von ~Cassiopeia~
Einsam und ziellos streifte Remus durch die Straßen. Er kannte sich in Muggellondon nicht wirklich aus, aber um ziellos umherzustreifen brauchte er das ja auch nicht. Er wollte nur nicht still stehen. Nicht zur Ruhe kommen um bloß nicht an das zu denken, was nun bereits beinahe zwei Monate zurück lag.
Ihm wurde schlecht. Seit Stunden ging er im Zeitlupentempo durch die Stadt, die niemals schlief und versuchte, sich von der Weihnachtlichen Stimmung der Muggel tragen zu lassen, mitzuziehen und all seinen Schmerz zu vergessen, wenigstens für ein paar Minuten.
Doch es half nur bedingt, eigentlich so gut wie gar nicht. Ständig zuckte er zusammen, wenn jemand „Fröhliche Weihnachten“ schrie und ihm dabei freundlich zuwinkte. Abgesehen von den Mützen mit dem Geweih, die die Kinder so gern trugen um ihren Held Rudolf, the Red nosed Reindeer zu feiern oder ein entferntes Bellen eines Hundes. Plötzlich fiel ihm beim Überqueren eines Gullideckels ein, dass es in der Kanalisation Londons von Ratten nur so wimmelte.
Wieder zog ein schmerzhafter Stich durch sein Herz. Er beschleunigte seine Schritte, atmete hart ein und aus, bis er das Gefühl hatte, seine Lungen müssten vor Kälte erstarrt sein. Es war ein kalter Schmerz, welcher im krassen Gegensatz stand zu dem dumpfen, dröhnenden Schmerz, der von seiner Seele Besitz ergriffen hatte.
Letztes Jahr, ja, da waren sie alle gemeinsam durch Muggellondon gestreift. Hatten sich über die Verkleidungen und Dekorationen der Muggel lustig gemacht. Dann war jemand auf die Idee gekommen, in das Nobelkaufhaus Harrods zu gehen und kurz darauf hatten die vier Rumtreiber vor dem weihnachtlich beleuchteten Gebäude gestanden und waren begeistert hinein gestürmt.
Nachdem ein Aufseher sie allerdings missbilligend darauf hingewiesen hatte, sie mögen sich bitte „etwas gezügelter“ verhalten, hatten sie zwar genickt, waren dann aber lachend weiter gezogen.
Plötzlich hatte Sirius aufgekreischt und war in Richtung der Kuscheltiere verschwunden um wenige Sekunden später durch die halbe Etage „KRONE! DAS IST ES!“ zu brüllen und begeistert vor einem beinahe lebensgroßen Stofftier stand, welches sich als schwarzer Neufundländer entpuppt hatte.
Als James jedoch auf den Preis geblickt hatte, hatte er die Augen aufgerissen. „Tatze, das ist viel zu teuer! Dreihundert Pfund für einen Stoffhund?! Das ist doch Wahnsinn und dann bewegt sich das Ding noch nicht einmal! Außerdem - “, nun hatte er seine Stimme etwas gesenkt, „hat Harry doch den besten Hund, den er sich wünschen kann - dich.“ Dabei grinste er und hoffte, dass Sirius das genau so sehen würde.
Doch dieser hatte sich nicht von seiner Meinung abbringen lassen. „Erstens, mein lieber Krone, sind es nur zweihundertfünfundneunzig Pfund, was gerade Mal sechsundvierzig Galleonen, elf Sickel und elf Knut macht und zweitens bewegt er sich noch nicht, aber wozu bin ich ein Zauberer? Und drittens hat Harry so einen fast-tatzemäßigen Ersatz, wenn ich mal nicht für ihn da sein kann. Und das Beste - dieser Hund hier wird nicht müde oder ungeduldig, er braucht nichts zu Fressen und macht auch keinen Dreck. Und wenn ich dich daran erinnern darf, dass das Blackvermögen nicht gerade klein ist und mir am Tag meiner Volljährigkeit immerhin mein Pflichtteil ausgezahlt wurde, was allein schon mehr Geld ist als ich je auszugeben gedenke? Bitte, lass mir doch den Spaß und meinem Lieblingspatenkind diesen großen, flauschigen Stoffhund kaufen.“
Nach diesem Vortrag hatte James die Schultern hängen lassen und war ergeben hinter Sirius zur Kasse getrottet.
