von Blue
Harry hatte sich die ganze Zeit über die Dinge bildlich vorgestellt. Er hatte Tom Riddle auf dem Feuerblitz gesehen, ein deutliches Bild vom Kapitän der Slytherinmannschaft zeichnete sich vor ihm ab. Und er konnte sich die sechzehnjährige Jessica Whiteman sehr gut vorstellen. Ein wenig erinnerte sie ihn an Hermine, wobei seine beste Freundin noch eine Klasse für sich war.
Jetzt, da Jessica aufgehört hatte zu erzählen, erwachte er aus seinen Vorstellungen und sah die alte Hexe neugierig an. Schon wieder brannten ihm so viele Fragen auf den Lippen.
Sie blickte abwesend zu Boden. Harry kam es vor, als würde sie, je mehr sie ihm erzählte, immer weiter um Jahre altern. Ihr Gesicht war totenblass, ihre Augen wirkten nicht mehr so wachsam, wie zu Beginn ihres Gespräches.
„Ma’am?“ fragte er vorsichtig. Sie blickte nicht auf. Doch er wusste, sie hatte ihn gehört.
„Es ist, als würde ich zurückgehen, Mister Potter.“ Ihre Stimme war ruhig und sie sprach sehr langsam. Harry verstand sie, zumindest versuchte er es. Er konnte es natürlich nicht nachfühlen, was sie jetzt empfinden musste, aber er wusste, sie hatte es noch niemandem erzählt. Dass es ihr schwer fiel, war deutlich zu erkennen.
Während sie ihn in ihre Geschichte einbrachte, schien sie selbst tief darin zu versinken.
Schließlich löste Jessica sich aus ihrer Starre und drückte ihre Wirbelsäule durch.
„Das war das erste Mal, dass ich merkte, dass…da noch etwas anderes war, außer Freundschaft.“ Ihr Mund verzuckte sich kurz zu einem Lächeln.
„Und,…“ begann Harry, doch er brach ab. Er wusste zwar was er sie fragen wollte, aber nicht wie. Sie kam ihm vor, wie höchst zerbrechliches Porzellan. Nur ein falsches Wort, eine unglückliche Stimmlage, und sie würde brechen.
„Schon gut, Junge“, sagte sie plötzlich und lächelte ihm zu. „Fragen Sie einfach. Ich weiß, dass Sie es nicht böse meinen.“
Harry erschrak. Hatte sie gerade……
„Ganz Recht. Ich beherrsche die Okklumentik auch.“ Ihre Augen blitzten viel sagend.
Ihm klappte der Mund auf. Er hatte zwar nicht daran gezweifelt, dass sie eine hochbegabte Hexe war, aber Okklumentik? Das hatte er nun wirklich nicht erwartet, vor allem, weil er gar nichts gespürt hatte. Jedes Mal wenn Voldemort…..
Jessica beendete seine Gedanken erneut.
„Derjenige, der in die Gedanken eines anderen eindringt, kann beeinflussen, ob seine Opfer es bemerken oder nicht.“ Sie beugte sich vor, stützte ihre Unterarme auf ihre Beine und sah ihn durchdringend an.
„Er wollte, dass Sie es spüren. Damit es qualvoller für Sie wird.“ Und etwas schwermütig fügte sie noch hinzu:“ Solche Qualen haben ihm Spaß bereitet.“
„Aber nicht bei Ihnen, damals auf dem Quidditschfeld“ schoss es aus Harry heraus.
Im gleichen Moment hätte er sich am Liebsten für sein vorlautes Mundwerk geohrfeigt.
Jessica setzte sich wieder auf und ließ sich nach hinten gegen die Stuhllehne sinken.
„Gut beobachtet, Mister Potter“, sagte sie sachlich.
War sie nun sauer? Oder verletzt? Harry hasste diese Ungewissheit und es wurmte ihn, dass er sie nicht einschätzen konnte.
„Beruhigen Sie sich“, gab sie als Antwort. „Hinter mir liegen zwei Kriege, mit all ihren Qualen, Seuchen und Toten, ein gebrochenes Herz und ein ewig langer Kampf mit mir selbst, der bis heute andauert. Glauben Sie mir,….ich bin alles andere als sensibel.“
Das war mal eine Ansage gewesen! Harry konnte nur noch nicken.
„Als er es bei mir auf dem Quidditschfeld tat, wollte er mich nicht verletzen oder gar quälen. Allerdings war er sehr unvorsichtig, in dem was er im Nachhinein sagte. Er hat sich gleich beim ersten Mal verraten.“
Sie lächelte vor sich hin. Dann sah sie Harry an, der noch immer gefesselt zuhörte.
Da stand sie plötzlich auf und meinte:“ Ich kann nicht mehr sitzen.“
Sie hob beide Arme über den Kopf und streckte sich.
Harry konnte wieder sehen, wie dünn sie doch war. Ganz zierlich eigentlich.
Jessica strich ihre langen Locken hinter die Schultern und sagte: „Kommen Sie, Mister Potter.“ Es schien ihm als würde sie wie in Zeitlupe zum Eingang des Zeltes gehen. Sie schob den Stoff zur Seite und drehte sich nach ihm um. „Gehen wir ein Stück.“
Und plötzlich hielt sie ihren Zauberstab in der Hand, der hell im Dunkel der Nacht leuchtete.
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