von LunaYazz
Die allumfassende, tiefschwarze Finsternis ließ Severus langsam wieder los, befreite ihn aus ihrem wirbelnden Griff. Sie hatte ihn in einen menschenleeren, dunklen, kreisrunden, geradezu schmerzlich vertrauten Raum getragen.
Sein Schulleiterbüro war noch unversehrt von den erbarmungslosen, tödlichen Kämpfen, die draußen tobten, doch durch die mit samtenen Vorhängen verhangenen Fenster wehten schmerzerfüllte Schreie, schmetternde Knalle und das zischende Brausen mächtiger Flüche vom Gelände herein. Alle paar Sekunden flackerte ein gleißendes Licht in der Nacht auf und tauchte das Büro durch die Vorhänge hindurch in einen unheilvollen Schein, wie ein gespenstischer, grellbunter Blitz.
Severus bemerkte sofort, dass fast keines der Portraits ehemaliger Schulleiter, die die Wand hinter seinem Schreibtisch bevölkerten, in seinem golden schimmernden Rahmen war. Die Gemälde waren verlassen und leer und Severus beschlich die Ahnung, dass die Bewohner allesamt ausgeschwärmt waren, um etwas vom Kampf mitzubekommen.
Doch der, den Severus sprechen wollte, der Schulleiter, wegen dem er her gekommen war – der war da geblieben.
Albus Dumbledores Portrait sah ihn hinter seinen schimmernden Halbmondbrillengläsern tieftraurig und gequält an, Sorge und Bestürzung überschatteten seine sonst so lebhaft funkelnden himmelblauen Augen. Dann, nach einem langen Moment des Schweigens, sagte er mit leiser, seufzender Stimme:
“Severus… Ich war mir sicher, Sie würden kommen. Ich habe auf Sie gewartet… Sie möchten, dass ich Ihnen nun endlich das Ziel von Harrys Mission verrate, liege ich da richtig?“
“Ja… genau“ antwortete Severus etwas perplex.
“Sie denken, wenn ich es Ihnen sage, könnten Sie Harry vielleicht helfen, während die Schlacht um ihn tobt?“
“Ja, das denke ich in der Tat“ erwiderte Severus nun schärfer und sah herausfordernd zu dem Gemälde hoch.
Dumbledore seufzte tief
“Nun, ich befürchte, Sie werden vermutlich nicht besonders viel ausrichten können. Selbst ich weiß nicht, wo… Ich frage mich, ob Harry… Jedoch, Severus“ fügte er mit einer Spur der alten Unerschütterlichkeit in seiner Stimme hinzu, denn Severus hatte den Mund geöffnet, um etwas dagegen zu erwidern. „Jedoch werde ich Ihnen nun dennoch mitteilen, welchen Auftrag ich Harry vor fast einem Jahr gegeben habe. Ich habe nachgedacht, und ich denke, ich habe es Ihnen viel zu lange verschwiegen. Die Zeit dafür ist gekommen. Also setzen Sie sich hin und hören mir zu…“ Er seufzte abermals schwer und schüttelte langsam und traurig den Kopf. “Sie können ohnehin nichts tun, um den Schülern von Hogwarts zu helfen, nein. Ihre Tarnung könnte noch von zu großer Bedeutung sein, um sie jetzt einfach aufzugeben. Wir müssen zusehen und es geschehen lassen… Ich hoffe, der Orden des Phönix, die Lehrer… Also, setzen Sie sich.“
Severus setzte sich zögernd auf der Kante seines Schreibtischs nieder. Voll Erwartung, Neugier, Anspannung sah er zu Dumbledore auf. Noch vor einer Stunde hätte er es nicht für möglich gehalten, dass der ihm je irgendetwas über die höchst geheime Mission eines siebzehnjährigen Jungens erzählen würde. Doch während der Schlacht, während der Schlacht hatte er dann diesen plötzlichen Impuls verspürt, ihn nun noch einmal danach zu fragen… Und tatsächlich, jetzt, da sich die Dinge aufs Grausamste zugespitzt hatten, jetzt würde er es endlich erfahren. Er hoffte nur, er konnte eine größere Unterstützung für Potter sein, als das Portrait andeutete…
“Sie wissen“ begann Dumbledore ohne Umschweife und suchte mit seinen müden, trauerüberschatteten Augen Severus´ Blick. „dass ein Teil von Lord Voldemorts Seele in Harry Potter lebt, und Voldemort aus diesem Grund nicht sterben kann, ehe dieses Seelenteil –und damit der Junge– ebenfalls stirbt, zerstört wird.“
Severus nickte kurz.