Remus bekam einen Kloß im Hals, als er an diese Szene zurück dachte. Ja, letztes Weihnachten hatte noch niemand den Schatten geahnt, der sich jedoch schon damals über sie und ihre Freundschaft ausgebreitet hatte. Was die Geburt eines unschuldigen Kindes doch alles verändern konnte.
Nun war es zu spät. Nie wieder würde Harry auf dem riesigen Stoffhund reiten können oder sich, wenn er müde wurde, in sein Fell kuscheln. Remus wusste nicht, wo das Tier nun war, aber er wusste, dass Hagrid Harry aus dem Haus gerettet hatte, ehe das Ministerium ihn finden konnte. Das Haus war komplett zerstört, hatte dieser erzählt und dabei ziemlich erschüttert ausgesehen.
Aber es war nicht nur das zerstörte Haus in Godrics Hollow, in welchem bis vor zwei Monaten noch eine glückliche Familie Potter gelebt hatte. Nein, Remus selbst kam sich vor wie eine verbrannte Ruine. Nur noch ein Schatten seiner selbst, verloren in dem Versuch mit der unerwarteten Freiheit zurecht zu kommen. Über Nacht war der Kampf gegen Voldemort sinnlos geworden, denn ebendiesen gab es nicht mehr. Aber während dieser Umstand die ganze Zaubererwelt in Erzücken und Begeisterungsjubel versetzte und viele Familien dazu brachte, endlich wieder ein friedliches Weihnachtsfest zu feiern, wollte Remus nichts weiter als sich irgendwo vergraben. Weit weg von den Menschen, dem Lärm, dem unverhofften Glück, dass ihm überall entgegen zu springen drohte, wenn er nicht aufpasste.
Wie konnten die Menschen nur glücklich sein, wenn in ihm alles schrie? Wenn er innerlich, seelisch, verblutete, sahen sie es denn nicht?
Nein. Sie gingen lachend und schwatzend an ihm vorbei und wünschten ihm „Frohe Weihnachten!“. Remus schnaubte, wie blind die Welt doch war.
Er kam an einem Pub vorbei, aus welchem ausnahmsweise keine Weihnachtsmusik dudelte und beschloss, dem flauen Gefühl in seinem Magen ein Ende zu setzen. Er zählte sein Geld ab und entschied, dass er sich ein Bier und eine Kleinigkeit zu Essen durchaus leisten konnte. Etwas nervös betrat er den kleinen Laden, die hölzerne Tür fiel mit einem leisen Klingen hinter ihm ins Schloss. Er sah sich um, es war recht dunkel und dass das Mobiliar in einem dunklen Kirschholz gehalten war, half auch nicht gerade. Aber es sah gemütlich aus, musste Remus zugeben. Einladend, irgendwie. Auf jedem Tisch stand eine kleine Kerze, an den Wänden hingen Plakate, die Remus gar nichts sagten und auf einer Bühne spielte eine Band leise begleitende Hintergrundmusik, offensichtlich machten sie gerade eine Zwischenpause bei ihren eigentlichen Auftritten.
In einer etwas abgelegenen Ecke stand ein kleiner Tisch, an welchen er sich setzte. Ein Glück saß er nicht direkt am Fenster und war so versucht, die ganze Zeit hinaus zu starren und von den vorbeigehen Leuten angestarrt zu werden, sondern an einer Seitenwand, von wo er die Bar und die Tür relativ gut sehen konnte. Auch, wenn der Krieg vorbei war, war es immer gut, die Leute, die einen umgaben, im Auge zu behalten und ihnen vorsichtshalber nicht den Rücken zuzukehren.
Er bestellte ein Brown Ale und dazu ein Schinkentoast und eine Kartoffelsuppe vorweg, um sich aufzuwärmen. Kritisch betrachtete er die Bieruntersetzer, die auf dem Tisch verstreut lagen. Auf ihnen war ein roter Löwe abgebildet, welcher das Maul weit aufgerissen hatte. Ein Stich durchfuhr ihn, als er an den Gryffindorlöwen dachte, an ihren rot-goldenen Gemeinschaftsraum, der sie all die Schuljahre über begleitet hatte.
Waren sie nicht selbst einst Löwen gewesen?
Hatten sie nicht der Welt ins Gesicht brüllen wollen, ihr kampfbereit gegenüber treten und es allen zeigen, die sich ihnen in den Weg stellten?
