunkles Mal gebrannt hatte.
Er entschied sich, bei Hagrids verlassener Hütte am Rande des Verbotenen Walds zu landen. Geschwind glitt er in Richtung der dunklen Baumwipfel, dann senkte er langsam seine Arme gen Boden und schwebte sanft hinab auf den schattigen Wiesengrund, landete weich auf seinen Füßen.
Er blickte hinauf zum düsteren Schloss und stieß einen nervösen Seufzer aus.
Wie lange würde es dauern, bis Voldemort kam, um Potter zu holen? Würde der Junge versuchen zu fliehen oder würde er bleiben und sich furchtlos und leichtsinnig bemühen, seine Mission erfüllen, es vielleicht sogar als gute Gelegenheit ansehen, sich dem Dunklen Lord zu stellen?
Severus wusste es nicht… Es machte ihn verrückt, dass er nichts tun konnte, nichts, außer zu warten.
Er sah angespannt in die Dunkelheit.
In den fernen, hohen bogenförmigen Fenstern der Großen Halle flackerte nun Licht auf, das goldgelbe Licht tausender und abertausender Kerzen, die mit einem Mal entzündet wurden. Die Silhouetten vieler Schüler huschten eiligst hinter dem rauen Glas umher, wie hastige Ameisen in einem nervösen Impuls. Bis keine Bewegung mehr zu sehen war und sie zweifellos an den Tischen Platz genommen hatten. Severus fragte sich, was dort drüben in der Halle besprochen wurde. Machten sie sich bereit, Voldemort abzuwehren? Doch er konnte nichts hören, und so trat er langsam und vorsichtig näher, aus den Schatten des Waldes hinaus und den grasbewachsenen Hang hinauf.
Als plötzlich eine hohe, klare, kalte Stimme ohrenbetäubend laut durch die Nacht hallte.
Sie schien von überall her zu kommen, aus der kühlen Luft, aus den Tiefen des Sees, aus dem Boden, der auf einmal erzitterte wie bei einem kleinen Erdbeben.
„Ich weiß, dass ihr euch bereitmacht zum Kampf.“ sprach Lord Voldemorts Stimme. „Eure Bemühungen sind zwecklos. Ihr könnt mich nicht besiegen. Ich will euch nicht töten. Ich habe Hochachtung vor den Lehrern in Hogwarts. Ich will kein magisches Blut vergießen.“
Einen Herzschlag lang herrschte drückende Stille, als hätte sich eine Glasglocke der Anspannung über das Gelände gelegt, dann fuhr er fort:
„Gebt mir Harry Potter und keinem soll ein Leid geschehen. Gebt mir Harry Potter und ich werde die Schule unversehrt lassen. Gebt mir Harry Potter und ihr sollt belohnt werden. – Ihr habt Zeit bis Mitternacht.“
Seine Worte hallten in der Finsternis wieder wie ein grausiges Mantra. Severus sah sich wie gelähmt nach dem Besitzer der Stimme um. Er ließ seine Augen über die Ländereien schweifen und sein Blick blieb am Eingang von Hogwarts hängen. Dort, hinter dem schmiedeeisernen, von geflügelten Ebern flankierten Doppeltor, stand der Dunkle Lord und sah zum Schloss hoch. Und selbst auf diese Entfernung konnte Severus deutlich das eiskalte Lächeln erkennen, das sein brutales Gesicht verzerrte.
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