von Blue
Einige Wochen später
Der Gong erlöste Tom und Jessy gerade aus einer Doppelstunde Zaubereigeschichte-Folter.
Offenbar sahen das alle ihre Mitschüler so, denn sie stürmten zu den Türen, als gäbe es dort Schokofrösche umsonst.
"Ich hoffe, Sie alle nehmen das gleiche Tempo beim Lernen für die Prüfungen!", rief Professor Standfield ihnen nach. Seit Montag unterrichtete Standfield die sechste Stufe in diesem Fach, als Vertretung. Angeblich sollte diese Tortur nur bis Ende der Woche dauern, aber erstens wusste man das nie genau, und zweitens war heute erst Dienstag.
Tom und Jessy waren mit die letzten, die den Raum verließen.
Draußen im Innenhof schien ihnen die Frühlingssonne warm ins Gesicht. Der Baum stand voller rosafarbener Blüten. Ein Windstoß, und einige Blütenblätter regneten auf sie herab.
"Riddle...", hörten sie plötzlich hinter sich.
Verwundert drehten sich die beiden um. Hinter ihnen stand James Finnigan, der Kapitän der Slytherin Quidditchmannschaft.
Der blonde, schlanke Junge war noch einen halben Kopf größer als Tom, sodass Jessy sich wirklich klein vorkam.
"Ja?", fragte Tom und blickte ihn abschätzend an.
Jessy hatte seine Reaktion beobachtet und machte ein besorgtes Gesicht. Das tat er immer. Immer wenn ihn irgendjemand ansprach, zog er eine Art Schutzkreis um sich herum. Er wirkte sofort unfreundlich, schlecht gelaunt und misstrauisch. Obwohl so viele Leute mit ihm befreundet sein wollten ließ er es nie zu. Die Einzige, die er wirklich an sich heran ließ war sie.
Vielleicht lag es daran, dass sie sich schon so lange kannten.
Doch James Finnigan schien sich von Toms mürrischem Gesichtsausdruck nicht beeindrucken zu lassen.
"Die Quidditschauswahl steht an, Riddle." Er grinste aufmunternd. "Hättest du Lust?"
Jessy öffnete überrascht den Mund und sah Tom an.
Quidditsch war zwar ein populärer Sport, aber auch nicht ganz ungefährlich. Und Tom hatte vorher noch nie Quidditsch gespielt, er war noch nicht einmal mit zu den Spielen gegangen.
Doch ihr bester Freund bemerkte ihren warnenden Blick nicht. Er schien zu überlegen.
"Welche Position?"
Jessy starrte ihn entsetzt an. Er wollte diesen idiotischen Vorschlag doch nicht allen Ernstes annehmen?
Finnigan grinste noch breiter.
"Wir brauchenTreiber und Hüter."
Auch das noch. Die Positionen, bei denen die höchste Verletzungsgefahr bestand.
Am Liebsten hätte sie protestiert und damit wahrscheinlich nicht nur sich selbst, sondern auch Tom blamiert. Doch stattdessen presste sie ihre beiden Bücher noch fester gegen die Brust.
Weiter sagte Tom nichts, er nickte nur und lächelte.
Finnigan, der sein Dauergrinsen die ganze Zeit über nicht abgelegt hatte, ergriff freudig Toms Hand und schüttelte sie. "Gut Riddle", sagte er. "Wir sehen uns auf dem Spielfeld, Mann. Diesen Samstag, acht Uhr." Damit drehte er sich um und verschwand.
Während Tom ihm nachsah, konnte Jessy kaum fassen, was sie da eben gehört hatte.
Sie wartete, bis Finnigan außer Hörweite war und dann...
"Bist du völlig von Sinnen?"
Tom blinzelte. "Was?"
"Quidditsch? Du und Quidditsch?" Ohne es zu wollen setzte Jessy einen arroganten Gesichtsausdruck auf.
Der Sarkasmus in ihrer Stimme war deutlich zu hören.
"Ja", antwortete ihr Gegenüber. "Warum nicht?"
