von Blue
Hogwarts: November 1938
Jessica hatte es geschafft. Sie war dem Haus Slytherin zugeteil worden, was auf ihren langjährigen, reinen Zaubererblutstammbaum zurückzuführen war.
Am Tag ihrer Einschulung hatte sie zunächst furchtbare Angst gehabt, nicht nach Slytherin zu kommen. Was hätte ihr Vater wohl gesagt?
Aber nun musste sie sich ja keine Sorgen mehr machen.
Sie war glücklich. In den letzten zwei Monaten hatte sie sich schon mit ein paar anderen Kindern angefreundet und im Unterricht kam sie auch sehr gut mit.
Die meiste Zeit verbrachte sie mit ihrer Freundin Rose.
Rose war ein, für ihr Alter schon sehr großgewachsenes, schlankes Mädchen, mit blonden Haaren und blauen Augen.
Rose schaffte es jeden Tag, irgendwelchen Unsinn zu verzapfen. Sie klebte Kaugummi auf den Lehrerstuhl, schüttete Seifenlauge auf den Weg eines Lehrers und gestern hatte sie im Zaubertrankunterricht absichtlich ein kleines Feuerwerk verursacht.
Das Schöne an den Streichen war, das es niemals auf Rose, sondern immer auf Jessica zurückfiel.
Rose machte das nicht absictlich, Jessica war nur immer zur falschen Zeit am falschen Ort. Aber das glaubte ihr natürlich niemand. So war sie in dieser Woche schon zum dritten Mal zum Nachmittags-Tische-putzen verdonnert worden, während Rose ihre Freizeit genoss.
Großartig! Einfach klasse! dachte sich Jessica.
Sie war gerade mit dem letzten Tisch, im Klassenraum fertig geworden, als plötzlich die Tür aufflog und einer ihrer Klassenkameraden hereinstürmte.
Es war ein Junge mit einem schwarzen, buschigen Lockenkopf, ebenfalls ein Slytherin, wie seine grün-silbern gestreifte Kravatte verriet.
Scheinbar schien er überrascht, hier noch jemanden anzutreffen, denn er blieb stehen und starrte sie an.
"Bin ich schwarz im Gesicht?" fragte Jessica leicht genervt.
Der Junge starrte jetzt noch merkwürdiger, als hätte er zum ersten Mal einen Geist gesehen.
"Ich suche......nur mein Buch." sagte er dann.
Jessica nickte und räumte den Putzlappen und den Wassereimer in einen der Schränke zurück.
Aus dem Augenwinkel sah sie den Lockenkopf auf dem Boden, unter den Tischen umherkriechen.
Ob sie ihm helfen sollte?
Warum eigentlich nicht?
Suchend hielt sie auf dem Boden und auf den Tischen nach einem verlassenen Buch Ausschau.
Ihr Blick strich über die Bänke, die Tische......................
Da war es! Auf einem der Tische, in der zweiten Reihe lag ein schwarzes, schmales Buch.
Sie ging hin und nahm es in die Hand.
Es bestand aus Leder, es war ganz klar kein Schulbuch.
"Ich hab es!", rief sie dem Jungen zu.
Der Junge schreckte hoch und prallte mit dem Kopf hart gegen die Tischkante.
"Aaaauuu! Verdammt!"
Wütend rieb er sich die schmerzende Stelle am Kopf.
Jessica rannte zu ihm hin und kniete sich neben ihn.
"Alles in Ordnung?", fragte sie und tat sich schwer ein Kichern zu unterdrücken.
Böse verzog der Junge das Gesicht und funkelte sie aus seinen dunklen Augen an.
"Das findest du wohl komisch, hm?!"
Leicht erschrocken hielt sie ihm das Buch hin.
"Entschuldige."
Der Lockenkopf riss ihr das Buch aus der Hand, stand ruckartig auf und stürmte wütend zur Tür hinaus.
Jessica sah ihm nach, dann stand auch sie auf und ging hinaus. Komisch, warum war ihr das Buch vorher nicht aufgefallen? War es vorher überhaupt da gewesen?
Sie wunderte sich nicht weiter und machte sich auf den Weg zum Gemeinschaftsraum.
Hier wartete eine schuldbewusste Rose auf sie.
Ihre Freundin sahs auf dem Sofa, vor dem Kamin und starrte ins Feuer.
Als Jessica hereinkam, blickte sie auf.
"Hey,......Jessy." In ihrer Stimme lag Wehmut und Schuldbewusstsein.
Jessica war wütend auf sie, das war sie wirklich. Warum musste immer sie ihren Kopf hinhalten, wenn ihre liebe Freundin mal wieder Mist gebaut hatte?
Sie beachtete Rose nicht und ging hoch, in den Schlafsaal.
