von Blue
Trotz dem fürchterlichen Unterricht von Standfield verging die Woche wie im Flug und ehe sie sich versah, war es Freitagabend.
Sie hatten die ganze Woche nicht mehr über Quidditsch gesprochen und das war auch gut so.
Ihr war natürlich klar, dass er sie gerne dabei gehabt hätte aber sie wollte nicht. Sie wollte ganz einfach nicht. War es denn so schlimm, wenn er mal etwas ohne sie machen würde?
Aus irgendeinem blöden Grund hatte sie das Gefühl, ihn in sein Verderben rennen zu lassen. Als seine Freundin hatte sie doch die Pflicht, ihn davon abzuhalten. Sie konnte doch nicht einfach daneben stehen und zusehen.
Seit Dienstag führte sie diesen Kampf in ihrem Inneren und so recht ging keine Seite in Führung.
Tom gegenüber erwähnte sie das natürlich nicht. Auch, dass ihr Magen auf seltsame Weise einen Abgang erlebt hatte, als er ihr näher gekommen war, behielt sie für sich.
Bestimmt war es der Hunger gewesen. Das war jedenfalls ihre Theorie, oder mehr ihre Hoffnung.
An diesem Nachmittag waren sie und Tom zum See gegangen. Die Sonne schien, der Wind war mild und der Frühling hielt Einzug. In der Luft lag ein Duft nach Magnolienblüten und der Wind rauschte durch die Bäume.
„Zum Glück ist das vorbei“, sagte Jessica und ließ sich auf die Holzbank fallen.
„Was? Der Winter?“ fragte er und setzte sich neben sie.
„Ja, der auch. Aber eigentlich meinte ich die Woche mit Standfield.“
Er lachte und lehnte sich entspannt zurück.
Sie schloss die Augen und ließ sich die Sonne ins Gesicht scheinen.
Sie schwiegen. Manchmal saßen sie mehrere Minuten so nebeneinander und redeten kein Wort. Oft waren Worte zwischen ihnen gar nicht nötig, um sich zu verstehen.
„Tolles Wetter“, sagte er gedankenverloren.
„Hmm.“ war ihre Antwort. Sie lauschte dem Zwitschern der Vögel.
„Hoffentlich ist es morgen früh genauso.“
Ihr Lächeln verschwand sofort und sie sah ihn mahnend an.
„Was?“ fragte er und lächelte unschuldig. Jessica presste ihre Lippen aufeinander und sah auf den See hinaus. Verständnislos schüttelte sie den Kopf.
„Was denkst du, Jessy?“ fragte er plötzlich. Nach einem fragenden Blick sagte sie: „Ich denke, du wirst als gebrochener Junge vom Feld kommen.“
Doch er grinste nur. „Das einzige, was gebrochen wird, sind die Herzen meiner zahllosen Verehrerinnen.“
Ihr blieb die Spucke weg. Tom war manchmal wirklich unmöglich.
„Du rennst mit offenen Armen in dein Unglück!“
„Nein. Ich renne mit offenen Armen zum Ruhm.“
„Ruhm?“ Jessica sah ihn entsetzt an. „Darum geht es dir dabei? Um Ruhm?“
Tom zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Klar, worum sonst.“
Sie brauchte einen Moment um zu kapieren, was er da gerade gesagt hatte. Er riskierte seine Gesundheit für Ruhm? Er interessierte sich für Quidditsch sicherlich noch immer nicht die Bohne.
Mit einem Ruck stand sie auf und stellte sich vor ihn.
„Weißt du noch, was der Ruhm das letzte Mal mit dir gemacht hat? Was er mit unserer Freundschaft gemacht hat?!“ rief sie aus. Sie konnte es einfach nicht fassen.
Nun stand auch er auf und wollte ihren Arm berühren. „Jessy…“
Doch sie wich zurück.
„Wenn es nur darum geht, dann tust du mir wirklich Leid!“ zischte sie.
„Hat dir das eine Mal nicht gereicht? Willst du mich loswerden?“
Er schaute sie verdutzt an. „Was hat das denn damit zu tun?“
„Ne ganze Menge“, gab sie zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Jetzt reg dich doch nicht auf. Ich will bloß kein ewiger Außenseiter bleiben.“
Nun fühlte sie sich wirklich wie im falschen Film.
„Außenseiter? Merkst du nicht, wie viele Leute alles dafür tun würden, um nur mal mit dir zu reden?“
Er schien nicht zu wissen, was sie meinte.
