von Blue
Soooooo, wie versprochen das laaaaaaaaaaaange Kapitel! ^^ Hoffe, ihr fühlt euch nicht von der Masse erschlagen! :D Für einen Liedtipp ist es glaub ich zu lang aber versucht es ruhig, wenn ihr wollt: 1. "Numb" von Linkin Park; 2. " Protége moi (Protect me from what I want)" von Placebo
Viel Spaß, Blue
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„Wie schön, dass du dich entschlossen hast, doch mitzukommen. Dein Vater erzählte uns, du hättest in deinem Beruf im Moment so viel um die Ohren….“
Jessica starb tausend Tode und lächelte notgedrungen, damit ihre Tante Evelyn es nicht bemerkte. Im Beruf viel um die Ohren, pah! Sie war jetzt seit einem Jahr ausgebildete Aurorin des Zaubereiministeriums, wohnte noch immer in ihrer kleinen Mietwohnung in London (die sie mittlerweile SELBER bezahlte) und hatte seit gestern für einen Monat frei bekommen.
Ihr Urlaub war deshalb so lang, weil es seit geraumer Zeit mehr Auroren als Ermittlungsfälle gab, auf die man sie ansetzen konnte. Es waren sehr ruhige Zeiten. Somit wurde ihr der Weihnachtsmonat auch bezahlt, obwohl sie nicht einmal im Land sein würde. Eigentlich hatte Jessica ja vorgehabt, sich ein gemütliches, ruhiges Weihnachten in ihrer Wohnung in London herauszunehmen. Alleine!
Aber: Ihr Vater hatte darauf bestanden, dass sie den gesamten Dezember mit ihnen in St. Petersburg verbringen würde, wo der gesamte Whitemanclan einen Monat lang non-stop Bälle, Feten und Empfänge geben würde. Das alles natürlich in feinster, hoch angesehener und vor allem reinblütiger Gesellschaft. Noch dazu hatten sich ihre Eltern und ihre Tante Evelyn, die vor 30 Jahren nach Russland ausgewandert war, die irrsinnige Idee in den Kopf gesetzt, sie mit ihrem Cousin Sergej bekannt zu machen. So richtig bekannt! Jessica und er waren sich zum ersten und letzten Mal begegnet, als sie vier und er gerade mal eineinhalb Jahre alt gewesen waren. Ihr Vater sah das natürlich als DIE Möglichkeit seine ewige Single-Tochter an den reinblütigen Mann zu bringen. Jessica hätte ihn am Liebsten geschlagen! All das Protestieren und das Flehen hatte ihr aber nichts genutzt. Benjamin Whiteman war der Ansicht, dass sie zu viel allein war, dass sie sich immer weiter von ihrer Familie entfernte und da sie ja ohnehin den falschen Beruf gewählt hatte, wäre sie wenigstens das ihrer Familie schuldig. Natürlich, wie hatte sie auch nur so selbstsüchtig und arrogant sein können, sich den Beruf, mit dem sie bis zu ihrem Lebensende ihr Brot verdienen sollte, selbst auszuwählen? Wie hatte sie nur so unverschämt sein können, sich dem Befehl ihres Vaters, Anwältin oder Heilerin zu werden, zu widersetzen? Wirklich, sie war eine wahre Schande für das whitemansche Familienimperium.
Gerade trat sie mit ihrem schwarz-silbernen Koffer in der Hand aus dem Kamin. Direkt hinter ihr tauchte nun ihr Vater auf. Er hatte zu Hause darauf bestanden, erst nach ihr anzureisen, damit seine störrische, törichte Tochter nicht „aus Versehen“ vom Weg abkam.
Kontrollfreak lässt grüßen!
Sie sah sich um. Der riesige Salon, der eher an ein Museum erinnerte war groß genug, um ein ganzes Heer darin unter zu bringen. Die Wände waren in einem sanften beige und pfirsich-orange gehalten, das Mobiliar trug einen etwas dunkleren Ton. Die in die Wände eingearbeiteten Säulen waren mit schweren, aber todschicken Marmorplatten verkleidet und der weiße Marmorfußboden war derart sauber geputzt, dass sich sogar die Lichter der Decke darin spiegelten. Jedem anderen wäre vor Staunen der Mund offen stehen geblieben, für Jessica waren diese Größe, diese Ausmaße und dieser Prunk völlig normal. Sie war damit aufgewachsen, war daran gewöhnt. Und doch gab es keinen Grund für sie, sich zu freuen. In der Mitte der hohen Decke hing ein Diamantenkronleuchter, der an jeder einzelnen Kerze vergoldet war. Das Ding war bestimmt so groß wie ein kleiner Gartenschuppen, hatte aber sicherlich mehr als das hundertfache gekostet. Drum herum an der Decke hingen gleich mehrere, kleinere Kronleuchter, die lediglich mit ein bisschen Blattgold aufgemacht waren, wie ihre Tante Evelyn es gerne ausdrückte. Noch etwas fiel an der Decke auf. Genau über der Mitte des Raumes, wo auch das Hauptmobiliar auf einem roten, russischen Teppich stand, war die Decke aus Glas. Es sah aus, wie ein großes Kirchenfenster, nur leider nicht ganz so farbenfroh. Nur in einem Teil des Fensters war ein Engel abgebildet und als die Sonne hindurch fiel, wurde der gesamte Salon in ein goldenes Licht getaucht. Die Russen hatten wohl einen Fabel für Gold. In den äußeren Ecken des gigantischen Raumes befanden sich vereinzelt ein paar rote Sessel und Sofas im Biedermeierstil. Vor den wirklich riesigen drei Sprossenfenstern standen ein paar grüne Topf-Pflanzen, die sich beinahe schon verzweifelt dem goldenen Licht entgegenstreckten. Sonst hatten die armen Dinger auch keine Wahl, denn die schweren, pfirsichfarbenen Samtvorhänge der Fenster waren zugezogen. Jessica bemerkte, wie ihre Mutter sich angeregt mit Evelyn unterhielt.
Evelyn war eine Dame, um nicht zu sagen eine Diva. Ihre blonden Haare waren zu einer aufwendigen Hochsteckfrisur verzaubert, ihr Kleid war silbern und wirkte sehr aufdringlich, genau wie ihr dazu passender Schmuck. Auf der dunkelroten Rokoko Chaiselounge saß ihr Ehemann Dimitri. Er bedachte Jessica nur mit einem kurzen Nicken und widmete sich dann wieder seinem Wodkaglas. Es stimmte also, was man über die Russen sagte. Na, das konnte ja heiter werden. In diesem Moment kam ihre Tante wieder auf sie zu. „Jessica, Kind, du hast einen solch weltfremden Blick.“ Bei diesem widerlichen Gesäusel hätte sie am Liebsten gewürgt, aber sie räusperte sich bloß verlegen, was ihr sofort einen warnenden Blick ihres Vaters einbrachte, der gerade seinen Schwager begrüßte. Benjamin Whiteman kannte seine Tochter nur zu gut, um zu wissen, wann man sie am Besten aus der Gesellschaf entfernen sollte, um gewisse Peinlichkeiten zu vermeiden. Meistens gingen die beiden dann kurz vor die Tür, er motzte sie wegen ihres losen Mundwerkes an und die Sache war erledigt, für die nächste halbe Stunde.
Evelyn musterte ihre Nichte auffällig. „Du bist ja ein hübsches Mädchen geworden. Sergej wird ganz bestimmt hoch erfreut sein, dich wieder zu sehen. Er kommt zum Abendessen nach Hause, im Moment ist er noch beim Eislaufen.“ Jessica konnte nicht verhindern, dass sie die linke Augenbraue nach oben zog. Eislaufen? Ihr lag ein spitzer Kommentar auf der Zunge, doch sie schluckte ihn herunter. Ihrer Mutter zuliebe würde sie wenigstens versuchen, mit ihrer Verwandtschaft auszukommen. Die hohe Stimme ihrer Tante riss sie wieder aus ihren Gedanken. „Ach, herrje! Ihr habt ja noch alle eure Koffer in den Händen. Dimitri, hättest du mich nicht darauf aufmerksam machen können?“, giftete sie und schenkte ihrem Mann einen bösen Blick. Dieser zuckte nur gleichgültig mit den Schultern, leerte sein Glas und stellte es auf den kleinen, kunstvoll gearbeiteten Beistelltisch. Evelyn zog die Augenbrauen hoch. Offensichtlich war dieses Verhalten typisch für ihren Mann. Jessica wusste über Dimitri nur, dass er ebenfalls ein erfolgreicher Anwalt war, gebürtiger Russe, reinblütiger Zauberer und, dass er in den Augen ihres Vaters trotzdem ein erbärmlicher Versager war. „Hm!“, machte Evelyn und schien mehr als genervt. „Tippsy!“, zerschnitt ihre gellende Stimme den Raum so laut, dass es an der hohen Decke widerhallte.
Sofort kam ein kleiner Hauself angerannt und wollte Jessica den Koffer abnehmen.
Sie ließ langsam den Griff los, doch sie war sich sicher, dass er viel zu schwer für den kleinen Elf sein würde. Und unglücklicherweise behielt sie Recht. Der Hauself packte den Koffer von unten, schwankte unter dem Gewicht bedrohlich hin und her und fiel schließlich hin, der Koffer landete auf seinem kleinen, dürren Rücken. Jessica zuckte zusammen, als der Hauself ein schmerzerfülltes Piepsen von sich gab. Sofort kniete sie sich auf den Boden und hob das schwere Ding von dem Elfen herunter. Sie öffnete gerade den Mund, um ihn nach seinem Wohlergehen zu fragen, als ihre Tante plötzlich neben ihr auftauchte und begann auf den armen Elf mit ihren Pumps einzutreten. „Du Tollpatsch!“, keifte Evelyn.
„Kannst du überhaupt irgendetwas richtig machen, du verabscheuungswürdige, unwerte, dreckige Kreatur?!“ Der Hauself versuchte, aufzustehen, doch er schaffte es nicht. Bei jedem Versuch taumelte er nur ein wenig in die Höhe, kassierte einen Tritt in den Magen und brach gleich darauf wieder zusammen. Jessica blieb der Mund offen stehen und es dauerte viel zu lange, bis sie sich aus ihrer Fassungslosigkeit riss, aufstand und ihre Tante am Arm griff.
„Hör auf!“, rief sie und drängte die Hausherrin einige Schritte zurück, weg von dem armen Hauself. „Hör auf.“, wiederholte sie noch einmal leiser und ließ ihre Tante los, als sie bemerkte, dass alle im Salon sie anstarrten. Evelyns eisblauer, entsetzter Blick durchbohrte sie.
Jessica hatte das Gefühl, ihrem Vater gegenüber zu stehen. Dass die beiden Geschwister waren, war nicht zu übersehen. Der gleiche Mund, der sich zu einer schmalen Linie verzog.
Die gleichen kalten, drohenden Augen. Die gleichen harten, unbarmherzigen Gesichtszüge. Sie schwieg und senkte den Kopf.
Noch eine Weile spürte sie den erdrückenden Blick ihrer Tante auf sich, dann wandte Evelyn sich dem Hauselfen zu, der sich mittlerweile wieder berappelt hatte.
Jessica hörte, wie sie den Hauselfen mit schriller Stimme dazu anwies, den Koffer, egal wie, auf eines der Gästezimmer zu schaffen. Immerhin würde sie also ein Zimmer für sich alleine bekommen. Na wenigstens etwas Erfreuliches. Sie hörte die Schritte ihres Vaters hinter sich und spürte im nächsten Moment seinen schmerzenden, eisernen Griff an ihrem Oberarm.
Er entschuldigte sich vielmals bei seiner Schwester und ihrem Mann, der ebenso fassungslos wie stumm gewesen war. Jessica ließ den Blick gesenkt und ließ es zu, dass ihr Vater sie den Salon hinaus schleifte. Im Eingangsbereich, wo sich nur die Farben marmorweiß und gold mischten war es eiskalt. Wieder große Sprossenfenster, allerdings bestimmt drei Meter über ihrem Kopf. Hier war alles noch fünfmal so hoch, so breit, so lang, so groß wie in ihrem Elternhaus in England. Der Geruch von Evelyns Parfum schien sich im gesamten Haus auszubreiten. Jessica bekam eine Gänsehaut als ihr Vater sie die große, breite, weiße Marmortreppe mit vergoldetem Geländer hinaufzerrte. Ihr Blut sammelte sich in ihrem Unterarm und in ihrer Hand, die unangenehm zu kribbeln begann. Unmerklich spannte sie ihren Bizeps an, um dem Griff der eisernen Hand standzuhalten. Doch für ihren Vater war das wahrscheinlich ein Witz. Die Stimmen unten im Salon wurden leise, doch sie verstand jedes Wort. Auch wenn ihre liebe Verwandtschaft nur flüsterte, sie konnte jede Gemeinheit, jede Lästerung genau verstehen.