Ganz konkret waren damit Voldemort und seine Todesser gemeint und manchmal hatte Remus sich im Orden wirklich wie in einer Löwenherde gefühlt. Es war eine Art Zusammenhalt, die etwas Besonderes an sich hatte.
Und nun?
Nun war ihr Brüllen klanglos verhallt. Nicht sie hatten Voldemort zum Verstummen gebracht, ihr Brüllen war zum Schluss nur noch ein Flüstern gewesen.
Remus schluckte, doch seine düsteren Gedanken wurden durch einen Kellner unterbrochen, welcher ihm eine dampfende Schale vor die Nase setzte.
„Guten Appetit“, sagte er freundlich und ließ Remus wieder allein.
Dankbar sah dieser ihm hinterher, ehe er seine Aufmerksamkeit ganz der Suppe vor ihm widmete. Ein paar Minuten wärmte er seine durchgefrorenen Hände an dem warmen Porzellan, ehe er den Löffel aus der Serviette wickelte und vorsichtig in die heiße Flüssigkeit tauchte. Obwohl er noch immer keinen sonderlich großen Appetit hatte, meldete sich sein Magen bei den geschmackvollen Gerüchen um so nachdrücklicher. Vorsichtig schmeckte er mit den Lippen, ob die Kartoffelsuppe bereits Esstemperatur hatte, pustete noch ein paar Mal und probierte schließlich den ersten Löffel.
Gut, es war nicht die Küche von Hogwarts, aber es schmeckte und es regte seine Geschmacksnerven an. Langsam, wie in Zeitlupe, führte er den nächsten Löffel zum Mund. Mit jedem Schluck breitete sich ein angenehmes Gefühl der Wärme in ihm aus, die zwar die seelische Kälte nicht ganz vertreiben konnte, aber immerhin. Er fror nun nicht mehr so erbärmlich und eine schwere Ruhe breitete sich in ihm aus, die ihn zugleich ungewohnt müde machte.
Verwundert fragte er sich, wann er das letzte Mal eine Nacht durch geschlafen hatte. Es musste Monate her sein, zwei, um genau zu sein.
Nein, schalt er sich und versuchte, seine Gedanken zu bremsen, stopp. Nicht weiter Denken.
Schnell aß er noch einen Löffel und verbrannte sich beinahe die Zunge. Er löschte das Brennen mit einem Schluck Bier und hob dabei zum ersten Mal, seit er über seinem Essen saß, den Kopf.
Der Pub war beinahe leer, wie er fest stellte. Ein Blick auf die Uhr, die über der Theke hing, verriet ihm, dass es kurz vor acht war. In zehn Minuten würde die Küche schließen und die meisten Menschen saßen jetzt wohl Zuhause und genossen gefüllten Truthahn mit teurem Rotwein und Plum pudding.
Remus jedoch war mit seiner Menüwahl ganz zufrieden. Sein Blick schweifte zu einem Tisch ganz in der Nähe, an welchem eine junge Frau saß. War sie nicht bei seiner Ankunft noch in Begleitung gewesen?
Plötzlich stand sie auf und trat an ihm vorbei, als sie sich wohl auf den Weg zu den Toiletten machte und da erkannte Remus sie. Beinahe hätte er seinen Löffel fallen gelassen, als er das lange, braune Haar sah, die dunkle Brille, hinter welcher sich ebenso dunkle, aber geheimnisvolle, Augen versteckten.
Sie hat es also geschafft, dachte er erleichtert und mit einem Mal fiel ihm das Essen gar nicht mehr so schwer. Wenige Minuten später kam sie erneut an seinem Tisch vorbei und als sie mit einem flüchtigen Blick zu ihm sah, glaubte er, Erkennen in ihren Augen gelesen zu haben.
Wie war das möglich, wenn doch eigentlich bei allen Muggeln die Gedächtnisse an ein Geschehen in der Zaubererwelt gelöscht oder modifiziert wurden?
Aber sie ging weiter und setzte sich wieder an ihren Platz. Bestellte sich noch einen Wein und blieb dort sitzen. Remus fragte sich, ob sie wohl auf jemanden wartete? Vielleicht auf ihren Begleiter, der vor wenigen Minuten den Pub verlassen hatte?
Die Suppe und das Bier schmeckten mit jedem Schluck besser, wie er überrascht fest stellte. Wie lange war es her gewesen, dass ihm überhaupt etwas wieder geschmeckt hatte? Zu lange.
