von LunaYazz
Auf allgemeines Draengen hin kommt hier auch schon Teil zwei des Epilogs ^_^ Im Gegensatz zu Teil eins ist er sehr lang, neben Kapitel 15 das laengste Kapitel bisher :)
Ich wuensche euch viel Spass beim Lesen, meine Lieben *knuddel*
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Epilog, Zweiter Teil:
Eine Begegnung von Schuld und Vergebung~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~
Dort saß Lily, die Beine übereinander geschlagen, auf der rechten Schaukel, deren schwere Eisenketten sie mit ihren zarten Händen locker umfasste.
Sie sah nach all den Jahren unverändert aus, keinen Tag älter als wie sie gestorben war. Genau so, wie Severus sie in Erinnerung hatte.
Die blasse Haut, die zierliche Figur, das hübsche, sanfte Gesicht. Das lange, herbstblattrote Haar, die strahlend grünen, warmen Augen. Sie trug ein blütenweißes, knöchellanges Kleid und eisblaue Sandalen, wie einst im Spiegel Nerhegeb.
Lily Evans saß wie eine wundervolle Erscheinung inmitten all des geisterhaften Graus und Severus starrte sie wie zu einem steinernen Denkmal seiner Selbst erstarrt an, sein Herz begann jäh, eine Art hysterischen Trommelwirbel in seiner Brust aufzuführen, so heftig zu pochen wie womöglich noch nie in seinem Leben. Augenblicklich fing er an, zu zittern.
Was er in jenem Moment empfand, konnte er unmöglich sagen; vielleicht waren all die Gefühle, die so unaufhaltsam auf ihn eindroschen, auch einfach viel zu viele auf einmal, als dass er sie wirklich erfassen konnte.
Lily schien Severus auch gesehen zu haben, wie er sie dort halb verborgen in den Blättern des Buschsaums stumm und regungslos anstarrte, denn nun blickte sie geradewegs zu ihm hinüber und ein strahlendes Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus, ein Lächeln, das Severus zwanzig Jahre lang so sehnlichst vermisst hatte.
Lily erhob sich eilig und lief rasch, ununterbrochen lächelnd und mit einem liebevollen Glanz in den verblüffend grünen Augen, auf Severus zu.
"Sev!" hauchte sie glücklich, und im nächsten Moment zog sie ihn in eine überschwängliche Umarmung, schmiegte ihr Gesicht fest an Severus' Schulter. Es raubte ihm den Atem, sein Gehirn schien wie betäubt.
"Sev..." wisperte sie erneut. "Oh, Sev!"
Als sie ihn losließ, strahlte Lily noch immer wie ihre eigene kleine Sonne.
"Endlich sehen wir uns wieder, was? Sev, ich - ach, setzen wir uns erst mal, okay?" Sie wies mit der Hand auf eine hölzerne Bank am anderen Ende des Spielplatzes, die im Schatten einer mächtigen Trauerweide dalag, deren Zweige sie wie ein blassgrauer Schleier umhüllten.
Schließlich gelang es Severus, wortlos zu nicken und ein schwaches, zittriges Lächeln zustande zu bringen.
"Na, dann komm!"
Severus folgte ihr mechanisch über den Platz, setzte sich, außerstande, seine Augen von Lily abzuwenden, langsam auf der schattigen Holzbank nieder. Lily setzte sich schwungvoll neben ihn, unentwegt strahlend. All das kam Severus auf irgendeine Weise so unglaublich irreal vor, dass ihn der schreckliche Zweifel nicht los ließ, es könne vielleicht bloß ein Traum sein, bloß ein unfassbar schöner Traum. Und bald schon würde er dann wieder in seinem vertrauten Schulleiterbüro erwachen, um in einen neuen tristen, feindseligen, eintönigen und einsamen Tag einzugehen.
Er würde es nicht ertragen.
Doch Lilys Hand, die nun so sachte und warm die seine ergriff, sie sagte ihm, dass dies hier einfach real sein musste.
"Es ist vorbei, Severus!" hauchte Lily und ihre Stimme brach vor Glück. "Deine Seele hat ziemlich lange gebraucht für die Reise hierher, weißt du - und es ist - bereits vorbei! Du-weißt-schon-wer ist tot, der Krieg ist vorüber! Mein Sohn hat ihn besiegt - er war so mutig! Oh, und ich durfte mit ihm reden, mit Harry! Und er lebt, Sev! Harry ist am Leben!
Also, es war so, Harry wollte sich selbst opfern, nachdem er deine Erinnerungen gesehen hat - Er ist in den Verbotenen Wald gegangen, er hat sich dort Du-weißt-scho... ach was, er ist doch tot, es ist vorbei, warum sollte ich ihn nicht beim richtigen Namen nennen? Er hat sich dort Voldemort entgegen gestellt und der hat ihn mit einem Todesfluch attackiert - Aber Harry hat überlebt, weil ja sein Blut in Voldemorts Adern fließt, du weißt schon, seit der es damals für seine Wiederauferstehung verwendet hat! Und dadurch - dadurch bestand eine magische Verbindung zwischen Voldemort und meinem Sohn, und Harry konnte nicht sterben, solange Voldemort lebte - Albus sagt ja, er hätte so etwas in der Richtung schon immer vermutet. Und Harry ist wieder aufgewacht und er hat Lord Voldemort getötet! Und - und - oh, Sev, es sind so viele in der Schlacht gestorben, sehr viele unserer Gefährten mussten ihr Leben lassen - im Kampf gegen die Todesser... Doch jetzt ist es endlich vorüber! Ach, und nun ja, Schloss Hogwarts ist natürlich auch ziemlich zerstört, aber sie werden es schon wieder aufbau'n können! Nun ist ja Frieden..." Sie wischte sich energisch die Augen und lächelte Severus heftig blinzelnd an.
Der nickte nur abermals steif. Ihm war schwach bewusst, dass es ihm noch Minuten zuvor alles bedeutet hätte, das zu hören, was Lily ihm nun so aufgeregt erzählte. Doch in diesem Moment erschien ihm die Erzählerin, die neben ihm unter dem staubgrauen Blätterbaldachin saß und seine Hand hielt, einfach unendlich viel wichtiger als ihr Bericht.
Lily. Severus konnte es schlichtweg nicht fassen, dass sie tatsächlich, greifbar, so lebendig und so glücklich nach all der Zeit nun wieder zu ihm gekommen sein sollte. Das Glück, das Severus berauschend durchströmte, war so unglaublich groß, dass er es nicht länger als Glück wahrnahm, sondern vielmehr als eine lähmende Taubheit, die Glieder und Gehirn erfüllte. Er wünschte sich dumpf seine übliche Redegewandtheit herbei, denn er wusste nicht, wie er auch nur irgendetwas von all dem, was er in jenem Augenblick empfand, irgendetwas von all dem, was er Lily ihn jenem Augenblick sagen wollte, in Worte fassen sollte. Er konnte nur starr und stumm die Frau anblicken, deren Verlust über so viele lange Jahre hinweg dunkle Schatten der Trauer und des Schmerzes über sein Leben geworfen hatten. Es war kein Tag vergangen, an dem er nicht in stechender Sehnsucht an Lily gedacht hatte, und nun glaubte er, in ihren tiefgrünen Augen zu versinken...
