von LunaYazz
Severus fühlte sich, als sei er zu einer Statue aus eiskaltem Stein erstarrt. Lord Voldemorts Worte hallten in seinem Kopf wieder und schnürten ihm den Atem zu. Es brauchte mehrere Schläge seines heftiger und verzweifelter denn je pochenden Herzens, bis seine Beine ihm wieder gehorchten. Dann eilte er ohne zu zögern mit großen Schritten den grasbewachsenen Hang hinab. Am Ufer des Schwarzen Sees entlang, der ruhig in der windstillen Nacht da lag und in dem sich der Mond wie eine silbern leuchtende Kristallkugel spiegelte, hastig auf das Eingangstor zum Gelände zu.
Voldemort sah ihn überrascht an, als er ihn erblickte. Nagini, die sich zu seinen Füßen eingerollt hatte, richtete sich leise und bedrohlich zischelnd auf und ihre starren, gelben Augen funkelten wachsam.
„Mein Herr“ sagte Severus mechanisch, kam vor dem Eingangstor zum Stehen und machte eine kleine, nervöse Verbeugung. „Mein Herr–“ Ohne recht zu wissen, was er eigentlich sagen wollte, blickte er durch die stählern glänzenden, dicken Stäbe des schmiedeeisernen Tors in das perlweiße Gesicht des Dunklen Lords, das in der Dunkelheit eigenartig schimmerte.
„Severus“ unterbrach ihn Voldemort scharf, „Hast du Alecto Carrow gesehen?“
„Nein“ antwortete er aufrichtig. Er bemerkte, dass seine Stimme blechern und leer klang.
Die glutroten Augen schweiften nachdenklich zum Schloss hinauf.
„Sie muss bewusstlos sein… vielleicht tot… sonst wäre der Ruf nicht so plötzlich unterbrochen wurden…“ zischte Voldemort, mehr an sich selbst gerichtet als an Severus. Dann wandte er sich wieder ihm zu. „Weißt du, wo Harry Potter ist? Was tust du hier draußen?“
„Nein, ich weiß es leider nicht, Herr“ log er rasch. „Ich habe den Ruf des Mals gespürt und bin in Richtung Ravenclaw-Gemeinschaftsraum geeilt, um Alecto zu Hilfe zu kommen. Doch dann…“ Er beschloss, die Geschichte ein wenig zu verbiegen. Er durfte nicht sagen, dass Potter in seiner Reichweite gewesen war und er dennoch geflohen ist, ohne auch nur zu versuchen, ihn zu ergreifen. „Doch dann kamen mir alle vier Hauslehrer in den Weg. Ich setzte einen Aufspürungszauber ein, um herauszufinden, ob Potter vielleicht unter seinem Tarnumhang bei ihnen war. Er war es aber nicht. Mein Versuch, ihn zu finden jedoch hat die Lehrer so wütend gemacht, dass sie mich ohne ein weiteres Wort angegriffen haben. Sie waren in der Überzahl. Ich sah mich gezwungen zu fliehen. Ich bin durch ein Fenster gesprungen… ich habe einen Zauber erlernt, mich in der Luft zu halten… Und ich hatte vor woanders wieder in das Schloss einzudringen, doch da habe ich Eure Stimme gehört und bin zu Euch gekommen, in der Hoffnung, Euch vielleicht nützlich sein zu können…“
Er machte abermals einen kleinen Knicks.
Voldemort sah nicht Severus an, als er nun sprach; sein Blick war wieder auf das hell erleuchtete Schloss Hogwarts gerichtet.