“Genau, Severus“ sagte Dumbledores Portrait geräuschvoll ausatmend. Ein flackernd grüner Lichtblitz von draußen, der fahl das düstere Büro erhellte, unterlegte seine Worte. „Ich sagte Ihnen einst, es sei von großer Bedeutung, dass Voldemort selbst Harry tötet und niemand anderes. Der Grund ist, dass nur der Besitzer eines Seelenteils dieses auf gewöhnlichem Wege zerstören kann.“
“Ja, das weiß ich…“ meinte Severus langsam und zog die Augenbrauen zusammen. Worauf wollte Dumbledore hinaus?
“Freilich könnte mit anderen Mitteln als dem üblichem Todesfluch auch ein anderer Mensch Harry mit vernichtender Wirkung auf das Stück von Lord Voldemorts Seele töten“ fuhr Dumbledore fort. „Würde man den Jungen beispielsweise durch ein Dämonsfeuer oder mit dem Gift eines Basilisken umbringen, dann wäre dies das Ende von Lord Voldemorts Seelenstück, egal, wer der Mörder wäre. Doch solch einen Tod können wir Harry schließlich keinesfalls zumuten.“
Dies war Severus neu, aber dennoch war ihm schleierhaft, warum das Gemälde es ihm gerade jetzt sagte.
“Das ist ja alles in der Tat höchst interessant – aber was hat es mit Potters Mission zu tun?“ fragte er ungeduldig.
“Oh, Severus, vieles, um nicht zu sagen, alles.“ meinte Dumbledore mit einem traurigen leisen Lächeln. „Diese Abspaltung eines Teils der eigenen Seele, das außerhalb des Körpers weiterlebt und bloß durch äußerst seltene magische Substanzen zu zerstören ist, erinnert Sie das nicht auch an einen willkürlich ausgeführten Zauber – einen sehr starken, schwarzmagischen Zauber?“
Zuerst wusste Severus beim besten Willen nicht, wovon Dumbledore sprach, doch gerade in dem Moment, als er den Mund öffnen wollte, um dem Portrait zu sagen, dass es sich deutlicher ausdrücken sollte – da durchzuckte ihn die plötzliche Erkenntnis wie ein jäher Blitz:
“Sie meinen – Horkruxe?“
“Ganz genau.“ stimmte Dumbledores Portrait ihm mit einem leisen Anflug der Zufriedenheit zu, da Severus es so schnell begriffen hatte. „Man kann also sagen, dass Lord Voldemort Harry zu seinem lebenden, unfreiwilligen Horkrux gemacht hat. Doch Tom Riddle hatte schon immer Angst vor dem Tod, er fürchtete sich schon immer von dem, was er nicht kannte. Und er weiß nicht das Geringste von seinem Seelenstück, das in Harry lebt – nicht das Geringste. Und er war bereits lange vor seinem Angriff auf die Potters ein skrupelloser, mächtiger Schwarzmagier. Folglich also–“
Und auf einen Schlag fiel es Severus wie steinschwere Schuppen von den Augen.
Die Antwort auf die Frage, die er sich monatelang wieder und wieder gestellt hatte, über die er so oft angestrengt nachgegrübelt hatte – sie lag plötzlich klar und deutlich vor ihm wie ein strahlend helles Gestirn, das zuvor hinter einem dichten Vorhang aus Wolken verborgen gewesen war. Ja, nun, da er sie kannte, schien sie ihm im selben Moment schon wieder beinahe lächerlich offensichtlich.
“Er – Der Dunkle Lord“ unterbrach er Dumbledore atemlos. „Er hat noch einen Horkrux erschaffen? – und Potter – er versucht, ihn zu finden – ihn zu zerstören -“
“Volkommen richtig“ sagte das Portrait und Severus konnte einen flüchtigen Schatten des vertrauten Glitzerns in seinem schmerzerfüllten Blick erhaschen. „Das heißt, nein, fast richtig. Sie müssen nämlich bedenken, dass Voldemort sich für übermächtig und besonders hält und über die gewöhnliche schwarze Magie, über das gewöhnliche Böse, in wirklich jeder Beziehung hinaus gegangen ist. Er hat nicht bloß einen Horkrux erschaffen, sondern ich bin mir gewiss, dass er seine Seele in sieben Stücke geteilt hat. Und die von seinem Körper abgespaltenen Seelenteile unter magischem Schutz an verborgenen Orten im ganzen Land versteckt hat.“
“Sieben Seelenteile – sechs Horkruxe?“ hakte Severus wie vom Donner gerührt nach.
“Und der siebte in Form von Harry, von dem Voldemorts nichts weiß, ja.“
„Ich habe nie davon gehört, dass jemand seine Seele überhaupt mehr als ein Mal geteilt hat…“ meinte Severus zweifelnd und zog eine Augenbraue hoch.