„Das Kind wird ja immer schlimmer.“ Das war Evelyns Ehemann, großkotzig wie ihr Vater ihn beschrieben hatte, allerdings hatte er nicht die Courage, seiner dominanten Frau auch nur einmal die Stirn zu bieten, geschweige denn, seinem englischen Schwager.
„Sie war gerade erst fürchterlich krank.“, kam die schlichtweg erbärmliche Erklärung ihrer Mutter. „Sie…Jessica ist noch nicht wieder ganz sie selbst.“
Ihre Tochter, die sich mittlerweile im ersten von vier Stöcken befand, schloss die Augen.
Tja, tut mir leid, dich enttäuschen zu müssen, Mama. Aber das gerade war ich durch und durch selbst!
Wieder spürte sie diese unglaubliche Scham, dieser Familie anzugehören. Einer Familie, die rassistisch, herablassend, arrogant, egoistisch, falsch und einfach grausam war, um nicht zu sagen unmenschlich. In diesem Moment spürte sie unter ihren Füßen glatten Teppichboden und öffnete die Augen. Ihr Vater zog sie noch einige Meter weiter, mittlerweile im offenen, zweiten Stock. Sie ging an riesigen, blau-schwarzen Marmorsäulen vorbei, die die Decke hochhielten. Die Säulen waren oben an der Decke vergoldet und standen immer paarweise. Dazwischen hatte man vielleicht drei bis vier Meter Platz. Von dieser Brüstung aus konnte man die Treppe hinunter und zur großen, hölzernen Eingangstür sehen. Über der Tür, auf Augenhöhe mit dem zweiten Stock also, waren zwischen den riesigen Sprossenfenstern viele Engelsstatuen angebracht. Jessy hatte ja schon im Salon das Gefühl gehabt, ein Museum zu betreten, doch jetzt fühlte sie sich wie in einer Ausstellung über die russischen Zaren. Überall, hinter jeder Figur, an jedem Fenster, in jeder Ecke hatte man nicht an Gold gespart. Dieser Prunk wirkte märchenhaft, aber fast schon etwas übertrieben. Plötzlich riss ihr Vater sie herum, sodass sie ihn ansehen musste. Sie standen vor einer von vielen Türen in dem langen, mit rotem Teppich ausgelegten Flur.
Seine kalten Augen sahen sie bedrohlich an und sein Kiefer war verspannt. Jessica hatte Mühe, seinem Blick standzuhalten. Dennoch sah sie ihn geradewegs abwartend an.
„Hatte ich mich zu Hause nicht klar und deutlich ausgedrückt?“, zischte er und festigte seinen Griff um ihren Arm. Jessica unterdrückte mit Mühe ein Keuchen, konnte aber nicht verhindern, dass sie sich verkrampfte. „Du tust mir weh.“, gab sie zurück und bemühte sich, ihre Stimme fest klingen zu lassen. Der Ausdruck ihres Vaters änderte sich nicht, er starrte sie weiterhin an, als hätte er ihre Bemerkung gar nicht gehört.
„Ich warne dich“, knurrte er. „Benimm dich gefälligst anständig und wage es nicht, uns noch einmal derart zu blamieren, sonst…“
„Sonst was?“, fragte seine Tochter vorlaut. „Wirst du mich dann enterben? Nur zu, ich will nichts von dir!“ Sie drehte den Arm und befreite sich aus seinem eisernen Griff.
„Ich will gar nichts von dieser Familie.“, setzte sie nach.
Ihr Vater schien aufzugeben, denn er schüttelte enttäuscht den Kopf. Wahrscheinlich würde er jetzt wieder versuchen, ihr ein schlechtes Gewissen zu machen. Solche Sätze wie: Womit haben wir das nur verdient? oder Warum tust du uns das an? waren nicht unüblich.
„Es war falsch, dich nach Hogwarts zu schicken.“, sagte Benjamin Whiteman sachlich.
„Wärst du auf einer Privatschule gewesen, dann hättest du gelernt, was Disziplin bedeutet.“
Jessica schnaubte verächtlich und sah weg. Sie biss sich auf die Zunge, wie so oft, wenn sie einen Kommentar zurückhalten musste, der nur darauf wartete, aus ihrem Mund heraus zu brechen. Wahrscheinlich, Papa. Aber dann hätte ich nicht gelernt, was Menschlichkeit bedeutet. . Sie biss sich so fest auf die Zunge, bis sie Blut schmeckte. Nur zu gerne hätte sie ihm gesagt, was sie dachte. Bei Merlin, sie war 19! Sie war kein Kind mehr! Aber ihr Vater hätte sie dann ganz sicher geschlagen. So drehte sie den Kopf zur Seite und verschränkte beleidigt die Arme.
Ihr Vater seufzte, schien sich selbst etwas zu beruhigen und deutete auf die Tür, vor der sie standen. „Das ist dein Zimmer. Pack deinen Koffer aus, zieh dich um und…komm am Besten bis zum Abendessen nicht wieder heraus.“ Jessica zögerte noch kurz, dann öffnete sie die schwere, dunkle Eichenholztür nach innen und trat ein. Als sie die Tür schließen wollte, hielt ihr Vater von außen dagegen. „Wir dinieren um 18 Uhr. Sei pünktlich und versuch wenigstens, dich angebracht zu verhalten.“ Damit nahm er den Widerstand so plötzlich von der Tür, dass Jessica überrascht dagegen kippte und die Tür etwas lauter als beabsichtigt ins Schloss fiel.
Bereits jetzt schon völlig entnervt lehnte sie sich mit dem Rücken dagegen und seufzte. Das konnte doch alles nicht wahr sein! Bei Merlin, sie war 19 Jahre, nicht Monate! Dann sah sie sich um. Eigentlich hatte sie ein recht schönes Zimmer. Die Wände waren beige, die langen Vorhänge an den drei großen Sprossenfenstern waren in einem etwas dunklerem beige gehalten und das gesamte Zimmer war mit einem weißen Teppich ausgelegt. Hinter den Vorhängen, die an den Seiten der Fenster von goldenen Hacken gehalten wurden hingen ganz dünne, seidene Gardinen in weiß. Ihr Bett war bestimmt zwei mal vier Meter und ein Haufen gemütlich aussehender Kissen tummelte sich am Kopfende. Der Bettbezug war natürlich auch in beige. Neben dem Bett befand sich eine weitere Tür, die in ihr eigenes Badezimmer führte.
Wenigstens etwas, das sie für sich alleine hatte. Vor dem Bett stand ihr schwarzer Koffer, der genauso wenig hier herein zu passen schien, wie sie selbst. Jessica wunderte sich kurz, wie der arme kleine Hauself ihn wohl die zwei Stockwerke hier hoch geschafft hatte. Dann schüttelte sie den Kopf, um den Gedanken zu verdrängen. In diesem Haus durfte man kein Mitleid haben und schon gar nicht in dieser Familie. Wie sagte ihr Vater immer: „Leben ist wie Krieg. Wenn du Rücksicht nimmst, bist du tot.“ Ihr Blick wanderte zum letzten Fenster, wovor ein schwarzer Flügel stand. Die Sonne, die von draußen darauf schien, ließ ihn wunderschön glänzen.
Ohne ersichtlichen Grund ging sie darauf zu, löste nebenbei das Band ihres dunkelblauen Umhangs um ihren Hals, zog ihn ab und warf ihn aufs Bett. Langsam ließ sich auf dem schwarzen Hocker nieder und schob das Brett über den Tasten nach hinten. Kein Staub. Langsam fuhr sie mit ihren Fingern über die Elfenbeintasten und bemerkte, dass ihre Hände schwitzig waren. Sie wischte sie an ihrer schwarzen Hose ab, um sich gleich darauf über sich selbst zu ärgern. Warum hatte sie das gemacht? War das Klavier etwa zu gut für ihre schwitzigen Hände? Hätte sie etwa die Tasten beschmutzen können? Sie als unwerte, ungezogene Whiteman? Sie schüttelte den Kopf und begann, einzelne Tasten herunter zu drücken. Verschiedene Töne folgten in unregelmäßigen Abständen. Aber jeder Ton klang wunderschön. So natürlich. So frei. Diese Töne waren so, wie sie waren. Sie hatten ihren Klang und den konnte man auch nicht verändern. Merkwürdigerweise wollte das auch keiner. Niemand wäre je auf die Idee gekommen, Töne zu verändern. Die Töne mussten sich auch nicht verstecken.
Es kam nur darauf an, in welcher Kombination man sie zueinander stellte. Zu Hause spielte sie alte Klassiker wie Mozart, Beethoven oder Chopin. Aber hier? Musik war doch auch eine Möglichkeit, sich selber auszudrücken, nicht wahr? Jessica lächelte, strich sich die Haare hinter die Ohren und fing ganz langsam an. Zuerst begann sie eine flotte, aber jedoch gleichmäßige Melodie. Dann wurde die Melodie etwas kontrollierter, Jessica erhöhte den Druck auf die Tasten, was deutlich zu hören war. Die Töne in diesem Part waren überwiegend tief. Dann wechselten ihre Hände zur anderen Seite. Die Töne wurden leiser, höher und zaghafter, sie streichelte die Tasten mehr, als dass sie wirklich spielte. Nun ließ sie ihre Hände einfach wandern, ohne hinzusehen. Klar, sie konnte auch blind spielen, aber jetzt gerade wollte sie versuchen, was passierte, wenn sie die hohen und die tiefen Töne frei miteinander kombinierte. Einfach so, aus Spaß an der Freude. Zunächst klang das ganze ziemlich dumm und formlos. So, als würde man ein dreijähriges Kind an diesen über 150 Jahre alten Flügel setzen und es ein bisschen auf den Tasten klimpern lassen. Doch nach einiger Zeit schien sie eine Melodie zu produzieren, die sie schon seit einer langen, langen Zeit in ihrem Kopf hatte.
Wie eine unterdrückte Emotion, die sie erst jetzt heraus ließ. Als sie sich der Melodie, die ziemlich wild und ungestüm klang sicherer wurde, ließ sie ihre Hände mit sinken. Vorher waren ihre zarten Finger über die Tasten getanzt, wie kleine Feen. Jetzt hämmerte sie regelrecht auf die Tasten ein. Sie bemerkte gar nicht, wie sie ihren Unterkiefer anspannte und mit jedem Takt, mit jedem Klang ihren Körper bewegte. Sie bewegte ihren Oberkörper nach vorne, beugte sich halb über die Tasten, ruckte plötzlich zurück, als die Melodie einen geplanten Sprung machte. Es war als würden die hohen und die tiefen Töne miteinander konkurrieren, miteinander kämpfen. Die Melodie wurde immer schneller, rascher, hektischer.
Ihr war, als würde der Flügel in Flammen stehen, als würde sie in Flammen stehen. Die tiefen Töne überwogen. Ihre Hände schwebten, fühlten sich seltsam taub an. Sie spürte die Tasten nicht mehr. Und da war plötzlich die Sonne. Sie schien einfach so durch das Fenster, stärker als zuvor. Ihre Strahlen berührten den Flügel und…ihre Schulter. Diese plötzliche Wärme erzeugte eine angenehme Gänsehaut auf ihrem Körper. Kurzfristig kamen ihre Finger zum Stillstand. Der Sonnenstrahl lag wie eine tröstende, bestätigende Hand auf ihrer Schulter. Sie blickte nach vorne, über den Flügel hinweg ins Leere…und lächelte. Dann, ohne dass sie es geplant hatte, spielte sie eine so sanfte, ruhige und derart süße Melodie wie noch nie zuvor. Sie war beruhigend und doch ausdrucksstark. Jessy legte den Kopf schief und schloss die Augen. Die Melodie war so sanft, dass man damit ein Baby zum Einschlafen hätte bringen können. Wunderschön. Sie lächelte noch immer. Auf eine zaghafte Art und Weise fühlte sie sich frei, gelöst, wie eine Melodie, wie ein einzelner Ton. Ohne den Zwang, sich rechtfertigen zu müssen.