„Sie haben dich angegriffen… weil sie wussten, wo der Junge ist… Natürlich…“
„Ja, das denke ich auch.“ meinte Severus knapp. Was machte es aus, wenn er das, was sein Meister ohnehin schon wusste, bestätigte? Er zögerte einen kurzen Augenblick dann sah er Voldemort fest in seine blutroten Augen und fragte forschend: „Mein Herr, denkt Ihr, sie werden Potter ausliefern–“
„Sie werden.“ unterbrach ihn Voldemort und ein eiskaltes Lächeln kräuselte seinen lippenlosen Mund. „Sie werden. Ich kenne die Menschen, Severus. Ihr eigenes Leben wird ihnen wichtiger sein als das Potters, wichtiger als das Leben ihres Freundes und Verbündeten, als das Überleben des auserwählten Jungens, wenn nur sie in diesem Moment der Gefahr entgehen können. Vor Mitternacht werden sie ihn zu mir bringen.“
„Ich verstehe“ sagte Severus hastig. Den Bruchteil einer Sekunde später, und er bemerkte, dass seine Stimme seltsam leer und tonlos klang, stellte er die nächste Frage, deren Antwort er so fürchtete: „Und was, falls sie ihn nicht ausliefern sollten?“
„Nun, dann wird es ernst für sie.“ entgegnete Voldemort nüchtern und etwas Stählernes lag plötzlich in seiner Stimme. „Wenn sie mir um fünf vor Mitternacht Potter noch nicht übergeben haben sollten, werde ich meine Todesser herrufen und wir werden das Schloss angreifen. Der Krieg wird herrschen, bis ich den Jungen kriege.“
Severus schluckte, zwang sich zu einer ausdruckslosen Miene und nickte stumm. Er überlegte krampfhaft, was er denn sagen könnte, um den Dunklen Lord seinen Plan noch einmal überdenken zu lassen. Einige lange Momente später dann startete er einen verzweifelten Versuch, ohne wirklich daran zu glauben, dass er zu etwas führen könnte: „Aber mein Herr –in diesem Falle– wäre es nicht besser, wenn ich, der auf dem Gelände apparieren kann, wieder ins Schloss eindringen und versuchen würde, den Jungen zu finden –ich denke mir bloß, in einem Krieg, da verlieren auch wir Leute, und es wäre doch äußerst nachteilhaft–“
„Nein“ sagte Voldemort bestimmt. „Nein, du wirst Potter nicht suchen. Das wäre nichts weiter als ein aussichtsloser Selbstmord. Und wenn es denn dazu kommen sollte, dann brauche ich einen mächtigen Zauberer wie dich im Kampf, Severus. Tausend Flüche würden augenblicklich auf dich losschießen, wenn du dort drinnen auch nur versuchen würdest, Harry Potter zu entführen. Ich selbst, wie du weißt, bin ebenfalls fähig, ins Schloss zu apparieren. Doch selbst Lord Voldemort würde wohl daran scheitern, dort vor den Augen all seiner Verbündeten den Jungen zu töten. Nein, zu denken, dass dieser Versuch gelingen würde, wäre naiv und unsinnig. Falls es tatsächlich einen Kampf gibt, würde es mich sehr wundern, wenn wir den Krieg bis zum Ende führen müssten… Wir werden uns bloß Potters größte, erbärmlichste Schwäche zunutze machen… Aber ich meine noch immer, dass sie ihn mir bringen werden, ohne dass wir auch nur einen Fluch aussprechen.“
„Das wäre das Beste.“ stimmte ihm Severus knapp zu, und fast war erstaunt darüber, dass ihm seine Stimme noch immer gehorchte. Inzwischen hoffte er selbst verzweifelt darauf, dass Potters Vertraute ihn ausliefern würden. Wenn sie ihn zum Eingangstor bringen würden, um ihn Voldemort zu geben, dann könnte Severus vielleicht eingreifen, so wie er es sich während der letzten Stunden wieder und wieder so entschlossen vorgestellt hatte. Doch ihn beschlich die ungute Ahnung, dass die Freunde und Unterstützer des Jungen ihn niemals dem Tod übergeben würden.
Severus sah den düsteren Hang hoch zum hell erleuchteten Schloss Hogwarts, das sich wie ein mächtiges, steinaltes Ungeheuer vorm sternenklaren Himmel abzeichnete. Das, wie es dort mit seinen vielen Zinnen und Türmen in die Dunkelheit emporragte, doch eigentlich so stark und unbezwingbar, so beständig, so unzerstörbar anmutete. Und sein Herz schien ihm vor Anspannung zu zerspringen.