“Dass niemand zuvor es getan hat, heißt nicht, dass etwas nicht möglich ist, Severus.
Einen der Horkruxe hat Harry bereits in seinem zweiten Schuljahr zerstört, im Alter von zwölf, ohne zu ahnen, dass es einer war. Sie erinnern sich an den Vorfall vor fünf Jahren, damals, als Ginny Weasley von der eingeschlossenen Erinnerung in Tom Riddles altem Tagebuch besetzt gewesen war und unter ihrem Einfluss die Kammer des Schreckens geöffnet hat? Nun, dieses Tagebuch war nichts anderes als ein Horkrux Voldemorts, der aus Lucius Malfoys Besitz in die Schule gelangt ist. Und diese Erinnerung war nicht bloß eine Erinnerung, sondern ein Stück von Lord Voldemorts Seele. Doch Harry hat dieses Seelenstück vernichtet, indem er das Tagebuch mit einem Zahn des Basilisken aus der Kammer durchstochen hat.
Einen zweiten Horkrux habe ich selbst vor fast zwei Jahren zerstört. Der Ring, dessen Fluch Sie in meiner Hand eingeschlossen haben und der mich langsam, aber sicher getötet hätte – der mich augenblicklich getötet hätte, hätten Sie mich nicht gerettet – er war ein Horkrux, und ich habe ihn mit dem Schwert Godric Gryffindors zerschlagen und das Seelenteil darin so vernichtet.
Da Harry dieses Schwert einst im Kampf in den Rachen besagten Basilisken gestoßen hat und koboldgearbeitete Schwerter wie dieses das, was sie stärkt, aufnehmen, ist es getränkt von Basiliskengift. Deshalb sollten Sie das Schwert Gryffindors Harry übergeben – damit er eine Waffe besitzt, mit der er die Horkruxe, die er findet, auch zerstören kann und er nicht–“
Doch ein gellender Schmerzensschrei vom Gelände übertönte Dumbledores letzte Worte und mit einem leidgetränkten Blick zum Fenster, als würde er den Schmerz des schreienden Kämpfers am eigenen Leibe spüren, fuhr er fort:
“Nun, Severus, jetzt waren also –außer dem Jungen selbst, freilich– noch vier Horkruxe übrig, die Harry finden und zerstören musste. Er machte sich gemeinsam mit seinen Freunden kurz nach meinem Tod auf, diese zu suchen, für Lord Voldemort bedeutsame Gegenstände, die an für ihn bedeutsamen Orten unter höchstem Schutz versteckt waren. Es musste sehr gefährlich für Harry, Ron und Hermine gewesen sein, dies zu tun, wenn sie zugleich von all den Todessern aufs Schärfste verfolgt wurden. Und dennoch scheint es so, als wären sie dem Ziel bereits sehr nahe…“ Das Portrait ließ die Augen nachdenklich über die schemenhaften Umrisse des dunklen Büros schweifen, ehe sein Blick wieder den Severus´ fand.
„Als Sie mir heute–…, gestern Abend von Voldemorts merkwürdigem, beunruhigtem, ja, wie es schien, geradezu verstörtem Gebaren und seinem Befehl, Hogwarts zu überwachen, erzählt haben –wenn ich zu dem Zeitpunkt, da er Ihr Büro aufsuchte, kein Schläfchen gehalten hätte, hätte ich es freilich selbst mitbekommen – da war mir sofort klar, er hatte herausgefunden, dass Harry die Horkruxe suchte. Und einer von ihnen musste tatsächlich in Hogwarts sein. Dass Harry nun wirklich in die Schule eingedrungen ist, ist für mich die Bestätigung, dass er die anderen Horkruxe bereits gefunden hat – denn warum sonst sollte er jetzt in die Höhle des Löwen gehen, wo Sie, vermeintlicher Todesser, und die Carrows lauern, und dort suchen? Hier liegt, denke ich, das am besten bewachte Horkrux-Versteck, womöglich noch sicherer als das in Gringotts – wo Harry anscheinend auch einen Horkrux gestohlen hat. Das heißt natürlich, abgesehen von der Schlange, die stets bei Voldemort ist–“
“Moment… Der Schlange? Nagini? Sie meinen, das Tier ist ein …Horkrux?“