Sie starrte ihn an. "Tom, du hast dich noch nie für Quidditsch interessiert, geschweige denn es mal gespielt!"
Er sah sie an mit einer Mischung aus Trotz und Unverständnis. Er schien sich zu fragen, was ihr Problem war. "Na und?" fragte er schließlich. "Besser spät als nie."
Nun war Jessys Geduld am Ende.
"Weißt du eigentlich, was da alles passieren kann?" fragte sie ihn empört. "Bei diesem Sport wirst du dir Knochen brechen, von denen du gar nicht wusstest, dass sie überhaupt exestieren!"
Während sie dabei war, ihm eine Standpauke zu halten, gingen sie langsam weiter.
Jessy erzählte ihm von vergangenen Unfällen bei den letzten Quidditschspielen, versuchte ihm das Risiko zu verdeutlichen. Was sie erzählte, hörte sich beinahe an wie ein Schauermärchen.
Da sagte Tom plötzlich:"Du kannst ja mitkommen am Samstag, zu den Auswahlspielen. Pass auf mich auf, während ich auf dem Besen sitze." Er grinste sie an.
Doch Jessica konnte nicht lachen. Stattdessen gab sie ihm ihren eiskalten Warnblick. Normalerweise zog der immer. Nur heute irgendwie nicht.
Sein Grinsen verschwand nicht.
Sie versuchte es anders. "Glaubst du, ich will sehen, wie du dir den Hals brichst? - Nein, danke!"
Giftig drehte sie sich um und wollte gerade in Richtung Treppe verschwinden, als er sie am Arm griff und zurückhielt.
Genervt drehte sie den Kopf und sah ihn abwartend an.
"Jessy..."
Doch sie unterbrach ihn. "Wenn du dich verletzen willst, dann geh da am Samstag hin, aber ohne mich!"
Damit entwand sie ihm ihren Arm und verschwand die Treppe hinauf.
Sie ging in den Mädchenschlafsaal, legte ihren Umhang und das Buch über Kräuterkunde auf ihr Bett und behielt das andere Buch auf dem Arm.
Im Gemeinschaftsraum setzte sie sich auf das Sofa und begann in ihrem Zaubereigeschichtsbuch zu lesen. Standfield wollte eine Prüfung schreiben, also musste sie lernen, wie eigentlich jeden Tag.
In diesem Moment kam Rose herein.
Schon ihr Anblick brachte Jessy zum Würgen. Ihre blonden, glatten Haare waren noch immer hüftlang, ihre Schminke war pink, also ziemlich auffällig und trotz der Schuluniform wirkte sie irgendwie...billig.
Jessy schenkte ihr einen kurzen Blick und widmete sich dann wieder ihrem Buch.
"Bei Merlin! Hast du eigentlich noch irgendwelche anderen Beschäftigungen, außer lernen?!"
Ihre ehemalige Freundin wirkte sichtlich genervt.
Jessy antwortete nicht, sah sie nur fragend an.
Was hatte diese Zicke denn jetzt schon wieder?
Zu ihrer Überraschung kam Rose auf sie zu und setzte sich neben sie auf das Sofa. Abwartend klappte Jessy ihr Buch zu und sah sie irritiert an.
Die Blondine musterte sie einen Moment. Ihr Blick ging über ihre Haare, streifte ihr Gesicht nur kurz und wanderte dann zu ihren Händen.
"Ich kann's verstehen", sagte Rose plötzlich abwesend und sah ihr ins Gesicht.
Jessica zog die Augenbrauen zusammen.
"Was...kannst du verstehen?", fragte sie und sah sie durchdringend an.
Rose schien mit sich zu kämpfen. Ihre Lippen waren zu einer schmalen Linie verzogen und ihre rechte Hand krallte sich in den Stoff des grün-silbernen Sofas.
„Ich kann’s verstehen, dass Tom auf dich steht“, brachte sie nur widerwillig hervor.
Jessicas Magen krampfte sich plötzlich aus unerklärlichen Gründen zusammen.
Was sagte sie da?
„Wie bitte?“ brach es aus ihr heraus.