Doch in jene Augen trat nun, plötzlich, ein besorgter, ja, bestürzter Ausdruck.
"Oh, nein, Severus" stieß Lily hervor, "Verzeih mir, ich red' hier auf dich ein, wo du doch... Ich meine, ich verstehe natürlich, dass du das alles erst einmal verarbeiten musst. Es muss sehr hart für dich sein, jetzt auf einmal festzustellen, dass du ... nun ja, tot bist."
Hart? Das letzte Wort, mit dem Severus diese Situation je beschrieben hätte, war 'hart'.
Doch Lily blickte ihn in aufrichtigem Schuldbewusstsein an, drückte seine Hand jetzt fester.
"Tut mir Leid" murmelte sie.
Und diese drei nichtigen Worte, diese drei Worte, die aus Lily Evans' Mund so unendlich bedeutungsschwer waren ... sie brachen jäh etwas in Severus auf. Und es war, als würde er urplötzlich aus einer Trance, aus einem Rausch erwachen, denn nun erkannte er messerscharf und Atem raubend schmerzhaft, dass jene Situation, so unglaublich wundervoll sie auch sein mochte, einfach nur unerträglich falsch war.
"Nein" war das erste, leise gehauchte Wort, das Severus an Lily richtete.
Die stutzte einen Wimpernschlag lang, dann hob sie verwundert die Augenbrauen:
"Was - nein?"
Lilys Anblick brachte ihn ziemlich aus dem Konzept, also blickte Severus zu Boden in dem Versuch, die richtigen Worte zu finden.
"Das alles hier ist - falsch“, stieß er hervor. "Falsch, Lily. Du entschuldigst dich bei mir - für irgendetwas - Unbedeutendes. Du redest mit mir, als sei ich ein - netter alter Freund, den du nun endlich wiedersehen würdest. Dabei hast du allen Grund, mich mehr als nur zu hassen! Schreie mich an, Lily! Werfe mir all das an den Kopf, was ich dir angetan habe! Tu irgendetwas, aber du kannst nicht – du kannst doch nicht -" Er brach kopfschüttelnd ab.
Einen Augenblick lang herrschte drückende Stille.
Dann sagte Lily ruhig, aber nachdrücklich: "Sieh mich an, Sev."
Für einen Moment noch sah Severus ungerührt zu Boden, bevor er unsicher aufblickte.
"Hör mir bitte zu, ja?" meinte Lily behutsam.
Kurz zögerte Severus, doch dann nickte er langsam: "Ja."
Lily schaute ihm fest in die Augen und es war ihm plötzlich, als würde sie in seine Seele blicken wie es für gewöhnlich nur Dumbledore vermochte.
"Ich habe dir verziehen, Severus." sagte sie leise. "Ich habe dir schon lange, lange verziehen. Ich dachte, das wüsstest du, seit ich durch diesen Spiegel mit dir geredet hab. Du hast doch schließlich heraus gefunden, dass dieses Spiegelbild tatsächlich ich war, oder?"
"Ja - Ja, das habe ich, da hast du Recht“ erwiderte Severus gequält. „Aber - warum, Lily? Ich meine - das ergibt keinen Sinn - ich kann es nicht verstehen - es gibt doch keinen Grund für dich. Keinen Grund, mir zu verzeihen! Wenn ich du wäre, dann würde ich mich abgrundtief hassen - und so oder so hasse mich für das, was ich dir angetan habe, glaub mir, Lily - Ich -"
"Wahrheit." unterbrach ihn Lily schlicht. "Du fragst nach dem Warum? Warum ich dir verziehen habe, Sev? Nun, ich denk' mal, es ist zum großen Teil die Wahrheit."
Severus zog perplex die Augenbrauen zusammen.
"Die Wahrheit?" sagte er mit bebender Stimme. "Wie kannst du es die Wahrheit nennen, Lily?
Du denkst also -" setzte er an und er bemerkte, dass seine Stimme nun auf einmal von einer verzweifelten Bitterkeit erfüllt war, "Du denkst also, dies sei die Wahrheit. Schön.
Nun, die Wahrheit sieht so aus, dass ein gewisser Jemand einst den Todessern beigetreten ist, grausamen und rassistischen Schwarzmagiern - obwohl eine wundervolle Freundin ihm über Jahre hinweg jeden Tag aufs Neue gezeigt hatte, dass es überhaupt keinen Unterschied macht, ob man von Muggeln abstammt oder nicht. Oh, und selbstverständlich hat er die Freundin verloren, weil er sie aufs Schlimmste beleidigt hatte, als sie ihm gerade helfen wollte, wie auch sonst? Von da an stand dieser Jemand also in Lord Voldemorts Diensten, und als ihm eine Prophezeiung zu Ohren kam, nach der sein Herr durch einen mysteriösen Auserwählten gefährdet war, da lief er natürlich gleich zum Dunklen Lord hin und warnte ihn. Wohlwissend, dass der diesen neuen Feind, einen kleinen Jungen, augenblicklich töten würde, muss man anmerken." Severus stieß tief Luft aus, dann fuhr er ziemlich schroff fort:
"Nun, dann gab es da noch einen lustigen kleinen Zufall, denn die Mutter des auserwählten Jungen war ausgerechnet die alte Freundin des Jemands. Wie auch ihr Mann - wurde sie von Voldemort ermordet. Sie war einundzwanzig Jahre alt, als sie starb. Aber das Beste kommt noch. Fast zwanzig Jahre später wurde auch unser verräterischer Freund von Voldemort umgebracht, so spielt eben das Leben. Im Jenseits traf er dann seine tote Freundin wieder, und die begrüßte ihn überglücklich - wer hätte je etwas anderes erwartet? -, ohne auch nur ein Wort über so ein paar gewisse Dinge in der Vergangenheit zu verlieren, aber, ach, ist ja auch nicht wichtig. Selbstverständlich hat sie ihm all das, ihren frühen Tod schon längst verziehen, denn das ist natürlich die Wahrheit. Schön, Happy End. Eine wirklich wunderbare Geschichte." Severus schnaubte bitter, und abermals wich er Lilys Blick aus. Doch allein an ihrer Hand, die die seine jetzt nicht länger sanft hielt, sondern beinahe krampfhaft umklammerte, konnte er schon ihre Bestürzung spüren.
Warum tat er das? Warum machte er Lily unglücklich? Warum zerstörte Severus diese so unermesslich wundervolle Situation mit Worten, nach denen niemand verlangt hatte?
Er war auf eine Weise erstaunt über sich selbst. Noch einen Tag zuvor hätte er alles, wirklich alles gegeben, um Lily nur ein einziges Mal wiederzusehen, und sei es bloß für einen flüchtigen Augenblick. Und nun, nun saß er auf jenem traumhaft vertrauten Spielplatz, auf dem es niemanden gab außer Lily und ihm, und Lily hatte vor Freude gestrahlt, sie war so liebevoll zu Severus... Und doch kämpfte das unglaubliche, lähmende Glück darüber, das ihm schier den Atem raubte, mit Schmerz und brennendem Schuldgefühl, stechender denn je und nicht minder stark...