“So sieht es aus, so sieht es aus.“ sagte das Portrait ernst. „Aus diesem Grund habe ich Ihnen gesagt, der Zeitpunkt sei gekommen, Harry die Wahrheit zu sagen, sobald Voldemort seine Schlange schütze. Denn das hieße, dass Harry bereits Horkruxe zerstört, Voldemort es erfahren hätte und er zumindest Nagini und sein mit ihr verbundenes Seelenteil davor bewahren wollte, von ihm getötet zu werden –und Harry, wie ich ihn kenne, wohl keinen Rückzieher mehr machen würde, auch …wenn mit dem Sturz Voldemorts sein eigener Tod verbunden ist. Nun, Harry hat jetzt also bereits zwei Horkruxe aufgespürt und Voldemort weiß es… Doch–“ Er hielt jäh inne, stockte. „Moment einmal–“ Eine Spur Verwirrung, Beunruhigung schwang plötzlich in der müden Stimme des Portraits mit, “Seine Schlange hat er bisher nicht unter magischen Schutz gestellt, oder doch?“
“Nein…“ erwiderte Severus langsam und runzelte die Stirn. „Aber… Aber da fällt mir ein, er hatte sie stets bei sich! … Gestern Abend, als er in meinem Büro war… und eben wieder, als er seine Todesser für die Schlacht zusammen gerufen hat…!“
“Aaah, sehr gut, dass Sie mir das sagen, damit ergibt alles wieder einen Sinn“ meinte Dumbledore sofort und er wirkte hinter all dem Schmerz und der Sorge um seine Schüler erleichtert. „Selbstverständlich wiegt Voldemort seine Schlange unter seinen Anhängern nicht in Gefahr, und er möchte wohl vermeiden, dass die Todesser allzu neugierig werden, was wohl der Fall wäre, wenn er plötzlich mit Nagini unter einem Schutzschild auftauchen würde… Einen Augenblick lang hatte ich die Befürchtung, dass die Schlange trotz all dem, was dafür spricht, doch nicht der letzte Horkrux sein könnte… Aber nein…
Nun, ich weiß beim besten Willen nicht, wo hier im Schloss ein Horkrux versteckt sein könnte, und ich hoffe, dass Harry mehr Anhaltspunkte hat als ich es habe… Doch wenn Harry den Horkrux gefunden und zerstört hat, dann–“
“Sie denken, er hat es noch nicht?“ unterbrach ihn Severus ein wenig erstaunt.
“Nein“ sagte Dumbledores Portrait und es klang, als sei es sich dessen vollkommen gewiss. „Nein. Ich kenne Harry gut, und er würde es niemals zulassen, dass nur um seiner selbst willen ein Krieg tobt, Menschen sterben… All die Schüler und Lehrer und Widerstandskämpfer, die jetzt für ihn gegen so tödliche Gegner antreten müssen…“ Er seufzte traurig. „Er hat sich bloß Voldemort noch nicht selber entgegen gestellt, weil er zuvor noch etwas zu tun hat, etwas, das für unser ganzes Land von größter–“
Aber seine nächsten Worte gingen in einer trommelfellzerfetzenden Explosion unter, die Wände und Fußboden erbeben ließ. Stöße von Büchern aus den hohen Regalen an der Wand fielen unter deren Wucht zu Boden, die Fensterscheiben klirrten und ein dumpfes Zittern strömte wie der tiefe, hallende Schlag eines Gongs durch Severus´ Körper.
“Sie zersprengen das Schloss“ wisperte er erschrocken, als das Beben nach ein paar Sekunden wieder vorbei war.
“Ja“ meinte Dumbledore erschüttert. Einen Moment lang schien das Gemälde zu bestürzt, um etwas Weiteres zu sagen, doch dann wandte es sich wieder Severus zu und fuhr mit matter Stimme fort:
“Hören Sie, sobald er den Horkrux zerstört hat, der in Hogwarts versteckt ist, dann, da bin ich mir sicher, wird Harry Voldemort aufsuchen. Auch, um den letzten Horkrux, die Schlange, zu vernichten.“
“Darauf hofft der Dunkle Lord selbst auch“ warf Severus bitter ein. „Seine Anweisungen waren es, so viele von Potters Verbündeten wie möglich zu töten, um ihn zu sich zu locken. Der Dunkle Lord versteckt sich indes in der Heulenden Hütte und wartet auf den Jungen.“
“Ich verstehe“ sagte das Portrait und es klang zutiefst angewidert. Ein trauererfülltes, hysterisches Schluchzen von irgendwo draußen untermalte seine Worte, und es schien all die Trauer, die Dumbledore in sein altes, so ungewohnt erschöpftes Gesicht geschrieben war, wieder zu spiegeln. Einen Wimpernschlag darauf warf ein gleißend grüner Lichtblitz seinen flackernden Schein ins Schulleiterbüro und das Schluchzen erstarb augenblicklich. Und Severus wusste und es war, als wäre das eiserne Gewicht in seinem Herzen wieder ein wenig schwerer geworden, gerade war ein weiterer Kämpfer von Hogwarts gestorben.