Doch die Königin der Streiche folgte ihr.
"Hey, jetzt warte doch mal. Es tut mir leid."
Arrogant setzte sich Jessica auf ihr Bett und begann in ihrem Muggelkundebuch zu stöbern, denn, dank ihrer Freundin, konnte sie ihre Hausaufgaben erst jetzt machen.
Rose kam zu ihr und setzte sich neben sie aufs Bett.
Entschuldigend fuhr sie ihr über den Oberarm.
"Jess......"
Jetzt reichte es ihr.
"Lass es, Rose! Lass es einfach! Ich will nicht schon wieder eine deiner vielen Entschuldigungen hören."
Niedergeschlagen nahm Rose ihre Hand von Jessicas Arm.
"Aber es tut mir doch leid, dass........"
Wütend klappte Jessica ihr Buch zu und sah Rose direkt in die Augen.
"Was tut dir leid?! Warum sagst du nicht: Es tut mir leid, Jessy, dass ich mich einfach nicht benehmen kann und immer dabei bin, dich in Schwierigkeiten zu bringen!?"
Versöhnlich lächelte Rose jetzt wieder.
"Ja, ich weiß und ich hab vor, das zu ändern, Jessy."
Als diese sie ungläubig ansah, unterstrich sie ihr Vorhaben nocheinmal: "Wirklich."
Da konnte Jessica ihr nicht mehr böse sein.
Was sollte sie machen? Sie hatte Rose ja richtig gern.
"Keine Streiche mehr?" fragte sie nochmal.
"Versprochen." sagte Rose und hob ihre rechte Hand zu einem Schwur.
Jessica nickte zufrieden.
Merlin, sei Dank!
Am nächsten Tag hatten sie Verteidigung gegen die dunklen Künste bei Professor Standfield.
Dieser Mann war eine äußerst unangenehme Person, jeder Schüler kuschte vor ihm. Dieser Lehrer hielt es für nötig, die Prügelstrafe durchzuführen, im Falle des Spickes oder des unerlaubten Redens.
Jessica hatte wirklich Angst vor ihm. Einmal hatte er Aaron Pinkes beim Spicken erwischt. Er hatte sich seinen Rohrstock gegriffen und ihm damit zehnmal auf die Handinnenfläche geschlagen. Der arme Aaron konnte seine Hand den ganzen Monat nicht richtig benutzen.
Er war einer der Lehrer, die ihre Macht über den Schüler eiskalt ausnutzten.
Bei ihm gab sich wirklich jeder Mühe, nichts zu vermasseln. Naja, beinahe jeder. Rose war entweder dumm oder einfach nur unverbesserlich.
Kurz bevor Standfield in den Klassenraum kam, verschüttete sie ein Tintenfass über sein Pult. Dann setzte sie sich flucks wieder neben Jessica und kicherte in sich hinein. Dafür kassierte sie einen bösen Blick ihrer Freundin.
"Bist du wahnsinnig?!" zischte Jessica.
"Wenn Standfield dich entlarvt, wird er mit dir das selbe machen, wie mit Aaron!"
Aber Rose schien das ziemlich egal zu sein.
"Ganz ruhig, Jessy. Der Idiot hat doch keine Beweise, ha!"
Jessica zog die Augenbrauen nach oben und suchte ihre Otensilien zusammen.
Da betrat Professor Standfield den Raum.
Gerade, als er an seinem Pult ankam, sah er schon, was passiert war.
Wütend und drohend langsam drehte er sich zu seinen Zöglingen um.
"Wer war das?", fragte er zähneknirschend und betonte jedes einzelne Wort genau.
Prüfend musterte er jeden einzelnen Schüler und sein Blick blieb bei.....Jessica hängen.
Sie hatte den Kopf, wie alle anderen auch, gesenkt und hoffte verzweifelt, er würde nicht auf die absurde Idee kommen, dass.........
"Miss Whiteman." knirschte Standfield plötzlich.
Erschrocken blickte sie auf. Der Professor stand genau vor ihrem Tisch und durchbohrte sie mit seinem Blick. Jessica erschauderte.
Oh, nein! Merlin, bittte nicht!
"Professor?" fragte sie vorsichtig.
Standfield nickte wissend.
"Gerade mal zwei Monate auf dieser Schule und ihr Ruf eilt ihnen bereits jetzt schon vorraus. Sie können es offensichtlich nicht lassen."
Dann beugte er sich zu ihr herunter, bis er ganz nah vor ihrem Gesicht war und fragte:
"Sind Sie für das Missgeschick auf meinem Pult verantwortlich?"
Sein Blick schien durch sie hindurch zu gehen, ihr wurde Angst und Bange. Hilfesuchend blickte sie zu Rose, doch diese hatte den Kopf gesenkt und reagierte garnicht.