Ihr rechter Ringfinger drückte die letzte Taste, löste den letzten Ton aus. Er war eher hoch, aber nicht schneidend, wie die Stimme ihrer Tante Evelyn. Er war ganz sanft und tröstend.
Die nächsten Stunden verbrachte Jessica damit, ihren Lederkoffer auszupacken und ihre Sachen in den großen Gründerzeitschrank zu räumen. Die Türen knarrten und quietschten unangenehm, als sie sie schloss und der Geruch von abgestandenem Holz stieg in ihre Nase. Sie nieste kurz und ließ ihren Koffer auf den Schrank hinauf schweben. Jessy befürchtete, dass er nach einem Monat da oben garantiert total verstaubt sein würde, aber im Grunde war es ihr egal. Da stand er wenigstens nicht im Weg rum. Sie blickte auf die riesige, kunstvoll golden verzierte Wanduhr neben dem Schrank und stellte fest, dass sie noch zwei Stunden hatte, bevor der Spießroutenlauf von Neuem beginnen würde. Abendessen mit ihrer Verwandtschaft. Merlin, wie sehr sie sich wünschte, einfach zu verschwinden! Zu fliehen, wenn nötig auch durchs Fenster. Von ihren Gedanken geleitet, ging sie tatsächlich zu einem der Fenster, schob die seidene Gardine zur Seite und öffnete es. Eine klirrende, widerliche Kälte begrüßte sie und sie begann zu frösteln. „Accio Umhang.“, murmelte sie und im nächsten Moment spürte sie den weichen Samt um ihre Schultern. Es schneite. Jessy streckte die Hand raus und fing eine Schneeflocke.
Sie schmolz sofort in ihrer Handfläche und hinterließ einen kleinen Wassertropfen. Sie blickte hinunter. Aus dem zweiten Stock zu springen wäre mit Sicherheit tödlich verlaufen. Der Rasen des Gartens war bestimmt sieben Meter unter ihr. In der Ferne sah sie die Umrisse der Eremitage und der Alexandersäule. Der Winterpalast wurde von einzelnen Lampen, die an den Fassaden angebracht waren und von ein paar schummrigen Straßenlaternen erleuchtet. Die Tage hier waren kurz, vor allem im Dezember. Eigentlich war es nur zur Mittagszeit hell, den Rest des Tages lag das gesamte Land in völliger Dunkelheit da. St. Petersburg erschien ihr noch düsterer als London, und sie hatte es bisher für unmöglich gehalten, dass solch ein Ort überhaupt existierte. Der gesamte Platz war mit einer dünnen weißen Schneeschicht überzogen und man konnte im Dunklen nur ein paar Schattengestalten ausmachen. Zwischen dem Anwesen ihrer Tante und dem Platz lag eine Straße, die im Augenblick nur sehr spärlich befahren und begangen war, ein ungefähr fünf Meter breiter Fluss, über den eine Brücke führte, und eine weitere, kleinere Straße, die sie an die engen Gassen Londons erinnerte. Bei genauerem Hinsehen konnte Jessica eine Person auf der Brücke ausmachen. Sie trug einen scheinbar schwarzen Mantel, lehnte sich trotz des darauf liegenden Schnees über die Brüstung der Brücke und starrte hinab in das eisige, an manchen Stellen bereits gefrorene, schwarze Wasser. Es war eine sehr dünne Gestalt, um nicht zu sagen dürr. Die Haare waren etwas länger und zurückgekämmt. Jessica nahm an, dass es ein Mann war, der wie versteinert dort stand. Schließlich löste sie ihren Blick von ihm und beugte sich etwas aus dem Fenster, um den großen Garten unter sich besser sehen zu können. Ein paar dunkle Striche lockerten die blanke, weiße Schneedecke auf. Grashalme, die offenbar den Kampf gegen die Eiseskälte noch nicht aufgegeben hatten. Der gesamte Garten, der bestimmt so groß war, wie die Hälfte des großen Platzes war von einer hohen, steinernen Mauer umgeben. Darauf lag allerdings kein Schnee. Nicht ein bisschen. Schutzzauber, schoss es Jessica sofort durch den Kopf. Ihre Vermutung wurde bestätigt, als ein Windstoß einen der Bäume schüttelte und aus seiner Krone eine ordentliche Menge an Schnee fiel. Doch der Schnee blieb mitten in der Luft, vielleicht einen Fuß über der Mauer stehen und löste sich mit einem grünen Glimmern auf. Offenbar sollte nichts und niemand die Möglichkeit haben, die Mauer zu überwinden. Großartig! Über diesen Weg kam man also nicht rein, und zu ihrem Bedauern auch sicher nicht raus. Sie war eine Gefangene. Eine Gefangene in ihrem eigenen Haus. Na gut, es war ja nicht wirklich ihr Haus, aber es gehörte ihrer Tante. Einer Verwandten ersten Grades also.
Es war mehr ihr Haus, als das von ihrer Mutter, die ja bloß eingeheiratet hatte. Oft kam es ihr so vor, als würde man ihre Mutter ausschließen, genau wie Dimitri. Das Zentrum, das Oberhaupt lag bei Benjamin Whiteman und seiner Schwester Evelyn, die mittlerweile Romanov mit Nachnamen hieß. Und ihr Sohn, Sergej, sollte angeblich die beste Wahl für Jessica sein. Natürlich, immerhin würde so auch schön alles in der Familie bleiben! Inzucht!, dachte sie und kam sich vor, wie im 19. Jahrhundert. Es war ihr egal, wie toll, wie integer und wie attraktiv Sergej auch sein mochte. Sie würde eher ihre magischen Kräfte einbüßen, als ihn zu heiraten! Lieber wäre sie ein Muggel!
Völlig unerwartet traf sie ein kalter Windstoß ins Gesicht und wehte ihre Haare hinter die Schultern. Jessy schloss angewidert die Augen und spürte, wie die Kälte schmerzhaft auf ihren Augenbrauen brannte. Im gleichen Moment stach die Kälte in ihre Lunge und zwang sie zum Husten. Sie schluckte hart, fing sich schnell wieder und ließ ihren Blick über die bereits menschenleeren Straßen wandern. Niemand. Nicht eine Menschenseele. Doch! Auf der Brücke stand noch immer der Mann, den sie vor ein paar Minuten beobachtet hatte. Er stand nicht mehr an der Brüstung. Sein Gesicht war nach oben gerichtet, in ihre Richtung. Zuerst bemerkte sie es gar nicht, doch als der Fremde seinen Blick nicht abwandte, wurde ihr klar, dass er sie ansah. Er hatte seine Hände in seinen Manteltaschen verstaut, der Wind blies ihm ein paar lange Haarsträhnen ins Gesicht. Sie konnte seinen Ausdruck nicht sehen. Er lag größtenteils im Dunkeln. Genau wie sie. Er würde sie wahrscheinlich auch nicht wirklich erkennen können. Das Licht des relativ kleinen Kronleuchters in ihrem Zimmer schien hinter ihr nach draußen, sodass ihr Gesicht ebenfalls im Dunkeln liegen musste. Der Mann bewegte sich zu der kleinen Straße, hinter der Mauer. Jessica befand sich im zweiten Stock hoch genug, um die gesamte Straße zu sehen, so auch das Auto, das in diesem Moment vorbeifuhr. Die Scheinwerfer beleuchteten den Fremden nur ganz kurz. Nicht einmal einen Wimpernschlag lang hatte sie sein Gesicht sehen können. Und sie hatte geglaubt, dass seine Augen rot aufgeblitzt hätten, während er zu ihr aufgeschaut hatte. Plötzlich hörte sie einen weit entfernten Schrei in ihrem Kopf und sah eine schwarze Gestalt, die vor ihrem inneren Auge auf sie zu kam. Ihr wurde schwindelig. Gleich darauf erwachte sie wie aus einer Trance und sog scharf und erschrocken die kalte Luft ein. Während sie wieder leise hustete, trat sie zurück und schloss das Fenster hektisch. Jessy tat das alles zwar als Einbildung ab, aber sie hielt es für besser, sich nun allmählich zu überlegen, was sie für das große Dinner anziehen sollte. Sie schluckte das Kitzeln in ihrer Kehle herunter und wandte sich zum Kleiderschrank.
Sie hatte sich nach langem Hin- und Herüberlegen dazu entschlossen, ihren grünen Pullover lediglich durch eine weiße Bluse mit dreiviertel Ärmeln auszutauschen. Ihre schwarze Hose war für ein Abendessen fein genug. Sie betrachtete sich in dem goldenen Ganzkörperspiegel, der neben dem Bett an der Wand stand und nickte ihrem Spiegelbild aufmunternd zu. Irgendwie würde sie diesen Abend schon überstehen, schließlich hatte sie keine Wahl. Sie musste das hier bis Weihnachten und noch länger aushalten und heute war erst der zwölfte Dezember. Ab nächster Woche würde der Feten - Marathon ihrer Familie starten. Das hieß jeden Abend, aufgetakelt bis zur Unkenntlichkeit, stets mit einem Glas Champagner in der Hand und einem falschen Lächeln auf den Lippen mit Menschen Konversationen zu führen, die sie erstens noch nie im Leben gesehen hatte, zweitens nie wieder im Leben sehen würde und drittens nach spätestens zwei Sätzen auf den Tod nicht ausstehen können würde!
Warum tat ihr Vater ihr das nur an? Warum tat sie sich das selbst an? Das war schlimmer, als in Askaban einzusitzen. Es war bestimmt nur halb so schlimm, keine Familie zu haben.