Er kratzte die Reste aus der kleinen Schüssel und tauschte diese gegen den Teller mit den Schinkentoasts aus. Woher er auf einmal diesen Appetit nahm, wusste er selbst nicht, aber er würde den Teufel tun, sich darüber zu beschweren.
Vielleicht lag es daran, dass sein Magen seit langem keine warme Mahlzeit bekommen hatte, die auch noch geschmeckt hatte. Vielleicht, weil dieser Ort so ganz anders war, mitten in Muggellondon und weit weg von der Zaubererwelt. Dieser Pub hatte seine eigene Magie, die Remus buchstäblich in seinen Bann gezogen hatte. Kein Schmerz, keine Trauer, keine Schuld. Hier fühlte er sich seltsam leicht, ließ alles, was mit der magischen Welt in Verbindung stand, einfach hinter sich fallen, inklusive jener Nacht des 31. Oktobers.
Nein, auch daran wollte er nun nicht denken, aber es war zu spät. Sie waren einfach immer da, zu jeder Sekunde, bei jedem Atemzug. Der Morgen des ersten November erschien wieder lebhaft vor seinem inneren Auge, er schluckte hart. Nein, er wollte das alles nicht sehen, wollte den Schmerz und den Schock, den Unglauben und den plötzlichen Hass, das Wissen, betrogen und belogen worden zu sein, nicht spüren. Nicht hier, nicht jetzt.
Schwer atmend stützte er den Kopf in seine Hände. Innerhalb einer Nacht hatte alles, was seinem bisherigen Leben einen Sinn gegeben hatte, aufgehört zu existieren.
Am nächsten Morgen hatte es keinen Voldemort mehr gegeben, gegen den man kämpfte - und auch keine Freunde, die einem zur Seite standen.
Alles, was von jener Nacht übrig geblieben war, waren dunkle Schatten unter den Augen des Werwolfes, einsame Vollmondnächte und das unausweichliche Wissen, dass es am Ende doch Voldemort und seine Anhänger gewesen waren, die schließlich das „Missetat begangen“ für sich verbuchen konnten.
Ehe das altbekannte Zittern wieder einsetzen konnte, wenn er an seine Freunde dachte, nahm er sein Bierglas und leerte es einem Zug. Langsam wurde es stickig in diesem Raum, auch hier holten ihn die Erinnerungen ein wie ein Schwarm Heuschrecken, die auf ihrem Wege alles kahl fraßen und auch vor seiner Seele nicht halt machten.
Er zog seinen Mantel über und wollte gerade an die Theke treten, um dort zu bezahlen, als ein „Entschuldigung?“ ihn zurück hielt.
Verwundert drehte er sich um und erkannte die junge, braunhaarige Frau, die noch immer allein an ihrem Tisch saß und an einem Glas Rotwein nippte.
„Ja?“ Es war nicht wirklich eine geistreiche Erwiderung, aber Remus fiel auf die Schnelle nichts ein, was er hätte anderes sagen können.
„Sind Sie… Remus Lupin?“
Er nickte. „Ja, der bin ich. Und Sie sind… Haley Young, richtig?“ Immer noch verwirrt sah er sie an und als sie nickte, wurden seine Augen groß.
„Aber wie… woher wissen Sie, wer ich bin?“, fragte er sicherheitshalber nach und trat unbewusst einen Schritt auf sie zu.
„Ich habe Sie wieder erkannt“, erklärte sie und lächelte, ehe ihr Blick ernst wurde. „Sie haben mich damals mit einem Ihrer Freunde gerettet aus dem brennenden Haus meiner Eltern, wissen Sie noch?“, fügte sie gedämpft hinzu und nun gab es für Remus keinen Zweifel mehr: es war wirklich die Person, an die er sich bei ihren Anblick erinnert hatte - aber wieso erinnerte sie sich? Hatte man sie „vergessen“?
„Ja, ich… erinnere mich“, antwortete er mit plötzlich belegter Stimme, es war, als schwebten die Geschehnisse des Vorfalls wie eine dunkle Wolke zwischen ihnen.