Lily, wie sie dort saß inmitten all des schemenhaften Graus - unverändert jung wirkte sie auf einmal so klein, so zerbrechlich - sie war der grausame Beweis seiner Schuld.
Der sanfte Blick ihrer Augen, der offene, freundliche Ausdruck in ihrem zarten Gesicht, ihre warme Hand, die seine hielt, ihre netten, herzlichen Worte ... das alles war so unfassbar schön, dass es Severus noch immer nicht gewundert hätte, würde er plötzlich im stählernen Morgenlicht in seinem Bett aufwachen und feststellen, dass es nur ein Traum gewesen war. Doch zugleich konnte er all das nicht ertragen, denn er verdiente es nicht, er verstand es auch nicht...
"Severus" setzte Lily behutsam an. "Severus, hör' mir bitte zu. Wahrheit, das ist nur ein Wort, das wir Toten für die Art und Weise verwenden, in der wir denken und fühlen. Im Gegensatz zu den Lebenden, weißt du. So ganz uneingeschränkt von uns selbst, von den Grenzen, die uns unser Körper setzte - Denn natürlich besitzen wir beide keinen Körper mehr!
Auch wenn es sich für dich so anfühlt, es kommt dir eben so vor, weil du nichts anderes kennst, verstehst du? Man sieht die Welt nicht wie sie ist, sondern so, wie man sie sehen will. Außerhalb den Einschränkungen der Erde gilt dieses Sprichwort manchmal tatsächlich. Also, wo war ich grade...
Im Seelenreich ist man viel mehr in der Lage, die Dinge so zu verstehen, wie sie - wie sie eben wirklich sind. Wir werden nicht so beeinflusst von - was weiß ich - Wut, Hass, Verletztheit, Bitterkeit, Stolz ... all den Gefühlen, die im Grunde zu nichts führ'n. Wir stehn uns selbst nucht im Weg und wir neigen dazu, unsere eigenen Fehler sehr kritisch ... sehr realistisch zu betrachten. Und die Fehler der andern sehr verständnisvoll. In dem man sich in andere hineinversetzt, wird man automatisch nachsichtiger. Ich würd' sagen, das ist die Wahrheit."
Ein langer Moment des Schweigens, in dem Severus langsam wieder zu Lily aufblickte, die ihn unentwegt sanft und liebevoll ansah und ihm nun ein zögerliches Lächeln schenkte.
Dann sagte er, mühsam darauf bedacht, seine Stimme unter Kontrolle zu halten: "Also... Lily ... du meinst, du siehst die Dinge so, wie sie wirklich sind. Doch es ist so, dass ich der Verräter bin, wegen dem du gestorben bist. Es ist so, so stehen eben die Dinge."
Lily seufzte leise. "Sev, ich hatte erwartet, du wärst glücklicher, mich wiederzusehen, aber anscheinend -"
"Ich bin glücklich darüber!" fuhr Severus hastig dazwischen, und im selben Augenblick bemerkte er beschämt, wie rau seine Stimme klang. "Lily, du kannst dir wirklich nicht vorstellen, wie glücklich ich bin, dich zu sehen. Es ist nur... ich meine, es ist -"
Nun war es an Lily, Severus zu unterbrechen: "Ich weiß, Sev. Natürlich verstehe ich es völlig. 'Tschuldigung, ich hab mich blöd ausgedrückt. Was ich eigentlich nur sagen wollte, du bist gerade erst tot, du bist noch halb in deinem Leben gefangen, und du bist noch nicht zurück in den Ursprung gekehrt. Und dennoch denk' ich, dass du bereits ein wenig von der Wahrheit spürst. Denn wär es nicht viel bequemer für dich, die Sache einfach gut sein zu lassen? Wo du merkst, dass ich dich überhaupt nicht hasse - im Gegenteil. Aber du hast wohl Recht.", sie lächelte leicht gezwungen, "Wir sollten das Thema durchziehen."
"Ja" brachte Severus nur hervor. "Ja, das sollten wir tatsächlich."
Lily atmete tief ein, dann sagte sie langsam: "Severus, ich sehe dich nicht als Verräter. Wirklich nicht. Ich weiß, dass du mich niemals wissentlich verraten hättest. Und damals hast du dein Leben riskiert, um mich vor Voldemort zu schützen. Monate vor meinem Tod hast du dich schon wieder auf Dumbledores Seite gestellt und bei den Todessern spioniert, was wirklich mehr als nur hochgefährlich war. Du hast alles getan, um mich zu retten. Peter ist ein Verräter, Sev, aber nicht du."
Severus öffnete den Mund, schloss ihn jedoch wieder, ohne irgendetwas gesagt zu haben. Jene Worte aus Lilys Mund zu hören, die Wahrheit in diesen Worten, all das ließ in ihm jäh ein heftiges Gefühl aufwallen wie ein unglaublich starkes Lebenselixier, das warm seinen Körper durchströmte und sein Herz in Hysterie brachte. Doch das konnte, das durfte er sich nicht eingestehen, denn das war unaushaltbar falsch. Er unterdrückte das leise Lächeln, das sich nun plötzlich auf seinem Gesicht ausbreiten wollte. In dem er all die traumhafte Schönheit, die eigentlich diese Situation bestimmte, zulassen würde und vergessen, dass er sie nicht verdiente. Stattdessen meinte er zerknirscht:
"Lily, du hast zwar Recht - ich hätte es nicht getan, wenn ich gewusst hätte, dass der Auserwählte dein Sohn ist. Aber ich habe den auserwählten Jungen verraten! Ein kleines Kind!"
Severus bereute seine Worte bereits wieder, noch während er sie sprach, seinen erneuten Versuch, Lily davon zu überzeugen, dass sie ihn in Wahrheit hassen müsste. Doch zugleich wusste er auch, und er schärfte es sich fieberhaft grimmig ein, dass er in dieser so falschen, so widersinnigen Situation gerade das einzig Richtige tat.
Lilys Ton war um eine winzige Spur kühler, doch ihre smaragdgrünen Augen glommen unverändert warm, als sie jetzt prompt meinte: "Natürlich hast du die Prophezeiung an Voldemort verraten. Der Auserwählte war eine große Gefahr für ihn und selbstverständlich wolltest du als sein Todesser Voldemort vor diesem fremden Jungen warnen."