Sie wusste nicht, ob sie wirklich so darüber urteilen konnte. Immerhin wusste sie nicht, wie es war, überhaupt keine Familie zu haben. Sofort musste sie an ihn denken. Bei Merlin, wie lange war das jetzt her? Drei Jahre. Länger, dreieinhalb! Dreieinhalb Jahre, in denen sie ihn so gut wie vergessen hatte, weil er einfach ohne ein Wort aus ihrem Leben verschwunden war, sie alleine gelassen hatte. Er war verschwunden, ohne ein Wort des Abschieds. Keine Nachricht, kein Hinweis, nichts. Und sie hatte keine Ahnung, was aus ihm geworden war. Jessica hatte sich in den vergangenen Jahren dazu gezwungen, ohne Unterbrechung wütend auf ihn zu sein, um ihn leichter verdrängen und besser vergessen zu können. Aber: Seinen besten Freund vergaß man nicht so einfach über Nacht. Zum Glück hatte ihre Ausbildung zur Aurorin sie voll und ganz gefordert und in Anspruch genommen. Nicht einmal nachts war Zeit gewesen, um zu weinen. Nein, sie hatte nicht um ihn geweint. Außer einmal. Sie hatte Ablenkung gehabt und davon nicht zu wenig. Trotzdem. Wirklich vergessen hatte sie ihn nie. Wie gerne hätte sie ihn jetzt bei sich, als Freund. Als Zuhörer. „Was ist nur aus uns geworden, Tom Vorlost Riddle?“
Nachdenklich fuhr sie sich durch die schwarzen Locken, als es zaghaft an der Tür klopfte. Da sie ihre Mutter vermutete, sagte sie nur beiläufig: „Komm rein.“ Doch die Tür wurde sehr langsam und vorsichtig nur einen Spalt breit aufgeschoben. Im Spiegel sah Jessica wie sich der kleine Hauself, der ihren Koffer herauf getragen hatte, zunächst nur durch den Spalt ins Zimmer linste, bevor er sich hindurch quetschte. Sie drehte sich um und ertappte sich dabei, wie sie ihm beinahe zugelächelt hätte. Augenblicklich zwang sie sich zu einem emotionslosen Gesichtsausdruck und fragte tonlos:
„Was gibt es?“ Der kleine Elf senkte den Kopf und betrachtete nervös und verlegen seine kleinen Händchen. „Madame Romanov hat Tippsy geschickt, um ihre Nichte, Miss Whiteman zum Abendessen abzuholen.“, murmelte er mit hängenden Ohren. Abholen?, dachte sie erzürnt. Dachte ihre liebe Tante etwa, dass sie auf dem Weg nach unten eine der Engelsstatuen beschädigen könnte? Wer war sie denn? Eine der meistgesuchten, bösesten, schwarzen Magierinnen der Welt? Nein, ich denke nicht! Befürchtet Madame Romanov…“, sie betonte das Wort „Madame“ sehr übertrieben „..etwa, dass ich mich in ihrem Haus auf dem Weg nach unten verlaufe?“, fragte sie spitz und sah den Elf vernichtend an. Im gleichen Moment tat es ihr Leid, denn sie wusste, dass der kleine Tippsy am wenigsten dafür konnte. Er zuckte zusammen und murmelte etwas wie: „….ausdrücklich…Wunsch...Madame...manov“ Jessica nickte und beschloss, sich zu fügen, für jetzt. Sie nickte in Richtung Tür und ließ den Hauselfen vorgehen. Sie folgte der kleinen Gestalt, die offensichtlich stets die Schultern hängen ließ, den langen Flur entlang, über den roten Teppich. Als sie die Brüstung betrat, an den dunklen, bedrohlich wirkenden Marmorsäulen vorbei schritt und die weißen Marmorstufen hinunter ging, erwischte sie wieder die Kälte. Bei Merlin, wenn sie hier schon alles Geld für sinnlose Vergoldungen im gesamten Haus vergeudeten, warum hatten sie sich dann nicht gleich einen Kamin in den Eingangsbereich einbauen lassen? Immerhin wäre das sogar nützlich gewesen und sie würde jetzt nicht so bibbern. Aber wahrscheinlich war das hier nicht nur die Kälte, die von draußen kam. Auch die Hausherrn und ihre gesamte Familie hatten eine überwiegend kalte Aura. Noch hinzu kam der grau-weiße Marmor-Ton, der den Eingangsbereich nicht wirklich gemütlich machte. Aber so war das früher nun einmal gewesen. Das Anwesen war sicherlich schon 200 Jahre alt, wenn nicht sogar noch älter. Und zu dieser Zeit hatte man seine Gäste, egal ob Freunde oder Feinde, schon im Eingangsbereich indirekt gedemütigt. Sie sollten angetan und beeindruckt sein, von der Größe und von dem Prunk. Zugleich sollten diese Ausmaße jeden Fremden langsam aber sicher einschüchtern. Wer schon solch einen Eingangsbereich hatte, musste einfach ein prachtvolles Haus, ein prachtvolles Leben, eine prachtvolle und vor allem einflussreiche Familie haben. Das hieß noch lange nicht, dass es sich bei den Besitzern auch um besonders prachtvolle Menschen handelte. Die gehobene Größe und der ganze Prunk wurden natürlich auch durch entsprechend kalte Farben unterstrichen. Wer dazu einen roten Teppich hatte, zeigte auf ganz klassische Art, dass er vornehm und ziemlich reich war. Nebenbei setzte das Symbol für Nobel und Reichtum auch noch hinreißende Kontraste, in einer überwiegend kalten Umgebung.
Auf Jessicas nackten Unterarmen stellten sich sämtliche Häärchen auf und sie begann wieder, zu frösteln. Sie zog die Schultern hoch und ging steif weiter. Der Hauself verschwand kurz vor dem runden Eingangsbogen zum Salon nach rechts zur Wand, wo sich eine kleine, schwarze Tür befand. Wahrscheinlich war dort der Elfeneingang zur Küche. Sie zögerte kurz und lauschte. Sie glaubte, ihre Tante kichern zu hören und ihr Vater sagte gerade: „…ich mir erhofft, dass ihr beide euch wieder einander annähert.“ Sie strich noch einmal ihre Bluse glatt und trat in den Salon. Vor dem Teppich, auf dem sich größtenteils das Mobiliar befand war nun eine große Tafel aufgebaut. Der Tisch war bestimmt acht bis zehn Meter lang, die Stühle waren alle identisch und (natürlich) rot. Auf fünfen davon saß ihre geschätzte Verwandtschaft.
Am Kopf des Tisches saß Dimitri, wo er, da waren ihr Vater und sie einmal einer Meinung, definitiv nicht hingehörte. Zu seiner linken Seite saß seine Frau, neben ihr Jessicas Mutter.
Gegenüber von Evelyn saß ihr Vater, was Jessys Mutter mit Sicherheit nicht gefiel. Jedes Mal, wenn sie Evelyn und ihre Familie besuchten, hingen die beiden Geschwister aufeinander und man hatte wirklich eher das Gefühl, dass Benjamin Whiteman mit Evelyn verheiratet war. Die beiden gingen um einiges herzlicher miteinander um, als sie es mit ihren Ehepartnern jemals tun würden. Mary, Jessicas Mutter war ganz offensichtlich eifersüchtig. Es war im Grunde zwar lächerlich, aber sie hatte eben wie ihre Tochter noch immer das Gefühl eine Außenstehende zu sein. Direkt neben ihrem Vater saß Sergej, mit dem Rücken zu ihr. Jessica sah nur kurze, dunkelblonde Haare, die irgendwie, völlig formlos und zu allen Seiten von seinem relativ kleinen, kugelförmigen Kopf abstanden.
In diesem Moment erblickte Evelyn ihre Nichte. „Ah, Jessica!“, rief sie absichtlich laut aus und dehnte ihren Namen sehr auffällig. Dabei grinste sie so auffällig, dass ihre perfekt weißen Zähne aufblitzten. Nebenbei schickte sie ihrem Sohn noch einen viel sagenden Blick.
Jessica zwang sich zu einem Lächeln und setzte sich in Bewegung. Eigentlich hatte sie gehofft, sich neben Sergej setzen zu können, um so ein Gespräch während des Essens schwieriger zu gestalten, doch ihr Vater gab ausgerechnet ihrer Mutter zu verstehen, dass sie einen Platz abrutschen sollte, damit Jessica sich auf ihren Platz setzen konnte, direkt gegenüber von ihrem drei Jahre jüngeren Cousin. Der Blick, den Benjamin seiner Frau dabei zuwarf war eindringlich, befehlend. Mary Whiteman wirkte leicht irritiert, senkte dann aber den Kopf und tat, wie man(n) ihr geraten. Jessica biss sich auf die Unterlippe und ließ sich mehr gezwungen als freiwillig auf den Stuhl sinken. Sofort warf ihr Vater die erste Spitze:
„Warum trägst du dein Haar offen, Jessica?“ Überrascht blickte sie zu ihm und fragte sich, was er wohl wollte. Benjamin Whiteman fuhr mit mahnendem Blick fort: „Ich dachte, wir wären uns einig darüber, dass du dein Haar in der Öffentlichkeit immer hochzustecken hast?“ Jessica presste wütend die Lippen aufeinander. Noch so ein Punkt, den ihr Vater immer wieder anbrachte. Ihre schwarzen Locken, die ihr mittlerweile bis über die Brust reichten, ließ sie schon allein aus Protest offen, weil ihr Vater immer meinte, dass nur Künstler, Musiker und andere Spinner ihre Haare so unnatürlich lang und offen trugen. Sie bemerkte, dass alle am Tisch auf eine Antwort von ihr warteten und lächelte zuckersüß. „Verzeih mir, Papa“, säuselte sie. „Aber meine Bluse ist so gut wie durchsichtig und mein BH ist unglücklicherweise schwarz, also muss ich doch etwas haben, das dieses fürchterliche Missgeschick verdeckt, nicht wahr?“ Ihr Vater funkelte sie wütend an, doch Jessica grinste noch breiter und war heilfroh, als ihre Tante das Wort ergriff und das Thema wechselte. Gleich darauf wurde ihnen auch schon das Essen serviert. Sergej hatte die brauen Augen seines Vaters und die magere Gestalt seiner Mutter. Evelyn war gertenschlank und auch Dimitri war eigentlich eher dünn. Sergejs Gesicht wirkte sehr feminin mit den hohen Wangenknochen und den eher weicheren Zügen. Der schwarze Anzug machte seine Haut noch blasser, als sie ohnehin schon war. Plötzlich erinnerte Jessy sich daran, was ihre Tante heute Mittag, kurz nach ihrer Ankunft gesagt hatte.
„Sergej ist momentan noch beim Eislaufen.“ Sie konnte nicht verhindern, dass ihr rechter Mundwinkel nach oben zuckte und sie musste einen Lacher so stark unterdrücken, dass ihr die Tränen in die Augen stiegen. Vor ihrem inneren Auge spielte sich gerade DIE russische Komödie des Winters ab. Ihr dürrer Cousin, mit rosafarbenem Schal und Pudelmütze, wie er auf der Eisfläche einen Achsel sprang, federleicht landete und mit durchgestrecktem Bein elegant an jubelnden Zuschauern vorbei glitt. Im Hintergrund der nächtliche rote Platz von Moskau mit der hell erleuchteten St. Basilius Kirche. Jessica grinste ihn ununterbrochen an.
Unglücklicherweise war Sergej zu naiv oder schlichtweg zu blöd, um zu erkennen, dass seine englische Cousine durch ihn hindurch sah. Seine tiefe, überaus dunkle Stimme riss sie aus ihren amüsanten Gedanken. „Ich freue mijech auch, djeich endlijch wijeder zu sejen, Ijessica.“, sagte er mit stark russischem Akzent und rollte dabei natürlich das R, wo es nur ging. Plötzlich lachte er hinterher. Zuerst dachte Jessy, er hätte sich an seinem Essen verschluckt, denn es klang als würde er angestrengt versuchen, Luft zu holen. Doch dabei verzog er seine vollen Lippen zu einem übertriebenen Grinsen und zeigte seine mit Essensresten verklebten Zähne.
Zu Jessica wehte ein miefiger, um nicht zu sagen wirklich abstoßender Gestank herüber und sie hatte Mühe, nicht zu würgen. Putzte ihr Cousin sich jemals die Zähne?
Das Essen wurde weitaus schlimmer, als Jessica es sich jemals in ihren düstersten Alpträumen hätte ausmalen können. Ihr Vater und ihre Tante Evelyn spielten andauernd auf sie und ihren Cousin an und wie vorteilhaft eine solche Verbindung doch sein würde. Sergej nickte immer wieder bestätigend. Mehr erwartete auch niemand hier von ihm, denn die ganze Zeit über stopfte er sich mit Essen voll. Sein Mund war nie länger als zwei Sekunden leer. Seine Cousine konnte sich indes nur wundern, wo das ganze Essen nur hin verschwand. Neben ihm kam sie sich dick vor und sie hatte eine Kleidergröße von 36. Die kleine Eisprinzessin war durch und durch ein Hänfling und selbst ein Blinder hätte vermutet, dass Sergej schwul sein musste. Wenn er dann mal die Augen von seinem Teller nahm, grinste er Jessica extrem freundlich an. Der wurde immer unwohler zumute. Sergej war ihr unheimlich. Mehr als unheimlich und noch dazu besaß er weder Manieren, noch Verstand, wie ihr schien. Zwischendurch blickte Jessica immer wieder Hilfe suchend zu ihrer Mutter, doch Mary schien komplett abwesend und voll auf ihren Teller konzentriert zu sein. Verdammt, wenn sie ihre Mutter mal brauchte…! So war das schon immer gewesen. Ihre Mutter hatte sich ihrem Vater immer gefügt, egal, was das für sie oder für ihre Tochter bedeutete. Das erklärte auch, warum ihr Vater so herrisch war. Seine Frau war ihm in jeder Sache hörig und seine Tochter sollte ihm ebenfalls bedenkenlos aufs Wort gehorchen. Alle sollten für ihn funktionieren, wie Maschinen. Doch Jessica hatte aufgehört, sich zu fügen, als sie in die Pubertät gekommen war. Sie hatte irgendwann gemerkt, dass ihr Vater sie nur so lange liebte, wie sie gehorchte, wie sie sich beugte. Das war keine Liebe. Sie hatte, ganz im Gegensatz zu ihrer Mutter schon im Alter von 15 Jahren kapiert, dass die Whitemans keine Familie waren. Das alles war eine Autokratie. Das hatte nichts, aber auch gar nichts mit Liebe, Zusammenhalt und Verständnis zu tun! Sollte eine Familie normalerweise genau daraus bestehen? Aber gut, was war in ihrer Welt schon normal?