„Hätten Sie vielleicht Lust, sich zu setzen?“, fragte Haley freundlich. „Sie sehen aus, als könnten Sie an diesem Abend etwas Gesellschaft gebrauchen.“
Remus zögerte. Wenn er blieb, bedeutete das, er musste den Abend nicht allein verbringen, da hatte sie Recht. Aber womöglich stellte sie Fragen, auf die er keine Antworten wusste und er wusste nicht, ob er dazu heute Nacht in der Lage war.
Warum eigentlich nicht, dachte er, was kann ich schon verlieren? Zur Not weiß ich, wo die Tür ist.
So folgte er der einladenden Handbewegung Haleys und setzte sich ihr gegenüber. Kurz darauf stand auch vor ihm ein Glas Rotwein, dass er sich eigentlich nicht leisten konnte und er überlegte, was er nun sagen könnte. Sicherlich interessierte es sie, was in der Zwischenzeit geschehen war? Ihre Eltern waren vor einem halben Jahr bei einem Brand ums Leben gekommen, aber sie hatte man retten können. Er und James waren damals mitten in das magische Feuer, welches sich die Wände empor fraß, hinein appariert und hatten die beinahe ohnmächtige Haley Young aus dem Haus geholt, ehe dies gänzlich eingestürzt war. Doch nach einer Woche hatte sie niemand mehr gesehen und dieses unerwartete Zusammentreffen in einem Muggelpub überforderte ihn etwas.
„Die Nachrichten brachten etwas über eine gebannte Gefahr und dass nun endlich alle wieder sicher wären und die Behörden endlich aufatmen können. Ich nehme an, dass bezog sich auf den Krieg in Ihrer Welt, oder?“
Remus blinzelte, es war ungewohnt, wie sie von seiner Welt sprach, es verdeutlichte auf unangenehme Weise, dass sie wirklich aus zwei verschiedenen Welten stammten und sich in der Mitte getroffen hatten.
„Ja“, sagte er mit kratziger Stimme und fixierte das Weinglas in seinen Händen, an welches er sich beinahe klammerte. Er wollte nicht über das Thema reden und hoffte, sie würde nicht weiter fragen. Es tat jetzt schon zu weh auch nur daran zu denken.
„Das freut mich. Keine Angst, ich werde nicht weiter Fragen“, sagte sie, als habe sie seine Gedanken erraten, dankbar sah er auf. „Es geht mich ja auch im Grunde gar nichts an, aber ich bin froh, dass Sie den Krieg überlebt und am Ende, wie es aussieht, auch gewonnen haben.“
Remus konnte nur abwesend nicken, erlaubte es sich jedoch nicht, wieder in Erinnerungen an damals zu versinken.
Unbedacht drehte er einen der Untersetzter mit dem roten Löwen in seinen Händen. Dann stoppte er, betrachtete ihn eine Weile und steckte ihn schließlich in die Manteltasche.
„Sammeln Sie Bierdeckel oder warum haben Sie den eben eingesteckt?“, fragte Haley verwundert und lachte, ertappt wurde Remus rot.
„Nein, eigentlich nicht“, sagte er ausweichend. „Es ist nur…“ Er unterbrach sich, er wollte, konnte nicht erklären, warum er das eben getan hatte. Natürlich wusste er es, doch er war weit entfernt davon, es auch tatsächlich auszusprechen.
„Oder haben Sie vor, das Glas auch gleich mitgehen zu lassen?“
Remus musste unwillkürlich lachen, sie hatte Humor und Lachen war etwas, dass er so lange nicht mehr getan hatte, dass er beinahe vergessen hatte, dass er zu diesem Laut fähig war.
Er lauschte in sich hinein - nichts. Kein Gefühl der Reue, keine nagende Schuld, weil er augenblicklich einfach nur froh war, Begleitung zu haben anstatt um seine Freunde zu trauern. Er würde zumindest versuchen es zu genießen, wie auch immer es ausgehen mochte.
„Sind Sie oft in… naja.. diesem Teil der Stadt?“, fragte sie ihn und ihre Augen sahen ihn neugierig an. Sie schien nicht weiter auf den Krieg eingehen zu wollen oder den Grund, warum er einen Bierdeckel mit einem roten Löwen in seiner Manteltasche versteckt hatte.
„Selten“, antwortete er und schob die Gedanken an das letzte Weihnachtsfest zur Seite, zu seiner Überraschung blieb auch dieses Mal der Schmerz aus.