"Ja, stimmt" stieß Severus tonlos hervor, und nun spürte er den Zorn wiederkehren, erfüllt von erneut aufkeimendem kaltem Hass auf sich selbst. "Ich habe es für Voldemort getan. Für meinen grausamen Herrn, den ich auf jeden Fall schützen musste, damit er auch schön weiter morden kann. Die Frage, die sich bei der ganzen Sache stellt, ist nur" fügte er mit bebender Stimme hinzu, und dann, bevor er sich daran hindern konnte: "Warum bin ich überhaupt Voldemorts Diener geworden? Warum bin ich den Todessern beigetreten, warum habe ich ihnen bei ihrem grausamen, sinnlosen Vorgehen gegen Muggelgeborene - gegen Muggelgeborene wie dich - geholfen? Ich war Voldemorts treuer Gefolge, sein Spion. Ich habe zugesehen bei den schrecklichen Taten meiner – nun, meiner praktischer veranlagten Verbündeten. Warum habe ich das getan, Lily? Warum?" Er schrie nun beinahe, und all die verzweifelte Wut, die Severus seit Jahren und Jahrzehnten auf sich empfand, sie erreichte beim Blick in Lilys noch immer von unerträglicher Sanftheit erfüllte Augen ihren brodelnden Siedepunkt. Abrupt stand er auf von der Bank unter dem wogenden Schleier der Weidenzweige, entwand seine zitternde Hand ruckartig Lilys Griff.
Lily sah ihn nach wie vor in geduldiger, unerschütterlicher Ruhe an, nur ein wenig besorgt schaute sie zu ihm hoch, und Severus musste sich stark beherrschen, ihr keinen äußerst bösen Blick zuzuwerfen. Stattdessen ballte er seine Hände zu Fäusten und stierte abermals entschlossen zu Boden. Alles Glück in ihm war nun fast gänzlich versiegt, vertrieben von schrecklichem Zorn und Bestürzung, die lodernd in ihm pulsierten. Und das, obwohl dort Lily Evans saß, Lily, lebendig wie eh und je und vorbehaltslos bereit, ihm alles zu verzeihen. Severus verstand sich selbst nicht mehr.
Das Schweigen, das auf dem geisterhaften Spielplatz lastete, war erdrückend. Schließlich sagte Lily dann leise: "Sev, ich kann dir deine Frage beantworten."
Severus sah weiterhin wortlos zu Boden, mühsam um Beherrschung ringend. Er konnte es nicht ertragen, Lily anzusehen. Schwach war ihm bewusst, dass er sich gerade wie ein ziemlicher Idiot aufführte, doch es war ihm in diesem Moment gleichgültig.
"Ich will nicht sagen, Severus, dass ich es gut von dir finde, dass du damals ein Todesser warst, und dass du die Prophezeiung um Harry an Voldemort verraten hast. Ich will nicht sagen, dass ich es nicht mehr als schrecklich von dir finde. Aber ich kann verstehen" sagte Lily nachdrücklich, "warum du es getan hast. Warum du dich Voldemort angeschlossen hast. Ich meine, als Kind hattest du niemanden; selbst deine Eltern haben dich ziemlich vernachlässigt. Als du nach Hogwarts kamst, hast du in deinem Haus Slytherin dann endlich ein paar Freunde gefunden, vielleicht falsche Freunde, angebliche Freunde, aber dennoch Menschen, die etwas mit dir zu tun haben wollten. Ja, ich weiß, Sev, du hattest auch mich, aber haben wir uns den ganzen Tag gesehn? Nein! Ich war in Gryffindor und ich hatte dort ebenfalls auch andere Freunde als dich.
Deine Freunde in Slytherin also haben dich ununterbrochen beeinflusst. Sie hatten diese geistesgestörte Haltung gegenüber Muggelgeborenen, und sie bewunderten Voldemort so sehr, alles Einstellungen, die sie von ihren reinblütigen Eltern hatten. Und du bekamst diese Einstellungen Tag für Tag von ihnen eingetrichtert. Ja, du hättest dich nicht beeinflussen lassen sollen, wo deine beste Freundin eine Muggelgeborene war, das ist mir klar, aber auch dein Vater war ein Muggel und der hat deine Mutter, eine Hexe, immer unterdrückt und dich, seinen eigenen Sohn, nun ja ... man kann fast sagen verachtet, bloß weil du die Magie in dir hattest.
Dann warst du ein sehr talentierter Junge, ein außergewöhnlich begabter Zauberer. Doch dafür hast du nicht die Anerkennung bekommen, die du eigentlich verdient hättest, nein, du warst ziemlich unbeliebt und wurdest oft verspottet ... woran James und seine Freunde nun wirklich nicht unschuldig war'n. Und man kann nicht so tun, als wärst du nicht von der Schwarzen Magie fasziniert gewesen. Schließlich lag in ihr deine größte Begabung, du hast dir die schwierigsten Flüche aus dem Hemdsärmel geschüttelt. Mit den Dunklen Künsten konntest du dich bei den anderen Slytherins beweisen. Und du hast dir den Respekt verschafft, den du nie bekommen hattest, nicht einmal von deinen Eltern, denn - du konntest gefährlich sein, das wusste jeder."
Lily holte tief Luft und seufzte leise. Als sie dann weitersprach, blickte auch sie zu Boden: "Du weißt, Sev, all das war der Grund, warum ich unsere Freundschaft damals - beendet habe. Das war für dich ein sehr schwerer Schlag. Natürlich, ich hab dir oft genug gesagt, dass ich deine Freunde aus Slytherin genau wie deinen Hang zur Schwarzen Magie wirklich verabscheue, aber ich habe dich nie vor eine klare Entscheidung gestellt: Entweder sie oder ich. Im Nachhinein finde ich, dass ich das hätte tun müssen an dem Tag ... an dem ich dich aufgegeben habe. Ich weiß nun, wie du dich entschieden hättest. Aber ich wollte nichts mehr von dir wissen, und so hattest du niemanden mehr außer deine - wie hab ich sie immer genannt? - netten kleinen Todesserfreunde, für die bereits vollkommen klar war, dass du dich mit ihnen Lord Voldemort anschließen würdest. Im Grunde hattest du eigentlich niemanden mehr außer dich selbst, denn diese sogenannten Freunde haben dich nie wirklich verstanden. Du warst voller Hass auf alles in der Welt und hattest nichts mehr zu verlieren, und gleichzeitig warst du auch sehr unsicher, was dein ganzes Leben betraf. Du suchtest ein Ziel im Leben, und wenn es bloß eine geisteskranke Ideologie war. Du wolltest zu einem Kreis der Mächtigen gehören. Du strebtest nach Anerkennung und, wie gesagt, dem Respekt den du nie bekommen hattest. Auch wenn du für Voldemort natürlich immer nur ein Mittel zum Zweck warst ... das er wegwerfen konnte, als er es nicht mehr brauchte.
Nun, ich denk' mal, deswegen bist du damals Todesser geworden" schloss Lily bestimmt und blickte Severus nun wieder an, "Man kann über die Fehler, die du gemacht hast, urteilen wie man möchte, aber nun wirklich, wie lange ist das her? Wie alt warst du, als du dich Voldemort angeschlossen hast, Severus - achtzehn? Und wieder auf Dumbledores Seite übergetreten bist du mit knapp einundzwanzig. Denkst du ernsthaft, dass das alles jetzt noch von Bedeutung ist?"