Vom tiefschwarzen Schleier der Nacht verhüllt, starrte Severus nervös auf das dunkle Gelände von Hogwarts. Voldemort stand hinter ihm, durch die eisernen Stäbe des hohen Eingangstors von ihm getrennt, und all die Aufregung, die heiß durch Severus´ Adern pulsierte, schien sich in dem Gebaren seines Meisters wieder zu spiegeln. Ruhelos glitt sein Blick über die finsteren Ländereien, die roten Augen zu zornigen Schlitzen verengt, so starr und wortlos, als sei er versteinert. Severus konnte seine knisternde Ungeduld geradezu in der lauen Luft spüren und er wusste, in diesem einzigen Moment warteten, hofften er und der Dunkle Lord auf genau dasselbe: Darauf, dass in der Ferne eine Gruppe silhouettenhafter Gestalten den Hang herunterkommen würden, die Potter hielten -sich verzweifelt wehrend oder auch vollkommen resigniert, den Jungen auslieferten. Doch die Ländereien waren menschenleer, wie ausgestorben; kein Grashalm regte sich in dieser windstillen Nacht.
Es war jetzt bereits fünf nach halb zwölf, und niemand schien bisher auf den drohenden Befehl des Dunklen Lords zu reagieren.
Die Minuten verrannen wie Sand durch die Finger einer gewölbten Hand, und damit auch Severus´ Hoffnung. Ständig huschte sein Blick auf seine Armbanduhr. Zwanzig vor zwölf… viertel vor zwölf! Hinter ihm stieß Voldemort einen zischenden Seufzer aus und selbst Nagini schien wie erstarrt zu warten.
Noch fünf Minuten, bis das Limit des Dunklen Lords erreicht wäre. Severus´ Herzschlag ging im Takt des tickenden Sekundenzeigers seiner Uhr. Er blickte über seine Schulter zu seinem Herrn und er bemerkte ein stählernes Funkeln in Voldemorts kalten Augen.
Er suchte in einem letzten Rest Hoffnung noch einmal aufmerksam das Gelände ab, musterte es scharf, doch nichts. Ein flaues Gefühl hatte sich in seinem Magen breit gemacht, noch weitaus schlimmer als das bei seinem rasend schnellen Sturz aus dem Fenster.
Doch als bloß noch eine Minute übrig war, bevor Voldemort all seine Todesser herrufen würde, um Hogwarts anzugreifen, war dieses Gefühl einer beklemmenden, tauben Gewissheit gewichen. Severus zählte die verbleibenden Sekunden wie den Countdown einer Zeitbombe.
Tick… Tick… Tick… Nun war es fünf vor Mitternacht.
“Nun gut“ erklang Voldemorts leise, bedrohliche Stimme fast im selben Moment hinter ihm. „Nun gut. Ihr Schicksal lag in ihrer eigenen Hand. Niemand von ihnen hätte sterben müssen. Sie hätten bloß Lord Voldemorts Befehl befolgen und mir den Jungen überbringen sollen, und ich hätte alle anderen verschont. Doch sie haben es so gewollt. Severus“ fügte er scharf hinzu. „Strecke deinen linken Unterarm aus. Sofort.“
Severus schluckte leise und ballte seine linke Hand zur Faust, um sein Zittern zu verbergen. Dann wandte er sich zu seinem Herrn um. Er knöpfte seine Manschetten auf und krempelte seinen Ärmel hoch, mit grausamstem Widerwillen, jede Faser seines Körpers protestierte dagegen, doch blieb ihm eine andere Wahl? Er streckte seinen linken Arm durch die Gitterstäbe, entblößte Voldemort sein Dunkles Mal und der presste einen langen, knochendürren Zeigefinger darauf.
Ein stechender Schmerz durchfuhr Severus´ Arm im selben Augenblick, als hätte sein Herr ihn mit dieser Berührung in Brand gesetzt.
Sekunden später war die stille Luft von unzähligen kleinen Knallen erfüllt, als hätte jemand ein Feuerwerk entzündet. Auf die andere Seite des schmiedeeisernen Tores, an Voldemorts Seite, apparierte nach und nach ein Heer aus Todessern. Ihre vom silbernen Schein des Mondes fahl erleuchteten Gesichter, wenn sie nicht hinter einer metallen schimmernden Maske verborgen waren, waren gezeichnet von Verwirrung, viele sahen sich irritiert um, andere blickten ihren Herrn fragend an, in Bellatrix Lestrange’s dunklen Augen lag ein erwartungsvoller Ausdruck. Die Nacht war erfüllt von knisternder Anspannung, dann begann Voldemort leise und durchdringend zu sprechen.