“Die Heulende Hütte, sagen Sie?“ sprach Dumbledores Portrait abermals schwer seufzend weiter. „Severus, wir beide wissen, dass Sie momentan nichts tun können. Sie dürfen nicht kämpfen; Sie können Harry nicht dabei helfen, den Horkrux zu finden. Doch der Zeitpunkt ist gekommen, und wenn sich Harry auf den Weg macht, Voldemort entgegen zu treten, dann müssen Sie ihn abfangen und ihm alles sagen. Er muss wissen, dass er die Begegnung mit Lord Voldemort gar nicht überleben soll, dass die Prophezeiung –Keiner kann leben, während der andere überlebt– in Wahrheit bedeutet, dass alle beide sterben werden. Dass er dieses letzte und größte aller Opfer für den Frieden bringen muss. Severus, Ich weiß nicht, ob es Harry, bevor er stirbt, noch gelingen wird, die Schlange zu töten – wenn nicht, dann muss dies nach seinem Tod jemand anderes erledigen, damit Lord Voldemort endlich sterblich wird. Ich denke dabei allerdings eher an Harrys Freunde als an Sie – Sie müssen so lange es nur irgend geht in Lord Voldemorts Gunst bleiben. Wenn er Ihnen auch weiterhin vollkommen vertraut, dann werden Sie, sobald er verwundbar ist, womöglich Gelegenheit haben, ihn zu töten. Ich–“
Ein weiterer schmetternder, ohrenbetäubender Knall, unter dem der kleine, kreisrunde Raum erzitterte, unterbrach ihn. Staub rieselte von der kuppelförmigen Decke und von irgendwoher hallten angsterfüllte, verzweifelte Schreie ins Schulleiterbüro. Severus musste sich an dem leeren Goldrahmen des Portraits von Eleanor White –einer Schulleiterin von Hogwarts um 1800 – festklammern, um nicht zu stürzen.
Die zweite Explosion schien näher gewesen zu sein, wenn auch nicht ganz so heftig wie die erste.
“Sie müssen aus dem Schloss verschwinden, Severus“ sagte Dumbledores Portrait plötzlich und eindringlich, als Severus sich wieder hochrappelte. “Ich schlage vor, Sie warten irgendwo, von wo Sie das Geschehen überblicken und jederzeit eingreifen können, doch wo sie außer Gefahr sind – wenn ich darüber nachdenke, die rechte Grenze des Geländes erscheint mir eigentlich ein guter Ort, nahe der Peitschenden Weide. Von dort aus können Sie Harry abfangen, wenn er sich auf den Weg zu Lord Voldemort macht. Wichtig ist im Augenblick nur, dass der Junge die Wahrheit erfährt, und Sie sind der Einzige, der sie ihm sagen kann. Also geben Sie gut acht auf sich.“
„Sie haben Recht, Dumbledore, das werde ich tun“ stimmte ihm Severus zu, auch wenn ihn die Vorstellung, nur dastehen und zusehen zu können, wie die Todesser Hogwarts zerstörten und seine Bewohner ermordeten, zutiefst bedrückte.
Sein Kopf schwirrte ihm noch von all dem, was Dumbledores Portrait ihm gerade endlich, nachdem er viele Monate lang eine Rolle in einem Plan gespielt hatte, den er nicht kannte, auf einen Schlag offenbart hatte. Er bemühte sich den hektisch umher flatternden Schwarm der Gedanken, der durch sein Gehirn flirrte, die vielen unausgegorenen Fragen, Zweifel und Ungewissheiten, die langsam in ihm aufstiegen wie Luftblasen an die Oberfläche eines tosenden Gewässers, beiseite zu wischen und sich bloß auf das zu konzentrieren, was vor ihm lag. Auf seine weitere Rolle in dem Plan, in dem die einzige Hoffnung lag, das Schreckensregime von Lord Voldemort zu stürzen.
“Ich werde disapparieren“ sagte Severus entschlossen zu dem Gemälde von Albus Dumbledore, in dessen so unendlich müden himmelblauen Augen nun auch ein winziger Funken von stählerner Entschlossenheit aufglomm, als es nickte und sagte:
“Dann tun Sie das jetzt, Severus.“
Severus nickte dem Gemälde ebenfalls kurz zu, dann hob er seinen Zauberstab gen kuppelartiger Decke und-
“SEVERUS SNAPE!“
Der donnernde, magisch verstärkte Ruf hallte vom Gelände her über den tosenden Schlachtenlärm hinweg ins Büro. Nicht ganz so ohrenbetäubend und eiskalt durchdringend wie Voldemorts Drohung ließen diese Worte die Wände nicht erzittern und wären vielleicht tiefer im Schloss gar nicht zu hören gewesen, doch durch die dünnen Fensterscheiben des Schulleiterbüros wehten sie mit der Lautstärke einer schmetternden Explosion hinein.