„Darf ich fragen, was Sie ausgerechnet heute auf unsere Seite verschlagen hat? Ich dachte, Zauberer bleiben gerne unter sich?“
Sie lächelte und etwas in Remus begann zu flattern. Es war ein warmes, schönes Gefühl, dass ihn daran erinnerte, dass er durchaus noch lebte und in diesem Leben ebenso in der Lage war, positive Gefühle zu empfinden und nicht zerfressen war von Trauer, Wut und Schmerz.
„Allein Weihnachten feiern ist nicht gerade sehr angenehm“, erklärte er ihr und hoffte, sie würde sich mit der Ausrede zufrieden geben.
Tatsächlich fragte sie nicht weiter nach. „Das kann ich verstehen. Ich hatte eigentlich geplant, das Fest mit meinem Cousin und dessen Frau zu verbringen, aber sie haben mich versetzt und nun stehe ich ohne Plan dar, wie ich die nächste Tage über die Runden bringe ohne vor Langeweile zu sterben.“
Remus musste grinsen. Ein Gedanke kam ihm, den er jedoch sogleich wieder verwarf, nein, das konnte er nicht verlangen!
Als sie jedoch erneut sprach, sah er sie hoffnungsvoll und überrascht an.
„Ich… ich meine, wenn Sie nichts dagegen haben… würden Sie die Weihnachtstage mit mir verbringen wollen? Nicht viel, und wenn es nur auf einen Kaffee ist, aber ich würde mich wirklich freuen, Sie wieder zu treffen.“
Remus wurde zu seinem eigenen Entsetzen wirklich rot und musste einige Male schlucken, ehe er über eine Antwort nachdenken konnte.
Wenn die Alternative heißt, allein in der Wohnung zu hocken und depressiv zu werden, was hast du dann zu verlieren?, fragte er sich und nickte.
„Gerne.“ Er sah ihr nun das erste Mal direkt in die Augen und entdeckte etwas in ihnen, das ihm irgendwie vertraut vorkam. Erstaunt fiel ihm auf, dass auch Moony überraschend ruhig war, wo der Werwolf in ihm sonst sofort gegen jegliche Begegnung mit Fremden aufbegehrte.
„Vielleicht hätten Sie Lust, mir Ihre Seite der Stadt zu zeigen?“, fragte er und sah sie interessiert an.
Haley grinste. „Die habe ich, wann hat man schon einmal die Gelegenheit, einem Zauberer die seine Welt zu erklären? Ich würde mich sehr freuen, Remus.“
„Ich mich auch. Haley.“
Die Art, wie sie seinen Namen ausgesprochen hatte, ließ seinen Magen nur noch heftiger flattern, er lächelte. War sein Weihnachtsfest etwa doch noch gerettet?
Eine Weile sagte niemand von ihnen ein Wort, sie schwiegen einfach, ohne, dass es unangenehm wurde.
„Darf ich dich etwas fragen?“, wollte er wissen und sah sie etwas unsicher an.
„Sicher“, entgegnete sie und blickte ihn nun seinerseits offen an.
„Was hast du damals gemacht, nachdem wir dich gerettet hatten? Weil, dass du dich an mich und das Geschehen von damals erinnern kannst, ist ungewöhnlich. Normalerweise werden die Gedächtnisse der Mug - also, der Leute verändert oder gänzlich gelöscht, sodass sie sich nicht an die Zaubererwelt erinnern können.“
Haley überlegte und trank schließlich noch einen Schluck Wein, ehe sie antwortete. „Ich bin zu meiner Großmutter geflogen, sie wohnt in Neuseeland. Ich hoffte, dort dieser verwirrenden Welt, in welche ich unerwartet gestolpert war, entkommen zu können. Es gelang mir auch, aber drei Monate nach meiner Ankunft starb Grandma und ich musste zurück. Und nun, da ich einmal von eurer Welt wusste, war es unmöglich, sie zu ignorieren.“
„Das mit deiner Großmutter tut mir leid“, entgegnete Remus entschuldigend, doch sie schüttelte nur den Kopf.
„Ist schon in Ordnung. Sie war eine alte Frau und wir verstanden uns nicht sonderlich. Aber man soll nicht schlecht über Tote reden, daher kann ich nur sagen, dass ich in gewisser Weise froh war, wieder hier zu sein. Auch, wenn das bedeutete, erneut mit alledem konfrontiert zu werden.“
Remus wusste nicht wirklich, was er daraufhin antworten sollte. Wie viel hatte sie mit bekommen, was wusste sie über den Krieg, die Toten, das Ende?