“Potter ist in der Schule“ verkündete er mit blitzenden Augen. „Potter ist oben im Schloss, und ich habe seine Freunde und Vertraute gewarnt, ich habe ihnen befohlen, mir den Jungen bis Mitternacht auszuliefern, wenn sie verschont werden wollen. Sie haben meinen Befehl noch immer nicht befolgt, und nun werden sie die Folgen tragen müssen. Wir werden Hogwarts angreifen.“ Voldemort machte eine kurze Pause und ließ seinen Blick über die Schar seiner Anhänger schweifen, auf der drückendes Schweigen lastete, nur unterbrochen von Bellatrix´ leisem, aufgeregtem Keuchen. Dann fuhr er fort:
“Unser Ziel ist es nicht, diesen Kampf bis zum bitteren Ende zu führen. Wir machen uns bloß Harry Potters größte und erbärmlichste Schwäche zunutze: Seinen lächerlichen Hang zu Selbstlosigkeit und Mitleid. Er wird nicht lange zusehen können, wie seine Freunde um ihn herum sterben, bloß um ihn zu schützen. Er wird mich aufsuchen, sich mir alleine stellen wollen. Und dann wird es ein Leichtes für mich sein, ihn zu töten. Vergesst nicht, dass ich selbst es erledigen muss. Eure Aufgabe ist es, in diesem Krieg die Freunde des Jungen zu ermorden, je mehr, desto besser, doch ihn selbst tötet nicht. Versucht nicht, ihn zu finden, denn er wird zu mir kommen, früher, als ihr alle vielleicht glauben mögt. Falls er euch dennoch in die Hände fallen sollte, durch Zufall, dann ergreift ihr ihn selbstverständlich –tötet ihn nicht– bringt ihn zu mir.“
Mit diesen Worten schloss Voldemort und der zischende Klang seiner hohen Stimme hallte in der Luft nach. Eine Mischung aus Furcht und angespannter Entschlossenheit stand in den Mienen seiner Anhänger. Greyback knurrte angriffslustig. Rodolphus Lestrange hatte die Fäuste geballt und sah nervös zum Schloss hoch. Seine Frau jedoch grinste boshaft und wirkte vor Vorfreude schon ganz hibbelig. Der letzte Rest Farbe war aus dem blassen Gesicht von Lucius Malfoy gewichen, der von der brutalen Strafe, die Voldemort ihm damals erteilt hatte, da er Potter aus der Malfoy-Villa entkommen ließ, noch immer gezeichnet war; sein rechtes Auge war zugeschwollen und ein langer, verkrusteter Schnitt zog sich über seine bleiche Hand, die fest den Zauberstab umklammerte. Im fahlen Mondlicht sah er schlechter und heruntergekommener denn je aus, er war in schmutzige Lumpen gekleidet, sein langes blondes Haar, das längst seinen schimmernden Glanz verloren hatte, fiel ihm stumpf und strähnig ums erschöpfte Gesicht. Allen Bewohner des Hause Malfoy, selbst der treuen und mächtigen Bellatrix, hatte der zornentbrannte Voldemort zur Bestrafung bis auf Weiteres verboten, das Haus auch nur zu verlassen. Doch niemand wurde von ihm so schlecht und grausam behandelt wie Lucius, der zum wiederholten Male versagt hatte.
Angsterfüllt stierte Lucius seinen Herrn an, und Severus wusste, dass er sich um seinen Sohn sorgte; Draco war wie die anderen Slytherins im Schloss, das die Todesser bald attackieren würden.