Severus antwortete nicht. Doch ließ er sich jetzt langsam wieder neben Lily auf die Bank sinken und sah zögernd, unsicher zu ihr auf. Die Wut, die ihn eben noch so flammend heiß durchströmt hatte, sie war abgeflaut, gänzlich verschluckt von sprachloser Verblüffung, von ergriffener Rührung über Lilys einfühlsame Rede. Dort saß sie nach all den Jahren wieder neben ihm wie damals und schien ihm nicht nur weitaus bereitwilliger zu verzeihen, sondern ihn auch viel besser zu verstehen als er selbst. Severus wusste nicht, wie er das, was er fühlte, wenn er in ihre wundervoll vertrauten, von so aufrichtigem Verständnis erfüllten Augen sah, je in Worte fassen könnte, doch nach einigen langen Momenten brach er die geisterhafte Stille auf dem staubgrauen Spielplatz schließlich:
"Lily, aber ... damals, da konntest du mir - auch nicht so leicht verzeihen wie jetzt ... Du weißt, du wolltest unserer Freundschaft auf keinen Fall mehr eine Chance geben ... Also, das soll jetzt nicht wie ein Vorwurf oder so etwas klingen, keinesfalls. Ich verstehe es nur nicht ... Ich meine, nun bist du gestorben und -"
"Richtig" sagte Lily und grinste milde, "In der Zwischenzeit bin ich gestorben. Und hatte fast siebzehn Jahre lang Zeit, außerhalb der Grenzen meines Körpers über all das nachzudenken. Sev, ich gebe dir nicht die Schuld an meinem Tod" fügte sie ernst hinzu, "Wirklich nicht. Ich geb Voldemort die Schuld, der mich kaltblütig ermordet hat, und ich geb Peter die Schuld, dem mein Tod völlig gleichgültig war, der ihn in Kauf genommen hat für seine Ziele, oder aus Feigheit, keine Ahnung. Aber nicht dir, wo du alles getan hast um mich zu schützen, wo du die ganzen Jahre lang weitaus mehr unter meinem Tod gelitten hast als ich selbst. Wo du dein ganzes Leben verändert hast für mich. Da könnt' ich ja auch Harry die Schuld geben, immerhin bin ich für ihn gestorben. Oder James, denn das auserwählte Kind war ja schließlich von ihm." Ein leises Lächeln zuckte um Lilys Mundwinkel, und Severus wurde etwas peinlich berührt bewusst, dass Lily wohl sehr genau wusste, in welche hasserfüllten Gedanken er sich die letzten siebzehn Jahre über gesteigert hatte. "Doch mal im Ernst, Severus, Leuten die Schuld zuzuweisen ist ja immer so einfach, es kann auf eine gewisse, grimmige Weise so unglaublich befriedigend sein, von seinem Schmerz und seinen Problemen in Hass auf andere Menschen zu entflüchten, in Wut und in Rachegedanken – hab ich nicht Recht, Severus? Aber auf der anderen Seite lindern all die Gemeinheiten, all der Hohn und all der Spott gegenüber anderen den tiefen Schmerz im Inneren dann doch nicht, oder?
Aber mir ist schon lange klar geworden, dass die Folgen unsrer Handlungen so verwoben, weißt du, so vielschichtig sind, dass man oft gar nicht von Schuld reden kann. Wenn du die Prophezeiung damals nicht an deinen Herrn weitergegeben hättest, dann wär Harry zum Beispiel auch nie von Voldemort als ebenbürtig gekennzeichnet worden. Es hätte überhaupt keinen Auserwählten gegeben und Voldemort würde noch immer leben, seine Schreckensherrschaft würde noch immer bestehn."
"Aber dennoch - wäre ich nicht gewesen, dann wärst du noch am Leben! Dann wärst du noch glücklich mit deiner Familie am Leben, Lily!" zwang sich Severus, hastig hervor zu sprudeln, bevor er sich selbst eingestehen konnte, wie unermesslich viel ihm das, was Lily sagte, in Wahrheit bedeutete.
"Denkst du wirklich?" meinte Lily kühl. "Denkst du wirklich, dass ich noch am Leben wäre? Selbst wenn Voldemort mich damals nicht deswegen ermordet hätte, weil er wusste, dass mein Sohn eine Gefahr für ihn war? Das denk' ich aber nicht. Überleg doch mal, Voldemorts Angriff auf Harry bedeutete ja auch, dass Voldemort fast dreizehn Jahre lang seiner Kraft beraubt wurde. Wenn er nicht versucht hätte, Harry zu töten, dann hätte er in all seiner - seiner mörderischen Macht weiter gelebt, ganz zu schweigen davon, dass niemand ihm je Einhalt geboten hätte - wie gesagt, es hätte keinen Auserwählten gegeben.
Voldemorts Macht wäre heute wohl längst ins Unermessliche gestiegen, und das wahrscheinlich nicht nur in England - wer sagt, dass dann nicht bereits auch andere Länder unter seinem grausamen Regime stehen würden? Unzählige Muggel und Zauberer mehr wären in all den Jahren durch Voldemort gestorben, als sowieso schon, in Wirklichkeit, ihr Leben lassen mussten. Womöglich würde Voldemorts Schreckensherrschaft sogar ewig währen, denn durch seine ganzen Horkruxe war er ja so gut wie unsterblich!
Und ich wäre ja wohl schon lange tot. Immerhin gehör' ich nicht nur zu den Muggelgeborenen, die Voldemort so dringend loswerden wollte, sondern war auch noch ein Mitglied des Phönixordens. Ich würde sagen, dass ich so oder so ziemlich weit oben auf seiner Abschussliste stand. Eine vollkommene Herrschaft Voldemorts hätten James und ich zumindest gewiss nicht lange überlebt.
Und, ach übrigens, Severus: Diese Schreckensvision, du weißt schon, uneingeschränkte Macht Voldemorts und so was, sie hätte natürlich immer noch eintreten können, wenn Harry sich nicht heute aufgemacht hätte, sich zu opfern. Will heißen, wenn du in deinem Tod nicht so unglaublich tapfer gewesen wärst. Du warst ... am Verbluten, du hast die schlimmsten Schmerzen erlitten, aber dennoch hast du noch immer an höhere Ziele, an deine Nachwelt gedacht, und Harry deine Erinnerungen übergeben. Aber das nur so am Rande." schloss Lily. Ihr Ton war geradezu überdeutlich gemessen distanziert, ganz so, als würde sie einem sehr begriffsstutzigen Menschen etwas völlig Selbstverständliches erklären. Doch das Lächeln, das sie nun nicht daran hindern konnte, auf ihr Gesicht wieder zu kehren, war breiter denn je und voller Wärme: "Ich danke dir dafür sehr, Sev."
Niemals in seinem Leben hatte Severus bloß annähernd so oft die Sprache gefehlt wie auf jenem gespenstischen Spielplatz der jenseitigen Welt. Wortlos starrte er nur in Lilys Gesicht.
Über das, was sie ihm nun sagte, hatte er in siebzehn Jahren tatsächlich nie zuvor nachgedacht, geblendet von all seinem verzweifelten Schuldgefühl. Hatte sich vielleicht auch vor sich selbst im Grunde einfach nicht getraut, darüber nachzudenken. Doch er konnte nicht leugnen, wie viel Sinn Lilys Worte ergaben.