„Das sind doch alles nur Schlammblüter und elende Versager. Was will ich mit solchem Abschaum?“
Jessica erschrak. So hatte er noch nie vor ihr geredet. Was war plötzlich los mit ihm?
„Tom….“, begann sie doch er unterbrach sie.
„Ich muss in die Bibliothek, allein.“ Und damit drehte er sich um und machte sich auf in Richtung Schloss.
Jessica sah ihm nach, wie er den Berg hochstieg.
Sie war so perplex, dass sie nur da stehen konnte. Noch nicht einmal etwas nachrufen konnte sie ihm. Ihre Stimme blieb ihr im Hals stecken.
Am nächsten Morgen schreckte sie wie aus einem bösen Traum hoch. Ein Blick auf den Wecker verriet ihr, dass es sechs Uhr morgens war. Sechs Uhr. Also noch zwei Stunden bis zum Auswahltraining.
Wie aus einem Impuls heraus sprang sie auf und ging zu ihrem Kleiderschrank. Erst als sie fertig angezogen war, erinnerte sie sich, dass sie ja vorgehabt hatte, nicht dorthin zu gehen. Leise, darauf bedacht die anderen nicht zu wecken, schlich sie zum Spiegel und musterte sich selbst. Gehst du hin? Gehst du nicht hin?
Hältst du ihn davon ab? Lässt du ihn laufen, damit er mal ordentlich auf sein hübsches Gesicht fällt?
Innerlich schalt sie sich für den letzten Gedanken.
Nein! Sie hatte beschlossen, nicht hinzugehen, also blieb es dabei. Er wollte ja sowieso nur Ruhm. Und außerdem hatte er sie gestern einfach stehen gelassen, worüber sie immer noch sauer war.
Sollte er sich eben das Genick brechen! Oder irgendwas anderes. Sollte er doch drei Wochen im Krankenflügel verbringen! Vielleicht würde ihm das eine Lehre sein!
Entschlossen nickte sie ihrem Spiegelbild zu, während sie begann, ihre Bluse wieder aufzuknöpfen.
Genau ein einviertel Stunden später war sie im Morgennebel unterwegs zum Quidditschfeld. Sie hatte sich die ganze Zeit unruhig im Bett hin und her gewälzt.
Es machte keinen Sinn, es zu verleugnen.
Sie hatte Angst um ihn. Und vielleicht konnte sie ihn ja doch noch umstimmen? Eine minimale Chance bestand immer. Der Wind heute war kalt und rau und am Himmel sammelten sich graue Wolken. Fröstelnd knöpfte sie sich ihren Mantel zu.
Als sie am Feld ankam, standen bereits alle Kandidaten in Reih und Glied.
Jessica ließ ihre Augen wandern und suchte nach ihrem leichtsinnigen Freund.
Doch sie entdeckte ihn nicht. Sie beschloss, sich auf die Tribüne zu setzen. Dort hatte sie das gesamte Spielfeld im Blick und würde ihn bestimmt leichter finden. Sie ging zur Treppe und stieg hoch, nein, sie rannte! Nur keinen Augenblick verpassen. Vielleicht war es noch nicht zu spät, ihn davon abzubringen. Als sie oben ankam blieb sie kurz auf dem überdachten Holzbalkon stehen und suchte noch einmal, vergeblich. Also ging sie auf die Tribüne und setzte sich dort auf einen der Holzbalken. Einige Meter neben ihr saßen Rose und Olive.
Die beiden tuschelten irgendwas, blickten dabei in ihre Richtung und kicherten albern. Jessica beobachtete sie nur kurz aus dem Augenwinkel, dann schnellte ihr Blick wieder auf das Feld.
Da waren mehrere Jungs, die sie nur vom Sehen kannte. Auch drei oder vier Mädchen trugen die Slytherinausrüstung. Und da sah sie ihn! Er ging, mit seinem Feuerblitz in der Hand, rüber zu den Toren. Er wollte sich also als Hüter versuchen. Tom klemmte sich den Besen zwischen die Beine und wollte wohl gerade aufsteigen, als er sich noch einmal umblickte.
Sein Blick ging über die Tribünen und Jessica wusste, dass er nach ihr suchte. Sie überlegte, ob sie sich vielleicht lieber verstecken sollte, aber da war es schon zu spät.
Er sah sie. Er war zu weit entfernt, als dass sie seinen Blick hätte sehen können, aber er sah sie ziemlich lange an, bevor er mit dem Besen abhob. Zu ihrer Überraschung kam er zu ihr geflogen. Er wirkte sicher auf dem Besen. Seine Art, ihn zu lenken wirkte beinahe elegant. Augenblicklich verwarf sie den Gedanken, ihm noch einmal ins Gewissen zu reden.