Standfield ging zu seinem Pult und nahm den Rohrstock, der an der Wand lehnte.
Nein!
Schnell nahm Jessica ihre gefalteten Hände vom Tisch und legte sie in ihren Schoß.
Doch Standfield stand bereits vor ihr.
"Ihre Hand, Miss Whiteman." sagte er fordernd.
Jessica zögerte. Sollte sie Rose verraten? Nein.
Aber sie wollte nicht geschlagen werden.
Bei sowas hörte der Gehorsam auf.
Sie senkte den Kopf und tat, als hätte sie ihn nicht gehört.
Standfield hasste Ungehorsam, mehr als alles andere.
"Miss Whiteman, Sie sind das doch gewesen, nicht wahr?"
Dass es sich hierbei um eine rethorische Frage handelte, war ganz klar.
Doch Jessica schwieg noch immer.
Da hörte sie plötzlich, wie jemand hinter ihr aufstand.
"Nein! Sie war es nicht! Ich war's!"
Überrascht drehte sie sich um.
Direkt hinter ihr stand der Junge mit dem Lockenkopf, dem sie gestern sein Buch zurückgegeben hatte.
Entschlossen und kerzengrade stand er dort und sah Standfield auffordernd an. Dann hielt er seine Hände hoch, die mit schwarzer Tinte beschmiert waren.
"Sehen Sie, ich habe noch Tinte an den Händen! Ich war's!"
Jessica starrte ihn mit offenem Mund an und wollte schon protestieren, indem sie den Kopf schüttelte.
Doch der Junge gab ihr mit einem Blick zu verstehen, dass es in Ordnung sei.
Standfield, offenbar verwundert über die Courage des Jungen, blickte leicht iritiert drein.
Dann ging er langsam zu dem Jungen und sagte:
"Also, von Ihnen hätte ich wirklich mehr erwartet, Mister Riddle. Welch eine Enttäuschung! Ihre Hand, wenn ich bitten darf!"
Der Junge tat, wie ihm geheißen und schon im nächsten Moment sauste Standfields Rohrstock auf seine rechte Handfläche nieder.
Der Junge schrie auf, krümmte sich und wimmerte vor Schmerz. Jessica trieb es die Tränen in die Augen.
Standfield war nach sechs Schlägen der Spaß an der Bestrafung vergangen. Der Lockenkopf hatte nach dem zweiten Schlag nichtmehr gewimmert, sondern es mit geschlossenen Augen stumm ertragen.
Jessica hatte die ganze Zeit ihren Blick nicht von ihm lösen können. Er hatte sie gerettet, wenn man so wollte.
Und das, obwohl sie sich nichteinmal mit Namen kannten.
Doch! Sie kannten jetzt den Nachnamen des jeweils anderen. Er hieß Riddle.
Während der Stunde hatte sie sich immer wieder zu ihm umgedreht, doch nur böse Blicke ,seinerseits, geerntet.
Wahrscheinlich wegen der Schmerzen.
Jessica konnte es nochimmer nicht glauben.
So etwas Tapferes hatte noch nie jemand für sie getan.
Sie war gerührt und gleichzeitig beschämt.
Und Rose hatte mit ihr vielsagende Blicke getauscht und den Jungen ab und zu süß angegrinst.
Was sie wohl damit bezwecken wollte?
Nach dieser Horrorstunde hatten sie Mittagspause.
Am Slytherintisch sahsen sie wie immer.
Rose und Jessica und um sie herum einige andere Mädchen. Nur eines war heute anders: Alle Mädchen tummelten sich um Jessica. Stellten ihr Fragen über ihren mysteriösen Retter, über den niemand etwas wusste, außer, dass er den Namen Riddle trug.
Doch Jessica wartete geduldig darauf, dass eben dieser Junge endlich den Raum betreten möge.
Sie wollte sich bedanken, ihn fragen, warum er das getan hatte. Aber er tauchte nicht auf. In den letzten zwei Stunden sah sie ihn, einige Bänke von ihr entfernt, sitzen.
Sie beobachtete ihn, aber er starrte konzentriert an die Tafel und horchte den Worten ihres Professors.
Als dann endlich der erlösende Gong ertönte, beeilte sie sich, ihre Bücher zusammenzupacken, damit sie ihn nicht verpasste. Doch als sie aufstand und sich suchend umsah, war er schon verschwunden.
Komisch.
Da sie heute glücklicherweise keine Strafarbeiten zu machen hatte, verbrachte sie den Nachmittag mit Lesen.
Sie war ein absoluter Bücherwurm, das lag in der Familie.
Allerdings wollte sie, trotz der Kälte, an die frische Luft.
Also setzte sie sich auf eine der Bänke, im Innenhof.