Und er konnte nicht leugnen, wie sehr sie ihn nun, wie eine jähe Erleuchtung, in ihren wärmenden Bann zogen. Er konnte das unermesslich erleichternde Gefühl nicht leugnen, das urplötzlich in ihm aufkeimte, das Gefühl, er würde sich buchstäblich vom Boden loslösen und schweben, seine bleischwere Gewissenslast in dem Moment weit unter sich zurücklassen...
Aber nein, weshalb fühlte er sich so erleichtert? Bloß, weil Lily ihm sagte, dass sie auch ohne ihn schon lange tot wäre? Das war erbärmlich.
Bloß wegen einer merkwürdigen, schicksalhaften Verkettung von Umständen und Zufällen, die Severus' eigene Schuld nicht im Geringsten minderten?
Doch wäre es eine Lüge, zu sagen, dass diese von Lily offenbarte Gewissheit kein Balsam für seine schuldgeplagte Seele sei.
Jene plötzlich so offensichtlich, so selbstverständlich logisch erscheinende Gewissheit, dass Lily, dieser wundervolle Mensch, auf kurz oder lang auch ohne Severus ermordet worden wäre, dass sie auch dann kein glückliches Leben führen würde, wenn er nie existiert hätte...
So makaber es auch klang, darüber erleichtert zu sein ... diese Gewissheit schien plötzlich alles zu verändern. Alles zu verändern, nicht minder als die Tatsache, dass Lily selbst sie ausgesprochen hatte.
Lily, die Severus überwältigend liebevoll alles verzieh. Und die ihm nicht, wie er anfangs so bohrend schmerzhaft geglaubt hatte, aus Naivität, aus Gutmütigkeit oder Leichtsinn verzieh, nein, sondern aus einer ganzen Reihe greifbarer, fast schon nachvollziehbarer Gründe heraus...
Doch nichts veränderte etwas daran, dass Severus ein erbärmlicher Verräter war!
Aber hatte Lily nicht gesagt, er sei kein Verräter? Nicht er, der alles getan hatte, um sie zu schützen...
Er war ein Todesser gewesen! Er hatte ein kleines Kind an Lord Voldemort verraten! Das ließ sich nicht schön reden!
Es ließ sich keinesfalls schön reden, gewiss, aber Lily meinte selbst, sie könne Severus verstehen... Und sagte sie auch, all diese Dinge, die fast zwanzig Jahre zurück lagen, sie seien nicht länger von Bedeutung...
Hatte sie da im Grunde nicht Recht? Hatte Severus nicht seither alles für Dumbledore, alles für die gute Seite getan, sein Leben unzählige Male für den Orden des Phönix riskiert? Hatte er nicht viele unschuldige Menschen vor dem Tod bewahrt und am Ende dazu beigetragen, dass Lord Voldemort besiegt wurde, dass Frieden einkehrte?
Durch seine Tapferkeit, wie Lily sagte?
Das eine hatte mit dem anderen nichts zu tun!Aber ... dieser atemberaubende Gedanke schlich sich jetzt überraschend und unwillkürlich in Severus' Geist ... wenn Lily ihm verzeihen konnte, warum sollte er dann nicht auch bereit sein, sich selbst zu verzeihen?
“Severus?“, meinte Lily leise, doch er nahm es kaum wahr.
Warum sollte er nicht über seinen eigenen pechschwarzen Schatten des Schuldgefühls und des Schmerzes springen, warum sollte er das düstere Gefängnis seiner Vergangenheit nicht endlich, endlich hinter sich zurück lassen? Denn hier und jetzt war Lily wieder bei ihm, so freundschaftlich und so lebendig, so glücklich wie eh und je...
Lily, er saß tatsächlich und wahrhaftig mit seiner Lily unter dem staubgrauen Blätterschleier...
Das Glücksgefühl, fast gänzlich von Schmerz und Selbsthass, Zorn und Zerknirschtheit vertrieben, strömte nun jäh in Severus zurück, so wunderbar heftig, dass es ihm die Luft nahm, sein Herz schier zu sprengen schien... Und in jenem unglaublichen Augenblick wurde dieses berauschende Glück von nichts getrübt, Severus blickte in Lilys Gesicht und er wusste, er war nach Jahren des verzweifelten Umherirrens endlich wieder zuhause angekommen, nach Jahren der Gefangenschaft endlich wieder frei, nach Jahren der Leblosigkeit durch seinen Tod endlich wieder zu neuem Leben erweckt worden...
Dann jedoch meldete sich leise wispernd die gehässige Stimme in Severus' Hinterkopf zurück, irgendwo am Rande seines Bewusstseins:
Aber hast du das verdient?
Doch vielleicht, vielleicht hatte er das sogar verdient, schoss ihm jetzt beinahe ekstatisch ein Gedanke durch den Kopf, der gegen ihn selbst zu rebellieren schien…
"Sev!" riss ihn da milde amüsiert und nun deutlich lauter Lily abrupt aus seinem Sturm der Emotionen, "Also, ich kann natürlich auch noch ein paar Stunden hier sitzen und dir dabei zusehen, wie du mit dir selbst kämpfst - nicht, dass es mich irgendwie stören würde, ganz im Gegenteil, ich find's hochspannend - aber eigentlich könntest du jetzt langsam doch mal das, was du wirklich fühlst und fühlen möchtest, siegen lassen, oder etwa nicht?" Sie schenkte Severus ein augenzwinkerndes, traumhaftes Lächeln und einige fast schon bewundernde Perplexität darüber, dass Lily in ihm zu lesen schien wie in einem offenen Buch. "Weil, ich bin ja eigentlich hier her gekommen, um dich abzuholen, du weißt schon, dich mit mir zunehmen -"
"Warte, du bist gekommen, um mich mit dir zu nehmen?", meinte Severus erstaunt, "Wohin, Lily?"
Er fühlte sich einigermaßen benebelt.
"Na, ins Seelenreich!" entgegnete Lily, als sei dies das Selbstverständlichste der Welt.
"Ach ja, stimmt. Darauf hätte ich auch selbst kommen können.", sagte Severus langsam und blickte Lily fragend an.
Lily lachte ihr bezauberndes, vergnügtes Lachen. "Ach, Sev. Dorthin, wo ich mit all den anderen Seelen seit meinem Tod bin! Oder dachtest du ernsthaft, ich würde seit siebzehn Jahren auf diesem Spielplatz hier rumhocken? Wohl kaum, oder?"
"Oh, nein" sagte Severus, "Nein, das dachte ich dann natürlich auch nicht."
Doch in Wahrheit war er sich nicht ganz sicher, was er gedacht hatte. Selbstverständlich hatte Severus von dem Moment an, da er Lily erblickte, keinen einzigen Gedanken mehr an die Tatsache verschwendet, dass er selbst soeben gestorben war oder sich gar die Frage gestellt, wie es jetzt mit ihm weitergehen würde. Doch es erstaunte ihn nun ziemlich (und es hätte ihn noch weitaus mehr erstaunt, wäre er der Klang ihrer Stimme zum Trotz dennoch ebenso klar wie üblich im Kopf gewesen) dass er auch Lily überhaupt nicht danach gefragt hatte, wo sie sich seit all der Zeit befand.