Tom schwebte einige Meter vor ihr und lächelte.
„Hast du heimlich geübt?“ fragte sie ihn und lachte.
Er zuckte mit den Schultern. „Bin eben ein Naturtalent.“
Sie wollte gerade etwas erwidern, als Finnigans Stimme von unten zu ihnen hinauf drang.
„Hey, Riddle!!“ brüllte er. „Smalltalk kannst du halten, wenn du Hüter bist!!“
Tom warf Jessica einen entschuldigenden Blick zu, drehte und flog zu den Toren.
Jessica schloss den Mund mit einem Seufzer. Hoffentlich ging das gut.
Tatsächlich lief die erste halbe Stunde gar nicht schlecht. Tom hatte von sechs Bällen, fünf gehalten und saß die ganze Zeit über sicher auf seinem Feuerblitz. Vielleicht war er ja wirklich ein Naturtalent. Mit seinen fünf Bällen hatte Tom immerhin schon sieben von acht Gegnern ausgestochen. Jetzt waren nur noch er und ein Junge namens Hugo Last übrig.
An seiner Haltung konnte Jessica erkennen, dass ihr Freund fest entschlossen war, dieses Duell zu gewinnen. Wie eigentlich jeden Kampf.
Die ganze Zeit über hatte er sich nur auf das Spiel konzentriert, hatte nicht einmal woanders hingesehen, als auf den Ball. Wenn er die Position nicht bekam, konnte es also nicht an mangelnder Konzentration gelegen haben.
Nun spielten sie abwechselnd: Tom und Hugo. Doch nach dem zweiten Durchgang, den Tom sowie den ersten sehr gut gemeistert hatte, begann Hugo, ihn zu sticheln.
„He, Riddle!“ rief er ihm zu. „Deine Eltern wären stolz auf dich! Ach ja, entschuldige! Du hast ja gar keine!!“ Sein darauf folgendes Gelächter war so widerlich, dass Jessica ganz übel wurde. Besorgt beobachtete sie Tom, dessen Gesichtszüge verhärtet waren.
Nicht aufregen. sagte sie ihm innerlich.
Lass ihn nur reden. Er will dich bloß provozieren.
Als hätte er sie gehört, blickte Tom plötzlich zu ihr rüber du schenkte ihr ein Lächeln. Ein Lächeln, das sagte, dass alles in Ordnung sei. Ein beruhigendes Lächeln.
Jessica atmete erleichtert aus. Solange er nur ruhig blieb, war alles gut.
Doch auch in den nächsten Durchgängen, die er mit Bravur meisterte, konnte Hugo nicht aufhören, ihm irgendwelche Gemeinheiten entgegen zu brüllen.
Tom versuchte jedes Mal sich nicht aufzuregen, aber mit der Zeit wurde er immer verkrampfter, immer wütender.
Jessica beobachtete die Szene mit wachsender Besorgnis.
Das war eine seiner schlechten Eigenarten. Er war unberechenbar. Selbst für sie. Nie wusste man genau, ob er sich beherrschen konnte oder ob er im nächsten Moment völlig ausrastete.
Er war wie eine tickende Zeitbombe und Hugo gab ihm Zündstoff.
„Hast ja deine kleine Freundin dabei, Riddle!!“ schrie er ihm entgegen, mit Blick auf Jessica.
Sie wusste, dass Hugo sich jetzt auf dünnes Eis begab. Auf sehr dünnes Eis. Tom hasste es, wenn man sie benutzte, um ihn zu treffen. Seine Augen weiteten sich. Allein der Blick, den er Hugo zuwarf, war vernichtend. Doch der machte munter weiter.
„Kannst sie mir bei Zeiten ja mal ausleihen!“ Er lachte dreckig auf.
Jessica erschrak und blickte blitzschnell zu Tom. Dieser ballte seine freie Hand zur Faust und seine Schulter ging leicht nach hinten. Er hätte Hugo wohl am Liebsten auf der Stelle vom Besen geprügelt.
Lass es! dachte sie verzweifelt. Bitte lass es! Er ist es nicht wert!
Da löste sich plötzlich seine Anspannung. Er entspannte seine Hand und reckte das Kinn leicht nach oben. Danach sah er sie an. Jessica reagierte und drückte ihre Handfläche hinab sinken. Bleib ruhig.