Severus aber fühlte sich noch viel ängstlicher, als Lucius aussah. Es war nicht die Angst um sein eigenes Leben, die sein Blut zu gefrieren schien. Es ging ihm auch nicht mehr bloß um Potter, auch wenn die Sorge um Lilys Sohn ihn von innen her aufzufressen schien. Nein, Hogwarts war das erste und einzige Zuhause, das Severus kannte, der magische Ort, an dem er einen Großteil seines Lebens verbracht hatte. Die anderen Lehrer, auch wenn sie ihn nie wirklich verstanden hatten und ihm längst nicht mehr vertrauten, von Hass auf ihn erfüllt waren …dennoch bedeuteten ihm seine jahrelangen Kollegen etwas und das eine Legion von Todessern gerade den Befehl erhalten hatte, so viele wie möglich von ihnen umzubringen, schnürte ihm die Kehle zu. Die Schüler, die ihn so oft einfach nur genervt hatten, Potters Freunde, die hochmütigen Gryffindors, auf die er stets seinen Hass projiziert, zu denen er so viele Male voll Genugtuung gemein gewesen war … für die er sich doch verantwortlich fühlte, sie waren nun zum Abschuss freigegeben worden, müssten sich bald einer wahnsinnigen Bellatrix, einem blutrünstigem Greyback und ungezählten anderen übermächtigen, tödlichen Gegnern entgegenstellen…
Eine kribbelnde Taubheit hatte Severus´ Glieder erfasst und ließ sie nicht mehr los, sein Mund war ausgetrocknet und rau und sein Atem ging schnell und stoßweise.
“Tretet zurück“ hallte Voldemorts kalte, gebieterische Stimme durch die Nacht und augenblicklich bewegte sich die Masse der Todesser einen Schritt nach hinten. Der Dunkle Lord hob seinen Zauberstab, richtete ihn auf das verwitterte, von geflügelten Ebern flankierte Eingangstor, doch einen Herzschlag später gesinnte er sich anscheinend anders und senkte seinen knorrigen Stab wieder.
“Ich dachte mir erst, es sei ein schönes Symbol, das Tor zu zersprengen.“ hauchte er salbungsvoll. „Aber nein… nein, eigentlich kannst du uns auch einfach die Tür öffnen, Severus.“
Bellatrix gackerte schrill. Severus´ Körper protestierte abermals heftig gegen diesen Befehl, doch sein Geist sagte ihm, dass er es tun musste. Also zückte er seinen Zauberstab und mit einem gekonnten, verschlungenen Schlenker ließ er das mächtige Tor knarrend weit nach innen aufgehen.
“Sehr gut“ meinte Voldemort mit einem eiskalten Lächeln. „Sehr gut. Jedoch…“
Er trat langsam, vorsichtig einen Schritt nach vorne, aber sein Fuß stieß plötzlich gegen etwas Unsichtbares, Festes, das er, wie es schien, nicht durchdringen konnte; wie eine massive Mauer, die in der Luft erbaut wurde.
Doch das ließ sein Lächeln nicht verblassen.
„Natürlich“ sagte er gleichmütig und trat wieder zurück. „Schutzzauber. In Ordnung“ fügte er energischer hinzu, „Severus, geh beiseite. Wir werden die magischen Walle, die sie gezogen haben, bombardieren!“
Severus entfernte sich ein paar Schritte vom Tor und sah beklommen zu, wie der Dunkle Lord seinen Zauberstab hob und ein mächtiger, rubinroter Lichtstrahl zischend aus dessen Spitze hervor schoss, der gegen den magischen Wall, den die Lehrer um das Gelände von Hogwarts gezogen hatten, prallte wie gegen eine feste Wand. Das blendend helle Licht kroch die leicht kuppelförmig gewölbte magische Mauer hoch, doch gab diese dem zerstörerischen Strahl nicht nach, wehrte ihn standhaft ab. Einen Atemzug später zischte ein weiterer roter Blitz aus dem Stab des hünenhaften Yaxley gegen den Schutzzauber, der das Schulgelände umgab, dem nach und nach unzählige feurige Blitze folgten und die Nacht in ihren flammenden Schein tauchten. Wie ein gleißender Blutfleck breitete sich das helle Licht auf der unsichtbaren Wand aus. Severus konnte die Luft erzittern spüren und ein Geräusch wie lautes Donnergrollen erfüllte seine Ohren.
“ATTACKIERT DEN SCHUTZWALL NOCH STÄRKER!“ brüllte Lord Voldemort über den gewaltigen Lärm hinweg und der Zauberstab in seiner Hand begann unter der Kraft des flammend roten Fluchs zu beben. „STECKT ALL EURE MAGIE IN DIESEN ZAUBER, ALL EURE ZERSTÖRUNGSKRAFT, ALL EURE MACHT! ZERBRICHT DEN MAGISCHEN SCHUTZ!“
Rookwood brach der Schweiß aus und Travers ließ ein scharfes, angestrengtes Keuchen vernehmen. Die brennende Blutlache auf der magischen Kuppel wurde langsam größer. Eine gewaltige Salve aus Lichtgarben attackierte den unsichtbaren Schutzwall wie leuchtende Schlangen. Bellatrix stieß ein zorniges Fauchen aus und ihr langes, schwarzes Haar wehte im brausenden Wind der Flüche –
Ein ohrenbetäubender Knall, eine schmetternde Explosion, die Severus von den Füßen riss und nach hinten ins hohe Gras schleuderte. Rauch verhüllte die Luft wie ein stahlgrauer Schleier.