"Es tut mir Leid, Lily, dass ich dich das nicht schon längst gefragt habe." meinte Severus jetzt leicht verlegen. "Aber was ist das für ein Ort, an dem du seit all den Jahren bist?" fügte er in nun, urplötzlich, schier herzschlagbeschleunigend ungeduldigem Interesse hinzu. "Dieses Seelenreich?" Er hielt einen Wimpernschlag lang inne, sein Blick verweilte in Lilys amüsiert funkelnden Augen, in denen er die unermesslich erleichternde Antwort bereits zu leicht lesen konnte, und doch setzte er noch die zögernde Frage nach: "Kommst du dort klar damit, dass du ... dass du tot bist?"
"Nun" erwiderte Lily prompt und lehnte sich lässig zurück, "Wenn ich nicht damit klar kommen würde, dann hätte ich mich schon längst um eine Wiedergeburt bemüht, Sev, oder?
Und du fragst, was für ein Ort das Seelenreich ist? Also, es ist ...", und jäh trat ein verträumter Ausdruck in ihre Augen, ihr Blick schweifte in graue Ferne, "Es ist, weißt du … es ist einfach … es ist, ach was, es ist nicht zu beschreiben! Nicht annähernd mit irgendeinem irdischen Ort zu vergleichen, wirklich. Und ich rede nicht nur von der äußeren Schönheit des Seelenreichs. Du wirst seine Harmonie auch in dir selbst finden. Und die Freiheit. Gegen diese Welt wirkt die Erde schon fast wie ein Gefängnis! Aber es bringt nichts, dir das jetzt alles zu sagen, du wirst es ohnehin nicht verstehen, bevor du es selbst gespürt hast. Also komm'", Lily blinzelte kurz und richtete ihren Blick dann wieder fest auf Severus, ein strahlendes Lächeln erblühte auf ihrem Gesicht, "Lass uns gemeinsam dahin aufbrechen!"
Doch Severus zögerte. So ungekannt schwerelos er sich in jenem Augenblick auch fühlte, schlichen sich nun wieder Zweifel leise in sein Gehirn …
Listig wispernde, schattene Zweifel …
Bevor ihn diese Zweifel jedoch abermals schmerzhaft überwältigen, ja, bevor sie überhaupt wahrhaft in ihm Form annehmen konnten, riss Lily Severus schneidend aus seinen unbehaglichen Gedanken:
“Und mach dir darüber jetzt bitte keine Sorgen, Sev, du hast das Seelenreich ebenso sehr verdient wie bei mir zu sein! Oder meinst du vielleicht sogar, das Seelenreich sieht das anders?“, fügte sie, exakt Severus’ Zweifel treffend, scharf hinzu wie die begabteste Legilimentorin. „Worum geht es dir denn? Schon wieder um deine Jahrzehnte zurückliegende Zeit als Voldemorts Spion und Diener? Oder kommst du jetzt vielleicht ganz plötzlich auf die Idee, dass du dir, vom Standpunkt des Todes aus gesehen, auch in deinem späteren Leben nicht nett genug warst? Nun, sobald sie tot sind, sehn die meisten Menschen ganz urplötzlich all ihre Fehler ein, jammern rum und haben allesamt Angst vor dem was kommen mag. Ich könnte dir jetzt abermals aufrichtig sagen, dass ich dich auf gewisse Weise verstehe und dass all deine Fehler bloß menschlich waren, aber wir wollen schließlich langsam mal los und das alles spielt doch hier auch keine Rolle mehr.
Ich sag dir nur, die ganzen Ängste sind unbegründet. Deine und die jedes anderen.“, stellte sie vehement klar, „Egal, was du nun wieder über dich denken magst - das Seelenreich schließt keine Seele aus. Immerhin ist es die wahre Heimat aller Seelen - nicht nur der Ort, an den jeder nach seinem Tod geht, sondern auch der Ort, von dem wir alle kommen. Nur solche Seelen, die wirklich - beschädigt sind, die zerrissen sind, nur sie werden keinen Zugang mehr dorthin haben. Da sie keine vollständigen Seelen mehr sind, verstehst du. Alle anderen jedoch schon.
Und jetzt komm’ mir nicht wieder damit, wobei du in deiner dunklen Zeit vor zwanzig Jahren alles zugesehen hast, und auf welche Weisen du Lord Voldemorts Vorgehen damals alles unterstützt hast – du hast nie die Hand angelegt und einen Menschen ermordet, oder? Ich denke, dass nur ein Mord eine Seele auseinander reißt.
Und deine Seele ist offensichtlich vollkommen intakt. Schließlich sehe ich hier nichts als sie vor mir, und du siehst wirklich völlig in Ordnung aus, glaub mir. Und selbst wenn deine Seele tatsächlich irgendwann einmal beschädigt gewesen wäre – dann hätte deine Reue sie über all die Jahre hinweg wieder geheilt. Bloß wahre, schmerzhafte und quälende Reue kann eine zerrissene Seele wieder zusammenfügen, weißt du.“ Sie strich sich eine herbstblattrote Haarsträhne aus dem Gesicht und blickte Severus eindringlicher und zugleich sanfter denn je in die Augen, als sie fortfuhr: „Sev, es ist Zeit, dass du das alles endlich hinter dir lässt. Diese ständigen Schuldgefühle über Dinge, die so lange her sind. Das Einzige was hier noch zählt ist doch, dass ein Mensch in seinem Leben mehr Gutes als Schlechtes bewirkt, mehr Nutzen als Schaden gebracht hat. Und das hast du, das hast du auf jeden Fall. Allein schon als Spion für den Orden. Du hast vielen Menschen das Leben gerettet. Und wie gesagt, bloß indem du deine Erinnerungen tapfer Harry gabst, hast du ganz Großbritannien schließlich Frieden gebracht!“
“Du hast ja Recht, Lily“ erwiderte Severus nur leise lächelnd auf ihren energischen Monolog. Ihre diese Worte hatten seine letzten Zweifel und Einwände hinfort geweht wie ein befreiender Windstoß. Anfangs noch voll Verwirrung, voll Zorn und Bestürzung, empfand er mittlerweile, dass Lilys bedingungslose Vergebung ihm zuließ, sich nun nach so vielen Jahren auch endlich, endlich selbst zu verzeihen. Konnte es denn wirklich so einfach sein?
Nichts erschien ihm mehr bedeutsam als Lily, jene strahlende Erlöserin, die er erst nach dem Tod hatte finden können.
Wie gelang ihr das bloß? Wie gelang es Lily, die stählernen Fäden des luftraubenden Korsetts seiner Schuldgefühle allein mit ihren Worten nach und nach zu lösen?
Severus wusste es nicht. Das Gefühl der Berauschtheit umfing ihn nun stärker denn je.
“Ich weiß“, sagte Lily bloß schulterzuckend, doch Severus konnte die Erleichterung in ihren Augen erhaschen. „Also, wie sieht’s denn jetzt aus? Möchtest du mit mir ins Seelenreich, Severus?