Da nickte Tom ihr zu. Hatte er ihre Gedanken gehört? Nein, unmöglich. Er hatte auf ihre Geste reagiert, aber mehr auch nicht. So was wie Telepathie existierte nicht, noch nicht mal in Hogwarts. Dass er so ruhig blieb überraschte sie positiv. Und als Hugo Last im sechsten Durchgang bereits zwei Tore hinter ihm lag, schienen die Würfel gefallen zu sein.
„Oh tut mir Leid, Last!“ rief Tom ihm zu. „Aber dein Name sagt es ja schon: Du bist nun mal das Letzte! In jeder Hinsicht!!“
Trotz ihrer Bedenken musste Jessica ein Lachen unterdrücken. Da rief Finnigan, der einige Meter vor ihr schwebte, sie nach unten.
Jessica beobachtete wie die drei unten auf dem wieder grünen Rasen landeten und sich zusammenstellten. Da wich Hugo Last plötzlich von ihnen ab und hob beide Arme in die Luft.
Was?! Jessica war zu weit oben, um sein Gesicht erkennen zu können. Finnigan hatte doch wohl nicht Hugo die Position gegeben?
Doch sie irrte sich. Ruckartig drehte Hugo sich um und stapfte vom Feld. Er wirkte wütend. Also musste Tom der neue Hüter von Slytherin sein. Sie erhob sich von dem Balken und ging nach vorne, an die Brüstung der Tribüne. Plötzlich tauchte Tom vor ihr auf dem Feuerblitz auf.
Triumphierend hielt er den rechten Arm in die Höhe.
Er hatte es also wirklich geschafft. Jessica musste grinsen. Er schien sich ein Loch in den Bauch zu freuen.
Langsam schwebte er näher zu ihr heran, bis sie auf gleicher Höhe waren. Nur noch das Holzgeländer war zwischen ihnen. Er sah zerzaust aus. Sein Haaransatz war nass geschwitzt und eine seiner schwarzen Locken hing ihm ins Gesicht. Im Gesamten wirkte er erschöpft, aber zufrieden.
Jessica schüttelte lächelnd den Kopf. „Du leichtsinniger Idiot hast es tatsächlich geschafft.“
Tom ließ den Besen los und streckte beide Arme neben sich aus.
„Hast du was Anderes erwartet, Jessy?“ Er lächelte verschmitzt.
Jessica lachte, doch dann wurde sie ernst.
„Ich fand’s wirklich stark von dir, dass du ruhig geblieben bist. Bei Hugo, meine ich.“
Tom legte seine Hände auf ihre auf der Holzbrüstung. Die Handschuhe waren schwer und kalt.
„Du hast ja Recht, er ist es nicht wert.“
Sie wollte ihm gerade zustimmen, als sie stockte. Skeptisch sah sie ihn an.
„Woher weißt du das?“ fragte sie ernst.
„Woher weiß ich was?“ fragte er sie lachend.
Jessica blickte misstrauisch drein. „Woher weißt du, dass ich denke, dass er es nicht wert ist? Wir haben bis jetzt nicht miteinander gesprochen.“
Sie zog die Augenbrauen zusammen und drehte den Kopf leicht zur Seite. Ihr typischer Skepsis-Blick.
Doch Toms Lächeln verschwand nicht.
„Ach, …das war geraten.“
Da zog er seinen rechten Handschuh aus und fuhr ihr durch die Haare.
Jessica hielt die Luft an. Kurz darauf brachte er eine kleine rosafarbene Blüte zum Vorschein.
Er hielt sie ihr hin. „Die….die war in deinen Haaren.“ sagte er unsicher und schluckte. Jetzt war er es, der ernst aussah.
Sie nahm die Blüte, ohne ihren Blick von ihm zu wenden.
Da machte sich auf einmal ein merkwürdiges Gefühl in ihr breit. Ihr Hals schürte sich zu und darunter pochte ihr Herz ganz ungleichmäßig.
Auch er hielt sie mit seinem Blick fest, bis er meinte: „Ich…flieg’ mal runter. Mich umziehen.“
Jessica brachte nur ein gehauchtes „Ja“ zustande.
Er lächelte noch einmal, dann drehte er den Feuerblitz und ging im Sturzflug runter.
Während sie die kleine Blüte in ihrer Hand betrachtete spürte sie, dass auch ihr Magen einen Sturzflug hinlegte. Und parallel dazu war da passend zur Jahreszeit noch etwas anderes in ihrem Bauch. Es waren Schmetterlinge.
Das alberne Gekicher hinter ihr von Olive und Rose hörte sie schon gar nicht mehr.
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