Rose schien sie aber gar nicht gehört zu haben, sie ließ ihren Blick wieder über ihre Haare wandern.
„Also hässlich bist du ja nicht. Und auf den Kopf gefallen bist du auch nicht.“
Nun verstand sie gar nichts mehr. Warum erzählte Rose ihr das? Wieso redete sie überhaupt mit ihr? Sie hasste sie! Jedenfalls war das die letzten Jahre ihr Eindruck gewesen.
War das ein Trick? Wollte diese Ratte sie und Tom gegeneinander ausspielen?
„Und“, sprach Rose weiter „Ich glaub…in dir hat er wirklich jemanden gefunden. Du bist immer bei ihm. Ihr seid auf einer Wellenlänge.“
Jessica riss die Augen auf. War das hier Rose, oder war das Irgendjemand, der Vielsafttrank geschluckt hatte? Rose redete nicht so! So reden konnte sie gar nicht! Oder doch?
Diese aber schockte sie mit der nächsten Aussage noch mehr.
„Ihr seid das Traumpaar schlechthin. Ich…Ihr habt’s verdient.“
Sie blinzelte. Was? Wie? Wer? Warum?
„Mo..Moment mal“, stotterte sie, immer noch total irritiert.
„Tom und ich? Zusammen?“
Rose schien überrascht, von ihrer Reaktion.
„Ja“, sagte sie wie selbstverständlich.
„Ganz Hogwarts weiß, dass er hinter dir her ist.“
Nur für den Bruchteil einer Sekunde dachte sie darüber nach. Stimmte das? Empfand Tom mehr für sie, als normal? Doch im selben Augenblick schalt sie sich für diesen Gedanken.
Nein! Ganz klar: Nein! Tom Riddle war ihr bester Freund, und das seit der ersten Klasse.
Mehr war da nicht, und das würde sich auch nicht ändern!
„Oh nein!“ sagte sie energisch und hob abwehrend die rechte Hand.
„Tom und ich sind Freunde, Rose. Freunde.“
Die blonde Hexe wirkte amüsiert. Spöttisch zog sie die Augenbrauen in die Höhe.
Dann stand sie auf und murmelte:“ Ja, klar.“ Hüft schwingend stolzierte sie in Richtung Mädchentreppe. Empört fuhr Jessica hoch, ließ ihr Buch achtlos auf den Boden fallen und reif ihr nach:“ Ja, glasklar! Tom ist nicht verliebt in mich!!“
Doch Rose reagierte gar nicht mehr. Sie war bereits verschwunden und hatte sie wahrscheinlich nicht mal mehr gehört.
Verärgert drehte sich Jessy um und ließ sich wieder auf das Sofa plumpsen. Nachdenklich verschränkte sie die Arme vor der Brust und starrte ins Leere.
Ob Rose sie auf den Arm nahm? Das war nahe liegend. Eigentlich war das die einzige logische Erklärung. Das andere konnte sie gar nicht in Betracht ziehen. Dafür war es viel zu sehr aus der Luft heraus gegriffen. Schon immer hatte man sie auf diese Art geärgert, oder es zumindest versucht. Es nervte sie ungemein, dass alle immer davon ausgingen, dass Jungs und Mädchen nicht einfach nur befreundet sein konnten.
Altmodisches Denken! dachte Jessica bei sich.
Warum sind nur alle Menschen so festgefahren?
Aber…wenn das nun wirklich stimmte? Wenn Tom sie nicht nur als gute Freundin sah.
Was dann? Was war denn mit ihr? Was empfand sie eigentlich für ihn?
Freundschaft! war ihr erster Gedanke. Reine Freundschaft! Und mehr nicht!
Oder? Plötzlich wurde ihr merkwürdig zumute. Wie konnte sie sich da so sicher sein?
Sie war doch gerade viel zu wütend, um die Dinge klar und objektiv zu sehen.
Aber den Gedanken, dass sie vielleicht doch mehr für ihn fühlte als Freundschaft, verdrängte sie sofort. Stieß ihn von sich und verschloss ihr Inneres blitzschnell.