Jessica hielt sich beim Essen sehr ran, um so schnell wie möglich wieder auf ihr Zimmer verschwinden zu können und doch dauerte es insgesamt zwei Stunden, bis ihr Vater ihr mit einem Nicken und einem ganz hauchdünnen Lächeln zu verstehen gab, dass sie sich entfernen durfte. Sergej hatte mittlerweile begonnen, sie über die Stadt St. Petersburg, deren Geschichte und Politik zuzuquatschen. Anscheinend war ihr Cousin doch nicht so dumm, wie er auf den ersten Blick wirkte. Aber er war aufdringlich, genau wie seine Mutter. Er wich ihr auch nicht von der Seite, als sie sich ganz höflich verabschiedete, mit der Begründung, sie sei nun müde und würde sich gerne zum Schlafen in ihr Zimmer begeben. „Oh, ich werde dijch begleijten, Ijessica.“ Ja, du bist mir auch so ne Ijessica! Sie wusste, dass sie das nicht ablehnen durfte und dass sie sich nicht zu schnell aus dem Salon entfernen durfte. Selbst ein zu schneller Schritt, ein falsches Augengezwinker, ein kurzes Zucken reichten ihrem Vater aus, um zu erkennen, dass seine rebellische Tochter am Liebsten protestiert hätte.
Sie ging also ruhigen Schrittes aus dem Salon, betrat, gefolgt von Sergej den Eingangsbereich und schlich langsam die Treppe hinauf. Verzweifelt versuchte sie, das nervige Geplapper ihres Cousins irgendwie auszublenden, was sich als sehr schwierig erwies, da er manche Sätze fast schon brüllte. Und der sollte 16 Jahre alt sein? Er hatte das Stimmvolumen eines ausgebildeten, über 50jährigen Opernsängers. Als sie endlich vor ihrer Tür angekommen war, lächelte sie noch einmal gequält und verschwand mit einem flüchtigen „Nacht.“ In ihrem Zimmer. Als sie die Tür geschlossen hatte, war es als würde eine tonnenschwere Last von ihr abfallen. Bei Merlin, sie konnte sich nicht entsinnen, wann sie sich das letzte Mal derart vorgeführt, veräppelt, bevormundet, übergangen und hilflos gefühlt hatte. Müde ließ sie sich bäuchlings auf das weiche Bett fallen und schloss die Augen.
Die folgenden Tage vergingen quälend langsam und wurden irgendwann zu noch langsamer vergehenden Wochen. Jessica gab sich die größte Mühe, sich mit ihrer Verwandtschaft entsprechend zu organisieren. Am meisten hatte sie mit Sergej zu kämpfen, der anscheinend immer aufdringlicher wurde, je länger sie dort war. Ihr Vater beobachtete sie zufrieden auf Schritt und Tritt. Jede Bewegung, die sie machte, jedes Lächeln, das sie fälschlicher Weise aufsetzte, wurde von Benjamin Whiteman genauestens analysiert. Und oft reichte ein Blick aus seinen eisigen Augen, um seiner Tochter zu verdeutlichen, wie sie sich zu verhalten hatte.
Ihr Vater war im Grunde noch schlimmer als Sergej. Ihr Vater war ihr schlimmster Verfolger und auf diesem Gebiet kannte sie sich seit ihrem fünften Jahr in Hogwarts aus. Sie erinnerte sich an den jungen Hufflepuff, der sie während Slughorns Dinnerparty wie ein Idiot angestarrt und sie im Nachhinein auch noch nach einem Date gefragt hatte. Tom, ihr damals bester Freund hatte das zum Glück verhindert und hatte ihr Markus Dunn ein für alle Mal vom Hals gehalten. Damals. Sie wurde wehmütig bei diesem Gedanken. Wenn Tom jetzt hier wäre, würde er Sergej und wahrscheinlich auch ihrem Vater ordentlich ausschöpfen und sich wie ein Retter vor sie stellen. Jessy schüttelte den Kopf, um diesen kindischen Gedanken zu verbannen. Es konnte sie nicht immer jemand retten, das hatte sie doch in der Aurorenausbildung gelernt. Als Aurorin würde sie die meiste Zeit auf sich allein gestellt sein. Sie würde sich entweder selbst verteidigen, oder sterben. So musste sie auch die Situation in hier in Russland betrachten. Es war am 19. Dezember, es war ein nebliger Vormittag und Jessica hielt es nicht länger in diesem goldenen Käfig aus. Daher schnappte sie sich ihren roten Wintermantel mit dem schwarzen Fellkragen, versteckte ihren Zauberstab unauffällig in einer der Innentaschen und stahl sich zur Vordertür raus. In ihrem Zimmer hatte sie ein Stück Pergament auf die Tasten des schwarzen Flügels gelegt mit der Nachricht:
Ich bin spazieren.
Jessy
Sie hatte mit voller Absicht mit der Kurzform ihres Namens unterschrieben, weil sie genau wusste, wie sehr ihr Vater diesen Spitznamen hasste. Wenn es nach ihm gegangen wäre (wie in den meisten Fällen) hätte er sie den ganzen Tag Jessica Pauline genannt. Dass er das nicht tat lag einzig und allein daran, dass seine Tochter bei diesen zwei Namen immer sofort abschaltete und komplett zumachte. Wenigstens etwas hatte sie mit ihrem Dickkopf erreicht.
Draußen schneite es wieder. Eigentlich schneite es momentan so gut wie jeden Tag. Mal mehr, mal weniger. Auf jeden Fall würden sie hier weiße Weihnachten haben. Ob sie sich darüber freute? –Nein. Im Augenblick konnte sie sich wirklich über gar nichts mehr freuen.
Sie steckte die Hände in ihre Manteltaschen und ging forschen Schrittes auf das kunstvoll geschmiedete Eisentor zu, dass sie von ihrer Freiheit trennte. Bevor sie ihren Zauberstab zückte, blickte sie sich zur Sicherheit noch einmal kurz um, ob auch niemand sie sah.
Dann holte sie ihren Zauberstab hervor und tippte leicht gegen das Tor. Ein grünes Glimmen und im selben Moment berührte sie die Klinke mit einem ihrer schwarzen Handschuhe. Nichts geschah. Jessica seufzte erleichtert und zog sich ihren Handschuh wieder an. Nachdem sie ihren Zauberstab wieder hatte verschwinden lassen, öffnete sie das schwere Eisentor mit einem unangenehm lauten Quietschen, presste die Lippen aufeinander und beeilte sich, raus zu kommen. Geschafft! Sie stand auf der anderen Seite der Mauer und schloss das Tor eilig wieder. Noch einmal blickte sie sich um, sah von Fenster zu Fenster, ob auch niemand ihren Ausbruch beobachtet hatte und atmete auf. Da war niemand. Auch die kleine, enge Straße, die nun vor ihr lag war menschenleer. Jessy zögerte nicht länger und ging los. Sie wollte zunächst einmal zum großen Platz, sich vielleicht die Alexandersäule ansehen. Oder einfach die ahnungslosen Muggel beobachten, wie sie ihrem Leben nachgingen, Termine wahrnahmen und durch die diesigen Straßen hetzten. Schnell hatte sie die Straße und auch die kleine Brücke hinter sich gelassen. Ihr fiel auf, dass wohl seit längerem niemand mehr diese Brücke überquert hatte. In der weißen, beinahe unberührten Schneedecke fanden sich lediglich acht Fußabdrücke, des scheinbar selben Paars Schuhe. Jessica wunderte sich nicht darüber und ging weiter. Während der eisige Wind ihr die langen, schwarzen Haare auf den Rücken blies, begann ihre Nase zu laufen. Sie kramte völlig entspannt nach einem Taschentuch und atmete noch tiefer ein, auch wenn es sie zum Husten brachte. Das musste es sein! Das war es! Das Gefühl, endlich ungebunden und unbeobachtet zu sein. Das Gefühl der Leichtigkeit.
Das Gefühl der Freiheit!
Etwas später hatte sie den Platz erreicht. An manchen Stellen hockten ein paar alte obdachlose Männer auf den Boden, den sie gerade so weit vom Schnee befreit hatten, dass sie in dem kleinen Fleck sitzen konnten. Einer der Männer sprach sie auf russisch an, blickte flehend zu ihr auf und hob bittend die Hand. Seine Augen waren blutunterlaufen und halb geschlossen.
Seine Hand schien ihm schwer und nach einiger Zeit begannen seine müden Armmuskeln zu zittern. Jessica sah ihn einen Moment lang stumm an. Was konnte sie schon tun? Ihm Geld hinwerfen? Klar, damit er es in der nächsten Kneipe für Wodka ausgab. Sollte sie ihm eine Decke zaubern? Was würde das schon helfen? Die einzige Möglichkeit, die sie sah, war ihm den Gnadenfluch zu verpassen, damit er wenigstens an Weihnachten nicht mehr leiden müsste.
Bei Merlin, was dachte sie da bloß?! Völlig verwirrt von ihrer eigenen Kälte riss sie ihren Blick von dem Bettler los und ging weiter in Richtung des Winterpalastes. Ihr Blick wanderte hinauf zur Alexandersäule und sie verlangsamte ihr Tempo. Was man wohl von da oben aus alles sehen konnte? Wie großartig die Aussicht von dort aus sein musste.
Plötzlich stieß sie mit jemandem zusammen. Erschrocken sah sie vor sich und erkannte einen Mann in einem schwarzen Mantel, der sich gleichzeitig mit ihr auf den Boden hockte und gleichzeitig machten sie sich daran, die Bücher vom Boden aufzuheben, die er wohl zuvor im Arm getragen hatte. Während Jessica bereits drei schwere Wälzer in ihrem Arm hielt und von einem vierten gerade den Schnee wegwischte, sprudelten die Entschuldigungen nur so aus ihr heraus. Auch auf die Gefahr hin, dass der Mann sie wahrscheinlich gar nicht verstand, redete sie weiter, ohne ihren Blick von den Büchern zu wenden. Als sie sie dem Fremden reichen wollte, trafen sich ihre Blicke zum ersten Mal und sie sah sein Gesicht. Der Mann war ausgesprochen blass, hatte dunkle Augen und seine längeren dunkelbraunen Haare rahmten sein Gesicht ein. Der Fremde öffnete den Mund, vermochte aber nicht zu sagen. Stattdessen packte er Jessica an den Oberarmen und zog sie mit sich aus der Hocke nach oben. Als er sie losließ wären ihm beinahe wieder die Bücher herunter gefallen, aber er schaffte es doch noch, sie festzuhalten. Jessica lächelte leicht und reichte ihm seine restlichen Bücher. Der Mann stapelte sie auf seinem Arm, ohne seinen Blick von ihr zu nehmen und ohne seinen Mund zu schließen.
Er war kaum größer als sie. Vielleicht fünf oder zehn Zentimeter Unterschied. Misstrauisch zog Jessica die Augen zusammen und drehte den Kopf leicht zur Seite. Hatte dieser Kerl etwas noch nie eine Frau gesehen? In diesem Moment riss ihr Gegenüber kurz die halb geschlossenen Augen auf, fing sich jedoch schnell wieder und schloss immerhin seinen Mund.
Jessica nickte und wollte gerade an ihm vorbei treten….
„Eine junge Frau wie Sie würde gut daran tun in St. Petersburg ihren Blick dorthin zu richten, wo sie hingeht.“ Augenblicklich zuckte sie zurück und kam ihm näher.
„Wie war das bitte?“, fragte sie, obwohl sie jedes einzelne seiner Worte genauestens verstanden hatte. Der Mann blickte ihr in die Augen. In seinem Gesicht stand nichts. Nichts. Er musterte sie mit einem arroganten, fast schon gleichgültigen Blick. Herausgefordert verengte sie ihre Augen zu schmalen Schlitzen und musterte ihn ebenfalls. Er hatte völlig akzentfrei und deutlich perfekt Englisch gesprochen. Er konnte also unmöglich ein Russe sein.