“Lucius Malfoy“ zischte Severus überrascht, der die Stimme, die seinen Namen rief, augenblicklich erkannte.
“Gehen Sie und hören Sie, was er Ihnen zu sagen hat!“ meinte Dumbledore sofort.
Ohne ein weiteres Wort rauschte Severus zum Fenster, zog die Vorhänge zurück, öffnete es und spähte hinaus in die dunkle Nacht, die vereinzelt von grellen, zuckenden, von Mordlust und Entschlossenheit erfüllten Lichtblitzen erhellt wurde.
In diesem Moment hallte wieder Lucius´ erschöpfte Stimme durch die von Schreien und dem Zischen von Flüchen getränkte Luft:
“SEVERUS SNAPE! SEVERUS SNAPE?“
Severus blickte sich aufmerksam nach der Quelle der Stimme um, die immer lauter und verzweifelter rief, ein flehendes Mantra, das durch die Schlacht hallte, ließ seinen Blick angespannt über das düstere Gelände schweifen. Atemzüge später bemerkte er eine silhouettenhafte Gestalt in der Dunkelheit der Nacht, die regungslos, fernab von den tobenden Kämpfen, im Schatten von Hagrids Holzhütte stand.
…Das musste er sein. Lucius!
Severus zögerte den Bruchteil einer Sekunde lang, dann kletterte er behände auf den Fenstersims, krallte sich mit beiden Händen am Rahmen des offenen Fensters fest, beugte sich weit vor – und einen Wimpernschlag später sprang er mit einer einzigen fließenden Bewegung aus dem Fenster. Hinein in die von Kampf und Zerstörung erfüllte Nacht, im selben Moment, da er seinen Zauberstab fest umklammerte und mit fester Stimme rief:
“Volucercorpus!“
Augenblicklich war er schwerelos. Er schwebte mühelos in der Luft, so leicht wie ein welkes Blatt. Seine Arme waren nun seine mächtigen, gewandten Schwingen. Und er streckte sie weit nach vorne aus und segelte auf den Waldrand zu, wo Lucius Malfoy stand und noch immer schallend nach ihm rief und rief.
Es herrschte tiefschwarze Nacht, und Severus konnte den Boden zwanzig Meter unter sich kaum noch erkennen; er schien mit den Schatten verschmolzen. Bloß dort, wo ein erbitterter Kampf geführt wurde und Lichtgarben brausend umher schossen, wurde die Erde erleuchtet; der Schein der Flüche flackerte über Blutflecken im Gras und mächtige Risse und Krater im Boden. Doch es waren nur noch wenige Kämpfer auf dem Gelände zu sehen… Der Krieg schien jetzt offenbar im Schloss zu toben.
Severus musste sich überwinden, sich umzusehen, doch mit einem gewaltigen Knoten im Hals warf er einen Blick zurück auf Schloss Hogwarts.
Es bot einen erschreckenden Anblick; wie ein mächtiges, steinaltes Wesen, das schließlich dennoch bezwungen wurde und nun im Sterben lag. Der Westflügel war vollständig weggesprengt worden und lag in Trümmern, das klaffende Loch in den angrenzenden Mauern gab auch das Herz des Schlosses ungeschützt frei. Der hoch in den finsteren Himmel aufragende Astronomieturm stand in lodernden, saphirblauen Flammen, die den Stein langsam, aber sicher verzehrten. Von der türmernen Eulerei war bloß noch ein pechschwarzer, rußbedeckter, steinerner Stumpf übrig, der schwach giftgrün glühte; hunderte Vögel flatterten panisch durch die Nacht. Die meisten Fenster waren zertrümmert oder die Scheiben geschmolzen, und über die Marmortreppe zur Eingangshalle raschelte ein dunkles Meer aus gewaltigen, vielbeinigen Ungeheuern in die Schule. Einen Augenblick später erkannte Severus sie als pferdegroße Spinnen mit mächtigen Beißzangen und glühenden Augen – Acromantulas auf Beutezug.
Seine zerstörte Heimat zu sehen, ein trostloses, grausames Abbild von dem, was Hogwarts einmal war, versetze Severus einen heftigen, schmerzhaften Stich ins Herz. Er wandte seine Augen vom Schloss ab – er glaubte, diesen Anblick keinen Wimpernschlag mehr länger ertragen zu können – und sah wieder nach vorne. In dem Moment stampfte ein gigantischer Riese, das brutale, klobige Gesicht zu einer wütenden Fratze verzerrt, die gelben, backsteingroßen Zähne gebleckt und eine meterlange, hölzerne Keule hinter sich her schleifend, aus den Schatten des Verbotenen Waldes hinaus geradewegs auf die Schule zu.