Eine der vielen Gemeinsamkeiten zwischen ihr und Tom.
Eben dieser öffnete gerade die Tür zum Gemeinschaftsraum und schlüpfte hinein.
Als er Jessy sah, lächelte er sofort. War das ein freundschaftliches Lächeln?
Drückte er damit nur aus: „Hey, schön dich zu sehen.“?
Oder war das ein verliebtes Lächeln? Wie sah so was denn überhaupt aus?
Und sie? War sie verliebt? Machte ihr Herz einen Sprung, wenn sie ihn sah?
Da hatte sie jetzt nicht drauf geachtet. Machten sich die wohlbekannten Schmetterlinge in ihrer Magengegend breit? Einen Moment starrte sie zu Boden und versuchte, etwas zu bemerken. Sie horchte ihrem Herzschlag, der ganz normal ging. Und ihr Magen kribbelte, aber kurz darauf folgte ein leises Knurren, sie hatte also bloß Hunger.
Tom störte ihre Untersuchung. „Jessy?“ fragte er und machte ein besorgtes Gesicht.
„Ist alles klar mit dir?“ Wie vom Blitz getroffen, bückte sie sich, hob ihr Buch vom Boden auf und begann darin zu stöbern. Übertrieben grinste sie ihn an.
„Oh, klar! Logisch! Natürlich! Mir geht’s bestens. Alles wunderbar!“
Als sie merkte, dass er sich darüber noch mehr wunderte, wechselte sie pfeilschnell die Richtung und das Thema.
„Es geht mir blendend. Vor allem auf Samstagmorgen freue ich mich schon!“ Den letzten Satz ließ sie sehr vorwurfsvoll klingen.
Doch er schien davon unbeeindruckt, eher ein wenig genervt.
Schwerfällig ließ er sich neben sie auf das Sofa fallen und sah sie von der Seite an, während sie weiterhin so tat als würde sie lesen.
„ Sag mal, traust du mir das nicht zu?“ fragte er plötzlich, nach längerem Schweigen.
„Was?“ Ihr Blick klebte noch immer an den Zeilen der Seite 209.
„Traust du mir nicht zu, dass ich es als Treiber oder Hüter schaffen könnte?“
Jetzt blickte sie doch auf. Sie fragte sich in diesem Moment, ob er so begriffsstutzig war oder ob er nur so tat. Er hatte offenbar gar nichts begriffen.
„Darum geht’s überhaupt nicht!“ gab sie schnippisch zurück.
„Selbst die besten Quidditschspieler verletzen sich irgendwann. Was wenn du dir dabei das Genick brichst?“ Tom sah sie zuerst erstaunt, dann belustigt an.
Er rückte ein Stück näher zu ihr und legte den Arm um sie. Da spürte sie plötzlich, wie ihr der Magen nach unten sank. Wie bei einem Sturzflug mit dem Besen.
Überrascht öffnete sie den Mund, schloss ihn aber schnell wieder. Seine Hand wanderte durch ihre schwarzen Locken und er lächelte. Eigentlich wie immer.
„Du hast ein unglaubliches Talent dafür, dir immer das Schlimmste vorzustellen, egal in welchem Bereich.“
Jetzt musste sie lächeln. „Stimmt“, gab sie zu. Das war doch auch ganz logisch. Wenn man sich von Anfang an das Schlimmste vorstellte, konnte man nicht von einer bösen Überraschung überrollt werden. Und wenn das Schlimmste nicht eintrat, dann war es eben eine angenehme Überraschung.
Was solche Angelegenheiten anging, war Jessica immer sehr vorsichtig.
„Also“, begann er wieder. „Kommst du am Samstag mit oder nicht?“
Sie seufzte kurz und schüttelte schweigend den Kopf.
Toms Gesicht war voll Verständnis mit einem Hauch Enttäuschung.
Er nahm seiner Hand aus ihren Haaren und stand auf. Jessica sah ihm nach als er zum Jungenschlafsaal ging.
Und wieder ein Seufzer.
Dann folgte Seite 210.
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