Stöhnend richtete sich Severus wieder auf und rieb sich blinzelnd die Augen. Seine Glieder schmerzten, sein Kopf pochte. Der Qualm verflog allmählich in der klaren Nacht. Da konnte Severus das gewaltige Loch sehen, das in der magischen Wand klaffte und dessen Ränder feuerrot in der Dunkelheit glühten. Allmählich weitete es sich aus, als würde diese Glut den Schutzwall zerfressen. Ein Moment der triumphierenden Stille, ein kaltes, zufriedenes Lächeln breitete sich wieder auf Voldemorts fahlem Gesicht aus, Bellatrix stieß einen wilden Siegesschrei aus. Dann huschten die Todesser, ein raschelndes Meer aus schwarzen Umhängen, durch das Loch im magischen Wall hinein auf das finstere Gelände von Hogwarts. Voldemort trat mit großen Schritten an die Spitze der Gruppe, Nagini wie einen sich ringelnden, züngelnden Schal um den langen, dürren Hals geschlungen, und sagte ruhig, aber durchdringend:
“Macnair, Avery, Nott und Rodolphus, ich verlange von euch, dass ihr augenblicklich wieder hinaus geht, disappariert und mit jedweden nur möglichen Kreaturen wiederkehrt, die uns im Kampf nützlich sein können. Dementoren, Riesen; alles, was töten und zerstören kann.“
Die Todesser nickten stumm und entschlossen und machten sich ohne ein weiteres Wort Richtung Eingangstor davon. Als sie das glühende Loch im magischen Wall passiert hatten, disapparierten sie alle mit dumpfen, leisen Plopps und ließen gräulich schimmernde Rauchwolken zurück.
Lucius sah seinen Herrn mit einem flehentlichen Ausdruck in den sorgenüberschatteten stahlgrauen Augen an, öffnete zitternd den Mund, um etwas sagen, schloss ihn jedoch einen Augenblick später wieder, als würde er sich an seinen eigenen Worten verschluckten.
“Ich selbst werde abseits des Kampfes auf Potter warten, der mir sicher bald in die offenen Arme läuft“ fuhr Lord Voldemort fort und ein eisiges Funkeln von grausamer Entschlossenheit lag jetzt in seinen kalten, blutroten Augen. „Ihr kennt diese kleine, vernagelte Holzhütte in Hogsmeade, auch die Heulende Hütte genannt? Dort drinnen könnt ihr mich finden; falls ihr mir etwas Wichtiges mitzuteilen habt, dann sucht mich auf. Der Zugang ist ein enger Erdtunnel hier auf dem Gelände von Hogwarts, der unter einer hohen Weide mit peitschenden Ästen rechts vom Schloss verborgen liegt. Wenn man den großen Knoten am Stamm der Weide gleich über den Wurzeln berührt, erstarren die Äste und man gelangt hindurch in den Tunnel.
Meine Todesser, die Befehle sind klar, es gibt nichts mehr hinzu zu fügen. Also…“ Er hielt einen Moment lang inne, blickte in die Runde seiner versammelten Anhänger, und mit einem Male verzerrte ein boshaftes Grinsen sein knochenweißes Gesicht. „GREIFT AN!“ Und mit diesen gellenden Worten hob er seinen Zauberstab zum samtschwarzen Himmel und im nächsten Augenblick war der Dunkle Lord mitsamt seiner riesigen Schlange, sich rasend schnell um sich selbst drehend, in der Finsternis verschwunden, als sei er nie da gewesen.
Einen Atemzug lang blieb der Moment in der Schwebe. Dann stürmten die Todesser zum Schloss empor wie ein entschlossener Schwarm todbringender Raben. Severus schloss sich ihnen an, seine hastig rennenden Beine bewegten sich mechanisch, wie ferngesteuert vorwärts und vorwärts, doch er fühlte sie nicht wirklich, so als gehörten sie gar nicht zu ihm.