Ich meine, du kannst natürlich auch hier bleiben, falls dir das lieber ist“, fügte sie hastig hinzu. „Du weißt schon, auf diesem Spielplatz, wenn es dir dort so gut gefällt. Ich wär' dann halt nur ganz umsonst gekommen, Sev." Sie grinste verschmitzt.
"Nein danke, Lily. Ich glaube, darauf verzichte ich lieber. Auch wenn all diese faszinierenden Grautöne hier natürlich eine großartige Atmosphäre schaffen.", entgegnete Severus trocken und er erwiderte Lilys Lächeln aus vollem Herzen. Ein endlos befreiendes Gefühl.
"Also kann ich diese Antwort als ein 'Ja, ich will' werten?" meinte Lily munter. "'Ja, ich will mit dir in dieses komische Seelenreich'?"
"Auf jeden Fall", sagte Severus und er lachte. Sein Lachen klang seltsam fremd in seinen Ohren, ja vollkommen unbekannt, neu, so lange hatte er es nicht gebraucht. Er war wieder an dem Punkt angelangt, da ihn das milde Gefühl überkam, das alles sei so traumhaft, dass es eigentlich nur noch irreal sein konnte. Doch vielleicht lag das auch bloß daran, dachte er vage, dass er schlichtweg vergessen hatte, wie es war, glücklich zu sein. Schlichtweg vergessen hatte, wie es war, frei zu sein. Schlichtweg vergessen hatte, wie es war, zu lieben, ohne dass diese Liebe von stechender Trauer und grausamer Sehnsucht überschattet wurde. Was bedeutete da schon der Tod?
"Das freut mich, Severus", sagte Lily liebevoll, "Das freut mich wirklich sehr."
Severus erwiderte nichts als ein Lächeln - ein aufrichtig strahlendes Lächeln. Wie gelang Lily bloß, die undurchdringliche Eisschicht, die sein Herz seit Ewigkeiten schmerzhaft kalt umschloss, in einer so kurzen Begegnung zu schmelzen?
"Also dann", meinte Lily prompt, erhob sich von der hölzernen, steingrauen Bank und reichte Severus die Hand. "Nimm meine Hand, ich führ dich ins Seelenreich. Kommst du, Sev?"
"Ich bin vollkommen bereit."
Warm prickelnd spürte er nun eine aufgeregte Erwartung in sich aufsteigen. Gerade fühlte sich Severus so lebendig wie schon lange in seinem Leben nicht mehr. Auf eine Weise amüsierte es ihn, auf eine Weise war es schon ein wenig traurig, dass er in seinem Tod die beste Erfahrung seit Ewigkeiten hatte…
Doch im selben Augenblick dann - ...da fiel ihm jäh wie ein schmerzhafter Schlag ins Gesicht etwas ein.
Etwas eigentlich so Offensichtliches, über das er bisher noch nicht nachgedacht hatte.
"Aber - was ist mit James?" fragte er angespannt.
Lily wirkte verdutzt. "Was soll schon mit ihm sein? Er ist natürlich auch im Seelenreich."
"Das meine ich ja. Wer weiß, ob er nicht etwas dagegen hat, dass ich bei dir bin?" Die Worte verließen ihn zorniger, als Severus es eigentlich vorgehabt hatte.
"Warum sollte er dagegen etwas haben?" fragte Lily irritiert und zog die Augenbrauen hoch.
"Nun ja, ich meine, vielleicht ärgert es ihn." stieß Severus tonlos hervor. "Es ist ja nicht so, als ob er und ich - ähm - große Freunde wären, um es mal freundlich auszudrücken." Lily verdrehte einigermaßen theatralisch die Augen, aber Severus fuhr unbeirrt fort: "Und immerhin seid ihr" (und warum, warum musste dieses Wort aus seinem Mund bloß so bitter klingen?) "verheiratet."
Aus irgendeinem Grund prustete Lily los.
"Was ist denn komisch daran?" meinte Severus perplex.
"Severus, ich bitte dich, verheiratet! Verdammt noch mal, wir sind Seelen!"
"Ähm... Ja, ihr seid Seelen, und das heißt?"
"Das heißt, du denkst noch immer viel zu sehr wie ein Lebender. Natürlich - auch wenn du es nicht gerne hörst - ich liebe James, und er wird immer eine ganz besondere Seele für mich sein! Aber ich liebe ihn auch nicht auf eine andere Weise als zum Beispiel, sagen wir, meine Mutter."
"Also, Lily..." setzte Severus vollkommen verwirrt an. "Also... Also nein?"
"Nein, Sev. Verstehst du, Verliebtheit... körperliche Liebe, romantische Liebe ... Solche irdischen Gefühle, so etwas existiert außerhalb des Körpers, außerhalb des Lebens einfach nicht."
"Ach, so" sagte Severus, doch klang er nicht wirklich so ernst, wie er es eigentlich vorgehabt hatte. "Ja, ich verstehe."
Aber in Wahrheit verstand er es überhaupt nicht. Wenn es Verliebtheit nicht länger gab, was war es dann, was er nach all den Jahren der Trennung noch immer jedes Mal so Atem raubend in sich spürte, wenn er Lily nur ansah, bei jeder ihrer noch so leisen Berührung?
"Also dann" sagte Lily munter, "Problem gelöst, würd' ich sagen, oder? Dann lass uns mal aufbrechen, Sev."
Ihre Stimme war liebevoll und sanft und zugleich bestimmt und selbstsicher, wie die eines vor Wärme glühenden Lichts, das den strahlenden Pfad durch die Dunkelheit wies. Ihr langes Haar wehte leicht in der sachten Brise, die nun auf dem staubenen Spielplatz der Erinnerung aufkam, ihre smaragdgrünen Mandelaugen strahlten.
Severus überkam der jähe Gedanke, selbst dann, wenn Lily gesagt hätte, das Seelenreich sei ein grausamer Ort, er würde ohne zu zögern überall mit ihr hingehen.
"Ja, lass uns aufbrechen!" sagte Severus und ergriff Lilys Hand.
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Soo, das war's dann auch mal wieder (nach mal wieder einem Monsterkapitel :D), danke fürs Lesen, ihr Lieben
Über ein Review würde ich mich natürlich sehr freuen, zumal ich mir viel Mühe mit dem 'Kapitel' gegeben habe :)
Ich werde euch dann, sobald er fertig ist, auch noch den dritten und letzten Teil des Epilogs präsentieren. Der wird wieder kürzer sein und Zuhause; heissen.
Er wird von Severus' ersten Erfahrungen mit dem Seelenreich handeln und danach ist die FF dann auch schon zuende :(
Allerdings müsst ihr auf den letzten Teil meiner FanFiction noch ein wenig warten - ich nehme erst einmal an einem Kurzgeschichtenwettbewerb (Einsendeschluss 11.12.) der Uni Koeln teil, da das vorgegebene Thema mir echt zusagt: Jenseits und Paradies :DD Da werd ich erstmal einen anderen, eigenen Charakter in den Tod schicken müssen, bevor ich mich wieder meinem Sev zuwende :D
glg
Eure
Luna :)
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