Doch er wagte es nicht, zu fragen. Zu groß war die Angst vor seiner eigenen Reaktion.
„Ich muss gestehen“, sagte sie und versuchte, einen Blick auf seine Jacke zu erhaschen, die hinter ihm über der Stuhllehne lag, „ich bin neugierig. Warum hast du den Bierdeckel eingesteckt, wenn du sie eigentlich gar nicht sammelst? Aber… ich will dir nicht zu nahe treten, falls es dir zu persönlich ist.“
Remus' Herz wurde schwer, er hätte wissen müssen, dass diese Frage kam. Und nun? Was würde er darauf antworten? Konnte er darauf eingehen, ohne die Fassung zu verlieren und ohne innerlich noch ein Stückchen mehr zu zerbrechen?
Aber als er ihr wieder in die Augen sah, wusste er es. Er konnte es. Ohne zu überlegen, wusste er, dass er ihr vertrauen konnte und dass sie ihm zuhören würde.
„Der Pub hier heißt Red Lion und hat folglich einen roten Löwen als Symbol“, begann er und sie nickte. „Meine Freunde und ich, wir waren in der Schule in ein Haus eingeteilt, wo der Löwe unser Wappentier war. Und nachdem wir unseren Abschluss gemacht hatten, hatten wir uns alle gemeinsam geschworen, wie Löwen zu kämpfen, damit die dunkle Seite die Helle nicht gänzlich verschlucken würde. Das Ende kam zwar etwas anders als geplant, aber jetzt sitze ich hier. Und als ich den Löwen auf dem Pappding sah, musste ich ihn einfach mitnehmen.“
Der rote Löwe stand in seinen Augen für alle, die im Krieg gefallen waren und dabei gekämpft hatten wie Löwen. Und er würde sie in Erinnerung behalten, solange sein eigenes Herz schlug.
„Gut, dann weiß ich, wo wir morgen hingehen“, grinste sie und als er erstaunt nach fragte, erklärte sie schmunzelnd, ihn in den Londoner Zoo zu entführen.
Schlagartig wurde seine Miene ernst. „Nein, tu das bitte nicht“, flüsterte er, erschreckt sah sie ihn an.
„Warum nicht?“, fragte sie leise und in ihrer Stimme klang Betroffenheit mit, das Wissen, etwas Falsches gesagt zu haben, obwohl sie den Grund nicht kannte.
Remus seufzte. „Es ist… eine schwierige Geschichte. Reicht es dir, wenn ich sage, dass ich mich unter Tieren nicht sonderlich wohl fühle?“
Entschuldigend nickte sie. „Natürlich. Tut mir leid.“
Er hob den Kopf und schaffte ein müdes Lächeln. „Das muss es nicht. Du konntest es ja nicht wissen.“
Es war halb elf, als ein Kellner sie höflich bat, den Pub zu verlassen, sie wollten gern schließen. Schnell bezahlten Remus und Haley ihre Rechnungen und fanden sich wenige Minuten später in der kalten Nacht wieder.
Es hatte begonnen zu schneien und als Remus die junge Frau vor sich nun ansah, fand er die Kälte plötzlich erträglich. Nein, es war nicht die Winterkälte, welche die Pfützen zu Eis gefrieren ließ. Es war die Kälte in ihm drin, die mit einem Mal weniger beklemmend und erstarrend wirkte. Er fühlte sich ein kleines Stückchen lebendiger.
„Also dann, bis morgen, Remus“, sagte sie und zog ihren Schal fester. Ihre Augen schienen freudig zu funkeln und Remus konnte nicht anders, er musste ihre Lächeln einfach erwidern.
„Bis morgen, Haley“, antwortete er und sah ihr nach, während sie im Schneewirbel zwischen den Häusern verschwand.
Noch einmal holte er den runden Bierdeckel mit dem roten Löwen darauf hervor und betrachtete ihn. Strich mit dem Zeigefinger die Konturen nach und lächelte das erste Mal, als er an seine Freunde dachte.
„Ich schwöre feierlich, ich bin ein Tunichtgut“, flüsterte er und disapparierte.
Wenn Du Lob, Anmerkungen, Kritik etc. über dieses Kapitel loswerden möchtest, kannst Du einen Kommentar verfassen.