Da sah er in der düsteren Ferne eine andere, große Gruppe Menschen sich schemenhaft aus den Schatten lösen. Sie rannten den Hang von der Schule her herunter, geradewegs auf die Todesser zu.
Diese hielten allmählich inne, als sie die Neulinge erblickten und spähten mit erhobenen Zauberstäben argwöhnisch zu ihnen auf. Die andere Menschengruppe kam nun ebenfalls langsam zum Stehen, einige Meter von den Todessern entfernt, auch sie mit gezückten Stäben.
Im spärlichen Mondlicht konnte Severus die blassen, aber entschlossenen Gesichter vieler älterer Schüler von Hogwarts erkennen. Auf die Schnelle bemerkte er Dean Thomas, Luna Lovegood und Seamus Finnigan unter ihnen, die in der vorderen Reihe standen.
Ein leises, kehliges Knurren Greybacks drang an seine Ohren und er sah, wie dieser gierig Cho Chang anstarrte und sich die Lippen leckte. Lucius´ nervöser und verzweifelter Blick schweifte abwechselnd über die gegnerischen Kämpfer, das hoch in den Nachthimmel aufragende Schloss und hinüber zum sich windenden Umriss der Peitschenden Weide auf dem dunklen Gelände. Die Luft war getränkt von knisternder Anspannung. Auf beiden Seiten wartete ein jeder wachsam auf die kleinste Bewegung des Gegners, doch niemand rührte sich.
Severus´ Gedanken überschlugen sich in seinem Kopf. All seine Sinne aufs Höchste geschärft, erwartete er jede Sekunde von irgendwoher einen Angriff. Die Schüler würden Hogwarts tapfer verteidigen, die Todesser würden auf Voldemorts Befehl hin beginnen zu töten. Aber… auf welcher Seite sollte er kämpfen? Alles in ihm schrie danach, die Todesser anzugreifen, seine Schüler zu beschützen, doch er wusste, das konnte er nicht. Ich darf meine Tarnung nicht aufgeben, ich werde sie wahrscheinlich noch brauchen. sagte er sich selbst scharf, um sich daran zu hindern, den Zauberstab in seiner bebenden Hand in die eigenen Reihen zu richten. Ich weiß nicht, wie dieser Krieg ausgeht, vielleicht ist es danach noch von großer Bedeutung, in Voldemorts Gunst zu stehen, von großer Bedeutung für den Plan, ihn zu besiegen, ich muss vernünftig sein… Doch er wusste auch, er konnte niemals, würde niemals, den Stab gegen einen seiner Schüler erheben und ihn ermorden. Nein, wurde ihm auf einmal bestürzt bewusst, seine einzige Möglichkeit war es, ungesehen aus diesem Kampf zu fliehen… Er konnte nichts tun, rein gar nichts tun…
Oder… konnte er doch? Der plötzliche Einfall durchzuckte ihn wie ein Blitz, raubte ihm für einen Augenblick den Atem… Ja, das würde er tun, das würde er versuchen… Wenn nicht jetzt, wann dann?
Da trat endlich ein schmächtiger Junge mit mausbraunem Haar jäh einen Schritt aus der Menge der Schüler hervor, und Severus erkannte ihn erstaunt als Colin Creevey aus der sechsten Klasse von Gryffindor. Seine zierlichen Hände zitterten, aber wilde Entschlossenheit stand ihm im Gesicht, als er seinen Zauberstab ruckartig in die Menge der Todesser erhob und seinen Mund öffnete, um einen Fluch auszusprechen–
Doch Bellatrix war schneller. Die Todesserin war in dem Moment wie eine Tigerin nach vorne geschossen, als sich Creevey geregt hatte. Ein surrender, blendend grüner Lichtstrahl schoss blitzschnell aus der Spitze ihres pechschwarzen Zauberstabs auf den Jungen zu, und ehe er ihm ausweichen, ehe er sich verteidigen konnte, ehe er auch nur begriff, was geschehen war hatte ihn der Todesfluch bereits mitten in die Brust getroffen. Colins haselnussbraune Augen weiteten sich in einem Ausdruck stummen Entsetzens, sein Zauberstab fiel ihm leise aus der erstarrenden Hand, der giftgrüne Blitz schleuderte ihn in weitem Bogen nach hinten zu Boden und dort blieb er regungslos und schlaff ihm hohen Gras liegen, ausdruckslos empor in den sternenübersäten Himmel starrend.