Sie las sehr gerne Krimis, aber da sie erst 11 war, mussten es Kinderkrimis sein. Da gab es weder Mord, noch Todschlag, noch Körperverletzung.
Es beschränkte sich immer auf Sachbeschädigung oder Diebstahl. Im schlimmsten Falle war es einmal eine Entführung. Vielleicht las sie das alles so gerne, weil sie spätestens nach der Hälfte des Buches schon wusste, wer der Täter war. In solchen Kinderbüchern war es wirklich derart einfach, dass es schon langsam langweilig wurde.
"Hallo."
Erschrocken zuckte Jessica zusammen und sah den Lockenkopf vor sich stehen.
Sie hatte ihn garnicht kommen hören, er stand wie aus dem Nichts plötzlich vor ihr.
Moment mal! Hatte er gerade "Hallo" gesagt?
Als sie nichts erwiederte, sagte der Junge:
"Ich bin Tom." In seiner Stimme lag reine Sachlichkeit.
Ganz trocken. Er klang nicht erfreut, aber auch nicht wütend oder traurig.
Da lächelte sie.
"Hi, ich bin Jessica." Sie streckte ihm ihre Hand entgegen, zog sie aber im nächsten Moment wieder zurück und sagte: "Oh! Das lassen wir besser."
Jetzt lächelte ihr Retter auch.
Es war ein verständnisvolles, warmes Lächeln, allerdings kein Kinderlächeln.
"Danke für.......deine Hilfe." sagte sie dann.
"Aber.........warum hast du.......?"
Toms Lächeln verschwand augenblicklich.
"Du hast mich gerettet und ich dich. Wir sind quitt."
Jessica schaute fragend drein.
Sie, ihn gerettet? Wann? Wovor?
Als hätte Tom ihre Gedanken gelesen, ergriff er das Wort:
"Gestern. Mein Buch. Im Klassenraum?"
Ach, ja! Aber gerettet? Es war kein Schulbuch gewesen, es musste etwas Persönliches gewesen sein und wenn er "gerettet" sagte, dann musste es wirklich sehr wichtig für ihn sein. Vielleicht ein Erinnerungsstück an jemanden?
Jessica lächelte wieder und deutete ihm, sich zu ihr zu setzen. Tom zögerte, sah sie verwundert an.
Doch als sie nocheinmal neben sich auf die Bank klopfte, setzte er sich dann doch, ganz vorsichtig und langsam, neben sie. Jessica betrachtete ihn ernsthaft. Er schien sehr zurückhaltend und unsicher, ja fast ängstlich zu sein.
An seiner Sitzhaltung war deutlich zu erkennen, dass er sich unwohl fühlte und er starrte zu Boden.
Da fiel ihr Blick auf seine verletzte Hand. Er hatte sie nur notdürftig, wahrscheinlich selbst, verbunden.
Das war ihre Schuld. Okay, eigentlich war es ja die Schuld von Rose, aber trotzdem. Jessica fühlte sich schlecht. An der lockeren Haltung seiner Hand konnte sie ganz klar sehen, welche Schmerzen er haben musste.
Da fasste sie sich ein Herz und hiet ihm ihre offene Hand hin. "Kann ich deine Hand sehen?"
Iritiert blickte er sie an, den Kopf nochimmer gesenkt.
Er rührte sich nicht, starrte nur ihre Hand merkwürdig an.
Sein Blick schien, als würde er etwas furchtbar Ekelhaftes, Widerliches sehen.
Doch dann legte er seine wunde Hand ganz sanft und langsam in ihre Handfläche.
Ganz sacht betrachtete sie seine Hand, drehte sie vorsichtig etwas zur Seite und schob den lockeren, dreckigen Verband zur Seite.
Es waren vier tiefe, lange, blutige Streifen, die der Rohrstock hinterlassen hatte.
Von Aaron hatte Jessica erfahren, dass Standfield ihm mit nur einem Schlag die komplette, obere Hautschicht abgetrennt hatte.
Ungefähr so sah nun Toms Hand aus.
Sie behandelte seine Hand, wie ein frischgeschlüpftes Küken. Immer darauf bedacht, ihm nicht wehzutun.
Sie spürte, dass er sie beobachtete, aber sie konzentrierte sich nur auf seine Wunden.
Und Tom rührte sich nicht. Er machte keine Anstalten, seine Hand wegzuziehen, oder auch nur vor Schmerz zu zucken. Jessica konnte ihn nichteinmal atmen hören.
Nach einer Zeit hob sie den Blick und sah ihn an.
Seine Haltung und sein Gesicht waren unverändert.
"Na, komm." sagte sie dann, "Lass uns das mal richtig verbinden."
Er antwortete nicht, stand aber mit ihr auf und folgte ihr in den Gemeinschaftsraum.
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