„Ich denke, Sie haben mich verstanden, Miss“, erwiderte er kühl. „Und da Sie hier fremd sind sollten sie ganz besonders Acht geben.“
Er kam mit dem Gesicht etwas näher und flüsterte ihr zu: „Hier treiben sich die merkwürdigsten Gestalten herum. Unangenehme Gestalten.“ Sie hielt seinem Blick stand, ließ zu, dass sein warmer Atem auf ihrer Haut zerging und rührte sich nicht. Der Fremde richtete sich wieder auf, schaffte wieder einen Höflichkeitsabstand zwischen ihnen. Völlig unbeeindruckt machte sie ein nachdenkliches Gesicht. „Reden wir hier von unangenehmen Gestalten wie Ihnen, die ganz offensichtlich keinerlei Manieren haben?“ Sie zog arrogant die Augenbrauen hoch und wartete auf seine Reaktion. Der junge Mann verzog keine Miene, schien jedoch zu überlegen, was er erwidern sollte. Doch er brauchte nicht lange.
„Empfinden Sie meine Gesellschaft tatsächlich als unangenehm?“ Jetzt war er es, der die Augenbrauen nach oben zog.
Damit hatte sie nun wirklich nicht gerechnet. Welche Gesellschaft? Was sollte sie darauf antworten? Sie überlegte für ihren Geschmack etwas zu lange, bevor sie antwortete: „Die Frage ist falsch gestellt. Habe ich Sie je danach gefragt, ob Sie sich herablassen würden, sich meiner Gesellschaft auszusetzen?“
Der Fremde tat nun überrascht. „Halten Sie denn wirklich so wenig von sich selbst?“
Seine Stimme war ruhig, beinahe einfühlsam und auf eine beunruhigende Art und Weise durchdringend. Jessy wollte etwas freches, vorlautes, oder zumindest unhöfliches sagen, immerhin war sie darin Meisterin, in ihrer Verwandtschaft zumindest. Doch ihr fiel beim besten Willen nichts ein. Deshalb schloss sie den Mund wieder, lächelte ihn zuckersüß an und sagte: „Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag, Mister.“ Mit diesen Worten drehte sie sich um, und entfernte sich mit einem entspannten, sehr gelassenen Gang. Nach wenigen Schritten hielt sie jedoch noch einmal an und wandte sich um. „Oh, und frohe Weihnachten!“
Dabei grinste sie überheblich und war überrascht zu sehen, dass auch er dieses Mal eine Regung in seinem Gesicht zeigte. Er lächelte. Zwar auf eine unterkühlte Art, aber es war ein Lächeln. Um ihre Verwirrung zu verstecken, wandte sie sich schnell ab und ging, inzwischen nicht mehr allzu entspannt, in Richtung Brücke.
Zu ihrem Pech war ihr kleiner Ausflug nicht unbemerkt geblieben. Als sie wieder durch die Eingangstür trat wartete dahinter schon ihr überaus wütender Vater mit verschränkten Armen und nervös auf und ab tippendem Fuß auf sie. Er schien nicht sonderlich begeistert von der Idee seiner Tochter zu sein. Und bevor Jessy etwa sagen konnte, legte der Anwalt auch schon los: „Jessica Pauline Whiteman!“ Sie konnte gerade noch ein Stöhnen unterdrücken und schloss die Tür. Da sie ihm dabei den Rücken zuwandte verdrehte sie für den kürzesten Moment genervt die Augen. „Wo, bei Merlins Bart hast du gesteckt?! Hatte ich mich nicht klar und deutlich ausgedrückt, was Dummheiten betrifft?!“ Das reichte! Wütend schlug Jessica mit beiden flachen Händen gegen die Tür und fuhr herum. „Wenn du dich nicht immer so übertrieben aufregen würdest, wenn ich es mal wage, aus der Reihe zu tanzen, hättest du den Zettel gesehen, den ich in meinem Zimmer auf das Klavier gelegt habe! Und von welchen Dummheiten redest du überhaupt? Ich war bloß spazieren, ich wollte mal raus, ich brauchte Luft zum Atmen!“ Ihr Vater kam näher und packte sie so fest am Oberarm, dass es wehtat.
„Wie kannst du es wagen, in einem solch vorlauten, unverschämten Ton mit deinem Vater zu reden?!“, knurrte er und seine kalten Augen stachen in ihre. „So rede ich mit jedem, der versucht, mich wie ein Tier in einem Käfig zu halten.“, gab sie zurück und versuchte, sich aus seinem Griff zu befreien. Dabei rangen sie kurz miteinander und als sie ihren Arm endlich frei bekam, holte er plötzlich ohne jede Vorwarnung aus und schlug ihr mit der flachen Hand ins Gesicht. Es passierte so schnell, dass es Jessy erst bewusst wurde, als ihr Kopf zur Seite ruckte und sie Blut auf ihrer Zunge schmeckte. Völlig ungläubig betastete sie ihren Mund. Ihre Unterlippe war aufgeplatzt. Vorsichtig wischte sie etwas von dem Blut weg und blickte langsam zu ihrem Vater auf, in dessen Gesicht noch immer die blanke Wut stand. Sie starrte ihn an. Geschockt, ungläubig, fassungslos. Doch nach dem Schock folgte die Wut. Sie ging auf ihn zu, formte ihre Hände zu Krallen und versuchte, ihn auf irgendeine mögliche Art wenigstens zu kratzen. Doch er hielt sie fest und war anscheinend wieder ruhiger geworden.
Doch schon machte er ihr den nächsten Vorwurf. „Wieso tust du das? Warum versuchst du, mich zu verletzen? Dein Verhalten krängt mich, Jessica. Es krängt mich. Du triffst mich tief ins Herz!“ Wütend ließ sie von ihm ab und trat ein paar Schritte zurück. Dann lachte sie trocken auf und schnaubte verächtlich. „Ach! ICH habe DICH also ins Herz getroffen, ja?
Es mag dir vielleicht entfallen sein, aber DU hast MICH geschlagen!“
„Was ist denn hier los?!“ Beide Whitemans fuhren zeitgleich herum und erblickten Evelyn, die gerade aus dem Salon kam und nun verunsichert von ihrem Bruder zu ihrer Nichte blickte.
Als sie Jessys blutige Lippe registrierte, schluckte sie kräftig und sog scharf die Luft ein. „Ich…habe Geschrei gehört“, sagte sie und wurde blass. Benjamin Whiteman reagierte zuerst, griff seiner Tochter unter den Mantel und nahm ihr den Zauberstab ab. Jessica griff ins Leere und starrte ihn fassungslos an, während sie sich die Blutspur mit dem Handrücken vom Kinn wischte. „Was machst du da?“, fragte sie ihn, wobei diese Frage mehr rhetorisch gewesen war. Ihr Vater ließ den Zauberstab vor ihren Augen verschwinden und sah sie kalt an. „Ich stelle sicher, dass du für den Rest unseres Aufenthaltes hier keinerlei Dummheiten mehr begehst, Jessica. Dein Zauberstab befindet sich derzeit an einem sicheren Ort. Keine Sorge.“ In seiner Stimme lag eine derart dreiste Selbstverständlichkeit, dass sie glaubte, in einem Alptraum gefangen zu sein. Ihr war natürlich klar, dass sie von ihrer Tante keinerlei Hilfe erwarten konnte und auch von sonst niemandem. Sie war vollkommen allein. Allein in St. Petersburg.
Ihre Wut, die kurzfristig abgeschwollen war, begann nun wieder wie wild zu lodern. Als sie den arroganten, selbstsicheren Blick ihres Vaters sah, als sie sah, dass er kein bisschen Reue empfand, dass es ihm nichts ausmachte, dass er sie geschlagen hatte, konnte sie nicht mehr länger an sich halten und vergaß alle Manieren, die man ihr jemals beigebracht hatte. In einer Art Kurzschlussreaktion, ohne dass sie es geplant hatte, schrie sie ihn an: „Ich bin nicht mehr 7 Jahre alt, Benjamin! Ich bin erwachsen, wann kapierst du das endlich?!“ Innerhalb der nächsten Sekunde klatschte es fürchterlich, ihre Wange brannte höllisch, sie hörte Evelyn entsetzt aufschreien und fand sich auf dem kalten Marmorboden wieder. Jessica war benommen und doch drang die Stimme ihres Vaters zu ihr durch. „Du armselige Kreatur!“ Es klang ganz weit weg, wie hinter einem akustischen Schleier. „Wie kannst du es wagen, du Drecksstück?!“ Bei diesen Worten erwachte sie aus ihrer kurzzeitigen Taubheit, berührte mit den Fingerspitzen vorsichtig ihre Wange, die heiß pulsierte und blickte nach oben. Ein diabolischer Blick von oben herab vom Staranwalt. Jessica stand unter einem Schock. Sie war nicht fähig, etwas zu sagen, oder auf irgendetwas zu reagieren. Langsam rappelte sie sich auf, wankte an Benjamin Whiteman vorbei und schleppte sich langsam die Treppe hinauf zu ihrem Zimmer, ohne die Hand von ihrer Wange zu nehmen. Das Blut ihrer offenen Unterlippe lief ihr Kinn herunter, tropfte auf den Teppich und vereinzelt auf den weißen Marmor. Einen Tag später würde sie Evelyn nach Tippsy rufen hören, dass er die roten Flecken beseitigen solle, sie würde ihre Mutter leise vor ihrer konstant verschlossenen Zimmertür schluchzen hören und würde sich fragen, ob das, was sich an jenem Tag in der Eingangshalle abgespielt hatte, Traum oder Wirklichkeit gewesen war. Doch ihr Spiegelbild zeigte ihr selbst noch an Heilig Abend, dass ihr Entsetzen, ihr Schmerz und ihre Hilflosigkeit echt waren. Jessy fühlte sich so gedemütigt wie noch niemals zuvor in ihrem Leben und hatte ab diesem Tag die schreckliche Gewissheit. Ihr Vater war grausam. Ihr Vater sah in ihr eine „armselige Kreatur“, die vor ihm zu Kreuze kriechen sollte. Von diesem Tag an hasste sie ihn.
Erst an Heilig Abend kam sie das erste Mal wieder aus ihrem Zimmer heraus. Ihre Mutter hatte die letzten Tage immer und immer wieder versucht, sie dazu zu bewegen, doch wenigstens zum Essen in den Salon zu kommen, doch Jessy war stur und stumm auf ihrem Bett liegen geblieben. Evelyn hatte ihr jeden Tag das Mittag- und das Abendessen vor die Tür gestellt, was sie sehr überrascht hatte. Normalerweise hätte sie erwartet, dass sie nach ihrem unmöglichen, unverschämten, schlichtweg unmöglichen Verhalten bloß Wasser und trockenes Brot bekommen würde, wenn überhaupt. Doch dem war nicht so. Zum Glück befand sich das Bad direkt nebenan, sodass sie hier drin nicht völlig verwahrloste. Ab und zu hatte sie ein bisschen auf dem Flügel gespielt, überwiegend traurige und ruhige Melodien. Oft hatte sie unten mehrere Menschen auf einmal gehört. Musik war gespielt worden, Gäste waren ein und aus gegangen. Der Feten-Empfänge-Marathon hatte begonnen, ohne sie. Zum Glück. Doch ihr war bewusst, dass sie sich nicht ewig hier oben verstecken konnte. „Warum eigentlich nicht?“, hatte sie sich am 21. Dezember gefragt. Ganz offensichtlich vermisste man sie nicht und im gleichen Augenblick waren ihr wieder Tränen der Wut in die Augen geschossen, die sie nur schwer hatte herunterschlucken können. Da hätte sie auch gleich zu Hause bleiben können! Am 23., als sie ihre Mutter mal wieder vor ihrer Tür zusammenbrechen hörte, hatte sie kurz zum Fenster geblickt, und sich vorgestellt, einfach heraus zu springen. Einen Sprung aus dem zweiten Stock hätte sie nicht überlebt, außer, das Universum verabscheute sie tatsächlich abgrundtief. Aber sie hatte diesen Gedanken schnell wieder verdrängt und versucht, einen klaren, vernünftigen Gedanken zu fassen. Sie würde sich nach wie vor nicht beugen! Sie würde sich nicht brechen lassen! Und an Heilig Abend wollte sie zumindest ihrer Mutter zeigen, dass sie noch lebte und (den Umständen entsprechend) wohlauf war. Sie wartete bis 11 Uhr morgens, bevor sie die Tür einen Spalt breit öffnete und mit einem Auge den Flur absuchte. Nichts. Gut. Jessy holte noch einmal tief Luft, dann trat sie aus ihrem Zimmer. Erst auf der Treppe bemerkte sie, dass sie sich schleichend fortbewegte. Das kam ihr so unsagbar feige und dumm vor, dass sie sich kurz gegen die Stirn schlug und dann normalen Schrittes weiterging. Als sie vor dem Salon stand verlangsamte sie ihr Tempo unbewusst wieder. Sie blieb unter dem großen Eingangsbogen stehen und linste erst einmal in den riesigen Raum hinein. Ihre Mutter saß auf einem der Polstersessel und starrte ins Leere. Sie sah genauso aus, wie sich ihre Tochter fühlte – furchtbar. Ihre Augen waren rot, ihr Gesicht verheult, ihre Haut totenblass und ihre Haltung schlaff. Mary Whiteman sah aus wie ein Häufchen Elend. Es versetzte Jessica einen schmerzhaften Stich, ihre Mutter so zu sehen. Gegenüber, mit dem Rücken zu ihr, saß ihre Tante Evelyn auf der Chaiselounge und las ein Buch. Daneben saß Dimitri in einem weiteren Sessel, in der Hand ein Glas Wodka. Ihren Vater sah sie nicht und auch von Sergej war keine Spur. Ihr Herz krampfte sich zusammen, als sie sich in Bewegung setzte und eintrat. In dem Moment, als ihr Fuß über die hauchdünne Fuge trat, fühlte sie sich, als hätte sie gerade ihr eigenes Todesurteil unterzeichnet. Sie seufzte. Ihre Mutter bemerkte sie als Erste. Die Taubheit in ihrem Gesicht, wich dem Entsetzen. Mary kam im Laufschritt auf ihre Tochter zu und umarmte sie, ohne zu zögern. Jessica blieb steif stehen und sah, wie ihre Tante sich umdrehte. Ihr Blick war mitfühlend, was sie verblüffte. Evelyn konnte Mitgefühl für ihre ungezogene, minderwertige Nichte aufbringen?