Severus glitt geschwind Richtung Waldrand, die kühle Nachtluft blies ihm ums Gesicht. Lucius schrie weiter und weiter seinen Namen wie ein hallendes Gebet in die Dunkelheit; er schien ihn nicht zu bemerken, wie er schnell auf ihn zuflog. Severus segelte über einen grimmigen Kampf hinweg, in dem sich die Flüche der Duellanten in der Luft trafen und wie zwei blendend helle Drachen miteinander rangen. Severus erkannte die Kämpfer als den kräftigen, muskulösen Crabbe senior und eine wild entschlossene Luna Lovegood. Doch er erblickte noch eine weitere Gestalt, nicht weit von den Kriegern entfernt, die sich noch näher an die beiden heran schlich: Der Schein ihrer Zauber beleuchtete flackernd das schmale, heimtückische Gesicht von Antonin Dolohow. Dolohow hob seinen Zauberstab gegen Lovegood, die mit dem Rücken zu ihm stand, bereit, einen tödlichen Fluch auszuschicken–
Stupor, dachte Severus fest. Ein leuchtend roter Lichtblitz schoss aus seinem Zauberstab in rasender Geschwindigkeit auf Dolohow herab, der mit einem kleinen Aufschrei augenblicklich bewusstlos im hohen Gras zusammensank, bevor er dem Mädchen etwas tun konnte.
Severus flog weiter und sah aus dem Augenwinkel, wie im nächsten Moment Lovegood Crabbe in einer glühenden Explosion von den Füßen riss.
Er kam in der Nähe von Hagrids düsterer, verlassener Hütte jäh in der Luft zum Stehen, senkte allmählich seine Arme und schwebte gemächlich zu Boden.
“Lucius!“ zischte er laut.
Der Todesser sah überrascht nach oben und seine magisch hallende Stimme verstummte sofort, als er Severus erblickte.
“Severus!“ krächzte er überrascht, nachdem er sich mit dem Zauberstab einmal flink über die Kehle gestrichen und seiner Stimme wieder die normale Lautstärke gegeben hatte. Er beobachtete mit weit aufgerissenen Augen, wie Severus langsam zu ihm herab schwebte, und wich stolpernd einen Schritt zurück, als er direkt vor seinen Füßen sanft landete.
“Was hast du mir zu sagen, Lucius?“ fragte Severus ohne Umschweife und ohne ein Wort über seine doch ungewöhnliche Ankunft zu verlieren.
“Der Dunkle Lord schickt mich, dich zu holen.“ erwiderte Lucius Malfoy. In seiner Stimme lag nicht die übliche Freundlichkeit, mit der er Severus stets bedacht hatte, sondern der kalte Zorn, den er jedem entgegenbrachte, der in der Gunst Voldemorts höher stand als er, der nicht von Strafen und Demütigungen gezeichnet war. „Er sagt, du sollst zu ihm kommen.“
“In die Heulende Hütte?“ fragte Severus erstaunt. „Weshalb?“
“Ich weiß es nicht“ entgegnete Lucius barsch. „Geh einfach dorthin, dann wirst du es erfahren.“
“Danke für den äußerst klugen Rat, Lucius, aber darauf wäre ich durchaus auch selbst gekommen. Gut, dann werde ich das nun tun.“
“Ja“ erwiderte Lucius knapp. Er starrte Severus unverhohlen wütend an, dann fügte er grimmig hinzu: „Sag mir mal, wo warst du eigentlich die ganze Zeit während der Schlacht? Ich habe dich nirgendwo kämpfen gesehen.“
“Das“ sagte Severus schneidend „ist nicht von Bedeutung für dich.“ Er sah hinüber zum schemenhaften Umriss der Peitschenden Weide in der Ferne, die abseits der Schlacht ihren eigenen erbitterten Kampf gegen alles und jeden, der ihr zu nahe kam, führte und den Tunnel zur Heulenden Hütte verteidigte. Er fragte sich in einer erwartungsvollen Mischung aus Aufregung und Anspannung, was Voldemort wohl von ihm wollte. Doch gerade, als er seinen Zauberstab hob, um zur Weide zu apparieren, packte Lucius ihn urplötzlich fest am Arm und hielt ihn zurück. Severus bemerkte, dass die Hand des Todessers zitterte. Er wandte sich überrascht zu Lucius um, und in dessen blassen Gesicht stand auf einmal kein Zorn, keine kalte Wut mehr geschrieben, sondern in seinen stahlgrauen Augen lag ein verzweifelter, geradezu flehentlicher Ausdruck.