Colin Creevey.
…Colin Creevey, den Severus so oft wegen seiner übermütigen und voreiligen Art gerügt hatte, durch die er im Zaubertrankunterricht bereits einige Kessel in die Luft gejagt hat, den so vorlauten und geschwätzigen Bewunderer Harry Potters, den er viele Abende schon lang hatte nachsitzen lassen … Colin Creevey, ein lebensfroher Junge, der mutig als Erster vorgetreten war, um seine Freunde zu schützen, Hogwarts zu verteidigen, und den Bellatrix innerhalb einer Sekunde einfach so und völlig sinnlos umgebracht hatte.
Eine eiskalte Wut durchfuhr Severus, als Bellatrix laut und hysterisch lachend ein grün gleißendes Dunkles Mal in den klaren Nachthimmel aufstiegen ließ. Die Trauer und die Bestürzung, der Schock und die Verwirrung auf den Gesichtern der Schüler verwandelten sich in diesem Moment in blanken Hass.
Einen Atemzug später stürmten sie alle wutentbrannt, wie auf stummen Befehl den Hang hinunter auf die Todesserin, auf die Todesser zu. Blendend helle, zornerfüllte Lichtstrahlen in Feuerrot, Weißsilber und strahlendem Orange zuckten durch die Nacht, doch Voldemorts Schergen hielten mit Giftgrün, Violett und Blutrot dagegen. Wo die Flüche in der Luft aufeinander prallten, entsprangen laute Explosionen und ein Schleier aus Rauch hüllte sich über den Kampf -
Greyback stürzte sich fauchend wie ein wildes Tier auf Luna Lovegood, die ihn mit einem zielsicheren, schmetternden Schockzauber entschlossen zurückschleuderte, Rowle wurde von seinem eigenen Sprengzauber, der an Lavender Browns schimmernden magischen Schild abprallte, in einem brennenden Knall von den Füßen gerissen, Bellatrix wich hüpfend und wahnsinnig lachend einem Fluch nach dem anderen aus, der auf sie zuschoss, und schleuderte den Schülern wahllos surrende Todesflüche entgegen. Doch Severus konnte nicht sehen, wen sie traf, da er sich vor einem gleißend roten Cruciatus-Fluch aus den eigenen Reihen ducken musste, der in einem zischenden Windhauch knapp über seinem Kopf vorbei schoss – Er richtete sich vorsichtig wieder auf und entfernte sich zögernd rückwärts aus dem Schlachtgetümmel, den Blick immer noch wie magisch gebannt auf den Kampf gerichtet, unfähig, ihn abzuwenden.
Nun waren viele ältere Zauberer dazu gestoßen, um die Schüler in diesem Krieg zu unterstützen; Severus sah einen atemlosen Remus Lupin und den wild entschlossenen Arthur Weasley aus dem Orden des Phönix flammende Flüche gegen die Todesser ausschicken. In der Ferne hasteten weitere Krieger von Hogwarts den dunklen Hang vom Schloss hinunter und einige Todesser donnerten ihnen bereits mit kampfbereit erhobenen Zauberstäben und wehenden Umhängen entgegen–
Auch Severus hob den Stab, den er fest umklammerte, und einen Augenblick lang zuckte es in seiner Hand; er wollte ihn gegen die Todesser richten, er wollte kämpfen, er wollte dem Orden des Phönix zur Seite stehen, er wollte Bellatrix und all die anderen daran hindern, weiter zu morden… Doch abermals rief er sich scharf ins Gedächtnis, dass es nicht ging. Und dass er vielleicht anders in diesem Krieg nützlich sein könnte. Und sein Blick huschte ein letztes Mal über die erbittert kämpfende Menge. Rein niemand schien auf ihn zu achten; und so disapparierte er fest entschlossen, ließ die kämpfenden Schüler und Widerstandskämpfer und Todesser hinter sich und tauchte ein in das wirbelnde, samtene Schwarz, das ihn wie ein gieriger Schlund verschlang.
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