In der nächsten halben Stunde ging es zum ersten Mal bei ihrer Mutter nur um sie. Sie fragte, wie es ihr ginge. Ob sie jetzt zurück nach London gehen wolle, und wenn würde sie es verstehen können. Jessy antwortet völlig monoton auf jede Frage. Jegliches Gefühl bei ihr war verschwunden. Doch nach 35 Minuten, die sich Mary Whiteman das erste Mal wirklich nur ihrer Tochter gewidmet hatte, begann sie: „Dein Vater ist momentan im Wintergarten. Er hat seit diesem Tag nicht mehr gesprochen. Auch nicht mit mir.“ Sie wusste genau, dass es ihrer Mutter nun bloß wieder darum ging, ihre Ehe zu retten. Offenbar vertrat sie die Ansicht, dass sie ihre Beziehung zu ihrem Gatten bessern würde, wenn ihre Tochter und er sich nur vertragen würden. Es ging ihr mal wieder nur um sich selbst. „Willst du nicht vielleicht mit ihm reden, Schatz?“ Jessica beschloss, gar nicht auf diesen Vorschlag zu reagieren und starrte stur geradeaus. Für einige Augenblicke herrschte betretenes Schweigen im Salon. Dann ergriff Evelyn das Wort. „Wir feiern heute alle gemeinsam Heilig Abend, Jessica. Wir essen schön und dann…“ sie deutete auf den großen, reich geschmückten Weihnachtsbaum, der in der äußersten Ecke stand „ gibt’s Bescherung. Und Sergej…“ Aber sie unterbrach sich, als sie bemerkte, wie unpassend dieses Thema im Moment war. Nach einigen Sekunden fuhr sie fort: „Und morgen Abend geben wir einen großen Empfang. Wir werden das Weihnachtsfest mit Angehörigen und Freunden feiern. Ich hoffe, du wirst dieses Mal daran teilnehmen?“ Zuerst reagierte Jessica gar nicht, doch schließlich nickte sie leicht vor sich hin. Mit Angehörigen und Freunden, das klang als würde es um eine Beerdigung gehen.
Kurz darauf verabschiedete sie sich wieder und verzog sich bis zum Abend auf ihr Zimmer. Nur noch ein paar Tage, dann hatte sie das hinter sich. Und immerhin hatte sie schon allen anderen Empfängen, Partys und Feten entgehen können. Als ihre Wanduhr 18 Uhr anzeigte, blickte sie noch einmal in den Spiegel, straffte ihre Schultern und ging runter. Sie hatte sich für eine dunkle Hose und für eine blaue Bluse entschieden, ihre Haare trug sie, wie gewohnt, offen.
Die Stimmung beim Essen war bedrückt und Jessy hatte das Gefühl, dass ihr ein unsichtbares Band den Hals zuschnürte. Sergej saß ihr wieder gegenüber, starrte allerdings stur auf seinen Teller, genau wie alle anderen, außer Benjamin Whiteman, dessen Augen immer wieder zu seiner Tochter huschten. Jessica fühlte eine unglaublich schwere Last auf sich und hatte das Gefühl, dass sie, wenn sie hoch schaute, ins Gesicht des Teufels sehen würde. Sie gab sich größte Mühe, sich ruhig zu verhalten. Innerlich schrie sie. Auch achtete sie darauf, sich so wenig wie möglich zu bewegen, innerlich zitterte sie vor Nervosität, Wut und Aufregung. Ein unglaublich dicker Kloß bildete sich in ihrem Hals. Als die Familie endlich fertig war und die Dessertschüsseln abgeräumt wurden (Jessica hatte ihren Nachtisch nicht angerührt) war Sergej der erste, der wie ein Kleinkind vom Tisch aufsprang und zum Weihnachtsbaum rannte, worunter sich ein paar verpackte Geschenke befanden. Nach und nach erhoben sich auch die restlichen Angehörigen. Jessy besah sich den Baum und musste feststellen, dass es mehr Schein als Sein war. Eigentlich war es der prunkvollste, größte und zugleich hässlichste Weihnachtsbaum, den sie je in ihrem bisherigen Leben gesehen hatte. Der Schmuck war glitzernd weiß. Kugeln, Girlanden, Lametta, Anhänger… Vor lauter Schmuck sah man kaum noch das Grün des Baumes. Wenn diese arme Pflanze noch atmete, dann sicher nicht durch die Nadeln, denn man sah sie nicht. Jessica kam das Bild einer Fliege im Spinnennetz in den Kopf. Eingewickelt in klebrigem, weißen Zeug, zum Tode verurteilt. Wie benommen ließ sie sich auf der Chaiselounge nieder, während alle anderen zu den Geschenken gingen. Das Wolfsrudel stürzte sich auf die am Boden liegende Beute, und dabei hatten sie doch schon gegessen. Plötzlich bemerkte sie aus dem Augenwinkel, dass sich jemand neben sie setzte und blickte auf. Ihr Vater! Er bedachte sie mit einem kurzen, kühlen Blick und beobachtete dann die Wölfe, wie zuvor seine Tochter. Jessica schluckte, ihr wurde mulmig. Sie ertrug es nicht. Sie ertrug seine Anwesenheit einfach nicht. In Gedanken war sie schon zehnmal aufgesprungen und in ihr Zimmer geflüchtet. Aber sie riss sich zusammen und fuhr sich demonstrativ und mit arrogant hoch gezogenen Augenbrauen durch die langen Haare. Nach einer Weile schaute sich ihre Mutter nach ihr um, doch als ihr Blick ihren Mann traf, nickte sie nur dumpf und unterhielt sich weiter mit Evelyn. Sergej freute sich gerade über ein paar neue Schlittschuhe, als Benjamin Whiteman sich plötzlich räusperte und Jessica einen leichten Stoß ins Bein spürte. Sie erschrak und sog scharf die Luft ein. Doch dann blickte sie auf die Sitzfläche und sah dort ihren Zauberstab neben sich liegen. Ihr Vater nahm gerade die Hand von ihm weg und Jessy tastete sich mit den Fingern vor, bis sie ihn erreichte und blitzschnell zu sich zog, als würde sie befürchten, er könne ihn ihr erneut abnehmen. Der weißhaarige Anwalt blickte stur geradeaus, als er leise sprach: „Frohe Weihnachten.“ Dieses Mal klang es etwas wärmer, jedenfalls eher nach Raumtemperatur. Sie schluckte wieder. Der Kloß in ihrem Hals wurde ein wenig kleiner. Sie antwortete nicht, nickte bloß und hielt ihren baiken Zauberstab für den Rest des Abends in beiden Händen fest. Fest. Er war aus Edelkastanie, der Kern war Drachenherzfaser, 12 Zoll. Unnachgiebig. Unnachgiebig. Unbeugsam. Nicht zu verändern. Nur sehr, sehr, sehr schwer zu brechen. Nachdenklich fuhr sie mit dem Daumennagel über die Bissspuren, die sich seit ihrem fünften Jahr auf Hogwarts im Griff befanden. Und noch immer hatte sie keine Ahnung, was solche Kerben hervorrufen konnte. Ihr Zauberstab hatte einen Riss, wie ihre Unterlippe. Er war gezeichnet, und doch hatte er nicht nachgegeben. Vielleicht war das der Grund, warum Jessy mit einem Kastanienbaum das Wort Hoffnung verbannt.
Am nächsten Tag war Weihnachten. Schon morgens klopfte es an der Tür. Jessica, die gedankenverloren am Fenster stand, zögerte kurz, bevor öffnete.
Zunächst sah sie nur ein großes, silbernes Packet, das vor ihr in der Luft schwebte. Sie öffnete schon den Mund, da schwebte das Packet an ihr vorbei zu ihrem Bett auf dem es sich langsam niederließ. Unverschämtheit!, dachte sie und wollte die Tür gerade wieder schließen, als sie Tippsy bemerkte. Der kleine Hauself stand mit hängenden Schultern und gesengtem Blick dort und murmelte: „Tippsy wünscht Ihnen einen wunderschönen Guten Morgen, Miss Whiteman.“ Einen wunderschönen Morgen! Pah! Doch sie blieb ruhig und erwiderte: Danke, dir ebenfalls Tippsy. Was…ist das da auf meinem Bett?“ Als wäre das eine Kritik gewesen, zuckte der arme Elf zusammen und begann leicht zu zittern. Jessicas Magen krampfte sich zusammen. „Ein Geschenk von Madame Romanov für ihre Nichte Miss Whiteman. Gnädige Madame sagt, Miss Whiteman solle es heute Abend auf dem Empfang tragen. Und der große Sir Benjamin Whiteman meint das auch.“ Es? Tragen? Verwundert blickte Jessy zu der Schachtel auf ihrem Bett und dann wieder zu Tippsy, der offenbar schon auf heißen Kohlen stand. „Gut, Tippsy.“, sagte sie sanft. „Vielen Dank.“ Mit einer unterwürfigen Verbeugung verschwand der Hauself und sie schloss die Tür. Mit einem Schlenker ihres Zauberstabes öffnete sie das Packet und der Deckel flog ans Kopfende des Bettes. Unmittelbar danach flog ein Brief nach oben und direkt auf sie zu, bis er sich vor ihrer Nase zu einem Gesicht formte.