“Severus“ wisperte er. „Hast du meinen Sohn gesehen?“
Severus blickte in Lucius´ sorgengetränktes, erschöpftes Gesicht und unwillkürlich fragte er sich dumpf, ob Draco, der seit er ein Kind war stets die Ansichten der Todesser geteilt und bewundernd zu Lord Voldemort aufgeblickt hatte, der nun von Voldemort missbraucht und benutzt wurde, ebenfalls in diesem Krieg gestorben war.
“Nein, ich habe ihn nicht gesehen“ sagte Severus leise.
Lucius nickte resigniert und sagte mit bebender, mühsam beherrschter Stimme: „Dann geh jetzt.“
“Das tue ich“ meinte Severus abschließend, und im nächsten Moment ließ er sich in einen wirbelnden, samtschwarzen Sog der Finsternis ziehen.
Die allumfassende Dunkelheit ließ ihn wenige Schritte von den dicken, wild um sich schlagenden Ästen der hohen, knorrigen Weide wieder los. Ein klagender, lang gezogener Schrei wehte vom Schloss zu Severus herüber. Er spähte mit zusammengekniffenen Augen in die Dunkelheit und erkannte den großen, knubbeligen Knoten am mächtigen Stamm des Baumes.
“Wingardium Leviosa!“ murmelte er und richtete seinen Zauberstab auf einen trockenen Zweig am Boden. Der schwebte augenblicklich in die Luft, als hätte ihn eine Geisterhand aufgehoben, bahnte sich wirbelnd seinen Weg durch das tödliche Gitter der peitschenden Äste und schnellte gegen den knorrigen Holzknoten.
Im selben Moment erstarrten die Äste der Weide, verharrten in der Bewegung, als seien sie vom reflektierten Blick eines Basilisken versteinert worden.
Severus schritt hinüber zu dem schmalen Eingang des engen Erdtunnels unter den gewaltigen Wurzeln des Baumes, der in die Heulende Hütte führte. Er bückte sich, um hindurch zu kriechen, doch als er nach den Wänden des Tunnels tastete und in das tiefe, schier endlose Schwarz im Inneren blickte, erfasste ihn mit einem Mal eine eiskalte, unerklärliche Welle der Furcht und er hielt abrupt inne.
Es war, als sei er wieder der sechzehnjährige Junge, der begierig, aufgeregt und entschlossen in den schmutzigen Tunnel kletterte, nicht ahnend, dass Sirius Black ihn in eine Falle gelockt hatte und am Ende des Gangs ein blutrünstiger Werwolf auf ihn wartete. Severus wusste nicht, wieso, doch ein schauderndes Kribbeln hatte plötzlich seinen ganzen Körper erfasst und ließ ihn nicht mehr los.
In diesem seltsamen Augenblick wäre er tausend Mal lieber in die Schlacht gezogen und hätte sich auf Leben und Tod mit Bellatrix Lestrange duelliert, als Voldemorts Ruf in die Heulende Hütte zu folgen. Alles in ihm schien ihm fieberhaft entgegen zu schreien: Nein! Gehe nicht dort hinein! Kehre um!
Doch was war bloß der Grund für diese ungute Ahnung, die Severus beschlich, für dieses flaue Gefühl, dass sich in seinem Magen breit machte, diesen bitteren Geschmack der Gefahr, den er auf seiner Zunge spürte, sowie er in den Tunnel sah? Warum hämmerte sein Herz so laut und verzweifelt gegen seine Brust, fast so, als wollte es ihm mit aller Kraft etwas mitteilen?
Eine donnernde Explosion hallte durch die Nacht, vermischt mit gellenden Schmerz- und Angstschreien, und riss Severus jäh und schmerzlich in die Gegenwart zurück. Sei nicht lächerlich, sagte er sich selbst bitter, dort drinnen ist nichts und niemand, vor dem du dich auch nur fürchten müsstest. Einzig und allein Lord Voldemort wartet in der Hütte, und für einen vermeintlich treuen Todesser wie dich stellt er keine Gefahr da. Aber weshalb hielt ihn dann dieses bleierne Gefühl der grausamen, unaufhaltsamen Angst weiterhin gefangen?
Deine Angst ist vollkommen unbegründet. Du musst jetzt zu ihm gehen, wenn du Voldemorts Zorn nicht später zu spüren bekommen willst. Du musst jetzt zu ihm gehen, wenn du wissen möchtest, was er vorhat. Du musst wissen, was er vorhat. Denk an Potter. Denk an Lilys Sohn! Und Severus schluckte den gewaltigen Knoten einer bösen Vorahnung, der ihm den Hals zu schnürte, mühsam herunter und kroch entschlossen hinein in das enge Erdloch, tiefer und tiefer in den finsteren Tunnel zur Heulenden Hütte.
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