„Liebe Jessica Pauline“, begann er mit der Stimme ihrer Tante und sie verdrehte die Augen. Das hatte ihr Vater ihr eingeimpft. „Hier ist mein Weihnachtsgeschenk an dich. Ich hoffe, es trifft deinen Geschmack. Heute Abend solltest du aussehen, wie eine Frau, die zu dieser Familie gehört. Frohe Weihnachten. Evelyn.“ Das Gesicht verschwand und der Brief fiel vor ihr auf den weißen Teppich. Im selben Augenblick erhob sich ein glitzernder Stoff aus der Schachtel und kam ebenfalls ein Stück auf Jessy zugeschwebt. Ihr klappte die Kinnlade herunter und ihre noch immer nicht ganz verheilte Schramme an der Unterlippe brannte unangenehm. Vor ihr schwebte ein baikes, bodenlanges Kleid. Mit erhobenem Zauberstab ging sie darauf zu und schloss die Augen. Als sie sie nach einem kurzen Moment wieder öffnete, lagen ihre Hose und ihr Pullover ordentlich gefaltet auf dem Bett neben der leeren Schachtel. Sie blickte an sich herunter. Das Kleid passte ihr ganz genau. Es lag eng an, hatte einen leicht fallenden Rock und breite Träger. Als sie sich im Spiegel betrachtete, drehte sie sich hin und her. Um die Hüften war ein schwarzes Band gebunden, was es nicht so eintönig erscheinen ließ. Die Farbe schien sich ihrer Haut anpassen zu wollen, doch im Gegensatz dazu war ihre Haut weiß und das Kleid war leicht Karamell-Baike. In den dünnen Stoff waren außerdem silbrig schimmernde Leinen eingearbeitet, die es glitzern ließen. Jessica ertappte sich bei einem Lächeln. Das sollte sie also heute Abend tragen. Sie sollte aussehen „wie eine Frau, die zu dieser Familie gehörte“. Im Klartext also: Wie eine arrogante, schnöselige Zicke. Doch das Kleid sah nicht aus, wie das einer Zicke. Sie wirkte darin elegant und leicht. Im Grunde passte es zu ihr. In gewissem Maße würde sie sich beugen, wenn sie es wirklich anzog, aber wenn es ihr doch gefiel. Jessica brauchte bis zum Abend, um zu überlegen. Evelyn hatte sie beim Mittagessen gebeten, pünktlich um 20 Uhr in den Salon zu kommen. Wie lange die ganze Veranstaltung dauern würde, konnte man ihr paradoxerweise nicht sagen. Welch unerwartete Überraschung!
Es war fünf vor acht, als Jessica nervös und an ihrem Fingernagel knabbernd in ihrem Zimmer auf und ab tigerte. Immer wieder blickte sie auf das Kleid, das auf ihrem Bett bereitlag und fuhr sich mit der anderen Hand durch die Haare.
Um 20:12 stand sie vor ihrem Spiegel, zupfte an dem Kleid herum und überschminkte die von ihrem Vater hinzugefügte Wunde mit rotem Lippenstift. Mehr brauchte es nicht. Sie warf sich ihre schwarzen Locken nach hinten auf den Rücken und machte sich auf den Weg nach unten.
Von ihren unbequemen, schwarzen Pumps sah man dank des langen Rockes lediglich die Fußspitzen. Als sie in den Salon trat fragte sie sich noch: Ob der Ausschnitt wohl zu tief blicken lässt? Doch sie wurde kurz darauf erschlagen. Erschlagen von dem Ausmaß. Erschlagen von der riesigen Menschenmenge. Gut, hier passte nun wirklich eine ganze Armee rein, aber das! So viele Leute gab es höchstens im Ministerium. Die Möbel waren an die Seiten gerückt worden und der Esstisch war vor den Fenstern zu einem der Alkohol brannte kurz in ihrer Kehle, bevor sich eine angenehme Wärme in ihrem gigantischen Buffet umfunktioniert worden. Baike Tischdecken. Sie würde, wenn sie Glück hatte kaum auffallen. Jessica setzte ihr leichtes, freundliches Lächeln auf und griff sich ein Glas Sekt, dass gerade zusammen mit drei Gläsern Feuerwhiskey und einem Glas Wodka an ihr vorbeischwebte. Sie probierte einen kleinen Schluck und war froh, dass ihr Lippenstift erst dann verschmieren würde, wenn er mit purem Wasser in Berührung kam. Ihre Zunge prickelte leicht und Hals- und Brustbereich ausbreitete. In diesem Moment kam ihr Vater aus der Menge auf sie zu. Er trug einen schwarzen Frack, darunter ein weißes Hemd und eine weiße Krawatte. Bevor Jessy überhaupt nur das Wort Pinguin denken konnte, fing er schon an: „Jessica.“ Es klang ermahnend, wie eh und je. „Hättest du nicht wenigstens deine Zotteln hochstecken können?“ Zotteln?! „Kannst du mich nicht wenigstens an Weihnachten einfach einmal so nehmen, wie ich bin, Papa?“ stellte sie die Gegenfrage.
Sein Unterkiefer verkrampfte sich, aber er schwieg. Seine Tochter nutzte die Gelegenheit, um sich aus dem Staub zu machen und bahnte sich einen Weg durch die vielen unbekannten Menschen zum Wintergarten, den man über eine Treppe von vier Stufen erreichen konnte. Als sie sah, dass es auch hier überwiegend voll war und einige sie fragend musterten, öffnete sie kurzerhand die Glastür und trat hinaus in den verschneiten Garten. Sofort wurde sie von der klirrenden Kälte begrüßt, die sie in Windeseile umschloss. Auch der dünne Stoff konnte ihrem Körper keine Wärme schenken, aber es war ihr egal. Jessy schlang die Arme um sich und tat ihr bestes, um nicht zu zittern. Sie unterdrückte ein Zähneklappern, als sie den betonierten, vom Schnee befreiten Weg entlang schritt, genau auf den großen Springbrunnen zu, der natürlich trocken gelegt war.
Suchend blickte sie sich um. Hier war niemand außer ihr. Um sie herum nur weiß bis zu der Mauer, die das gesamte Anwesen um- und sie einschloss. Sie bückte sich kurzerhand und raffte ihren Rock ein Stück nach oben. An ihrem Bein, unter dem schwarzen Strumpfband steckte ihr Zauberstab. Regel Nummer eins für eine gute Aurorin: Immer den Zauberstab dabei haben, egal wo. Sie zog ihn unter dem Strumpfband hervor, hob ihn in die Luft und dachte bloß: „Accio Umhang.“ Im nächsten Moment spürte sie den dunkelblauen Samt an ihrem Körper. Mit einem Schwinger befreite sie ein Stück der Brunnenmauer vom Schnee und setzte sich hin. Nachdenklich drehte sie ihren Zauberstab in den Händen und beobachtete ihren Atem, der in der kalten Luft kleine Wölkchen bildete. In diesem Moment öffnete sich die Tür zum Garten und das allgemeine Volksgemurmel drang in ihre Ohren. Sie brauchte einen Moment um zu erkennen, dass es Sergej war, der auf sie zukam. Er trug wie ihr Vater einen schwarzen Frack und ebenfalls weiß darunter. Jessy kam es vor, als würde die jüngere Version von Benjamin Whiteman durch den Garten laufen. „Ijessica!“, begrüßte sie ihr Cousin und grinste übertrieben. Sie lächelte gezwungen und entdeckte hinter dem Wintergartenfenster ihren Vater, der sie beobachtete. Sie musste sich in diesem Moment sehr beherrschen, damit ihr die Gesichtszüge nicht entgleisten. „Hast do schon was zu trinke?“, fragte der blonde Junge in diesem Moment und grinste nur noch breiter. Jessy überlegte, was sie sagen sollte. Sie wollte ihn loswerden, aber er wenn er jetzt rein ginge, um ihr was zu trinken zu holen, würde er wiederkommen. Allerdings könnte sie seine Abwesenheit nutzen, um zu verschwinden. Doch bevor sie überhaupt zu Ende überlegen konnte, meinte er: „Ich holle dir eine Wodka. Ist sehrr gutt.“ Damit drehte er sich um und ging zurück zum Wintergarten. Jessy sah wie sich nun auch ihr Vater vom Fenster entfernte und atmete auf. Wodka? Sie hatte das Zeug noch nie getrunken und legte Wert darauf, dass sich daran auch nichts änderte. Und nun? Sie blickte sich um. Wohin jetzt?
In diesem Moment hörte sie ein kurzes Zischen und über der Mauer erschien ein grüner Blitz, der sofort verglimmte. Jessica sprang auf und richtete ihren Zauberstab nach vorne. Ihr hatte der Satz „Wer ist da?“ auf der Zunge gelegen, sie hatte ihn aber sofort heruntergeschluckt. Das war genauso dämlich, als wenn ein kleines Mädchen in das Haus eines Psychopathen geht und fragt „Ist hier jemand?“. Da kamen auf einmal zwei Hände zum Vorschein, die sich an die Kante der Mauer klammerten, dahinter wenig später ein Kopf. Es war zu dunkel, als das sie etwas Konkretes hätte erkennen können. Eine schlanke Gestalt zog sich an der Mauer hoch, hockte sich vorsichtig darauf und sprang ab. Ohne ein Geräusch landete der, wie sie jetzt erkannte, Mann in der Hocke im Schnee, richtete sich langsam auf und klopfte sich über seinen Anzug. Als er den Kopf hob sah er sie und hielt augenblicklich inne. Jessica ging ein paar Schritte auf ihn zu und machte sich kurzerhand Licht. Lumos. Ihr Gegenüber hielt sich eine Hand vors Gesicht und blinzelte. Sie kam noch näher und fragte ihn eindringlich: „Wer sind Sie? Was machen Sie hier?“ Gleich darauf verfluchte sie sich, dass sie nicht wenigstens ein bisschen Russisch gelernt hatte. „Empfangen Sie jeden Ihrer Besucher so unfreundlich?“, fragte der Fremde mit unterkühltem Ton und kam ebenfalls etwas näher. „Ich denke nicht, dass Sie auf der Gästeliste stehen“, gab sie patzig zurück. Er hielt sich noch immer die Hand vors Gesicht, doch Jessica konnte erkennen, dass er dunkle Haare hatte und einen dunkelblauen Anzug trug. „Hätten Sie wenigstens die Freundlichkeit, mir nicht weiterhin die Sicht zu rauben?“, fragte er in diesem Moment und Jessica senkte ihren Zauberstab ein Stück. Er nahm die Hand vom Gesicht, sodass sie ihn endlich komplett sehen konnte. Und sie erstarrte. Es war der Kerl, der ihr vor ein paar Wochen unter der Alexandersäule begegnet war. Der unverschämte Typ mit den vielen Büchern, der sie gefragt hatte, ob sie sich selbst für wertlos hielt. „Sie?“, fragte Jessy ungläubig. Und ihr Gegenüber lächelte kalt. „Dasselbe ging mir gerade auch durch den Kopf.“ Sein Ton war ernst und tief und ruhig. Genau wie vor ein paar Wochen. „Also“, begann sie. „Was machen Sie hier? Sie sind sicherlich nicht eingeladen, wenn Sie sich über die Gartenmauer Zutritt verschaffen müssen.“ Sie funkelte ihn warnend an. Er legte den Kopf schief und musterte sie einen Augenblick. Dann meinte er: „Sie tragen ein nettes Kleid.“ Jessica konnte nicht verhindern, dass sie unsicher an sich herunter sah, bevor sie ihn wieder fokussierte. „Es passt zu Ihnen“, setzte er nach. Sie verkrampfte sich ungewollt und drückte ihren Zauberstab fest in ihrer Hand. „Tut es nicht.“, erwiderte sie trotzig und fügte hinzu: „Sie lenken vom Thema ab, ein klarer Beweis dafür, dass ich mit meiner Vermutung richtig liege.“ Er lächelte wieder. Er sah selbstgefällig aus. Selbstgefällig und dermaßen arrogant, dass es sie wütend machte. Sie hasste solche Leute, von denen war sie ihr gesamtes Leben lang schon umgeben, in ihrer eigenen Familie. Der Mann trat aus dem Schnee heraus, zu ihr auf den Weg, die Hände völlig entspannt in beiden Hosentaschen. Reflexartig erhob sie ihren Zauberstab wieder ein Stück, dämmerte aber das Licht. Er lachte leise über ihre Reaktion. Und das ärgerte sie. „Nehmen wir doch an, ich wäre nicht eingeladen, aber trotzdem gern gesehen“, zischte er. Jessica schnaubte. „Nun ich nehme aber an, dass Sie, da Sie ja bekanntlich keine Manieren haben, nirgendwo gern gesehen sind und aus diesem Grund versuchen, sich in die nächst beste Gesellschaft einzuschleichen.“ Der dunkelhaarige Mann zog skeptisch eine Augenbraue in die Höhe, sein Lächeln war verschwunden. „Du bist vorlaut“, knurrte er drohend. „Und du bist nicht eingeladen!“, konterte sie. Dass er sie geduzt hatte, war schon wieder ein Beweis für seine Unhöflichkeit, also beschloss sie, es ihm auf seinem Niveau zu sagen. „Also verzieh’ dich!“ Und sie richtete ihren Zauberstab auf ihn. Er schaute sie verdutzt an. „Aber, aber…Jessy.“ Sie sog scharf die Luft ein. „Woher kennst du meinen Namen?“, wollte sie wissen. Nun lächelte er wieder. „Ich habe mich bloß erinnert.“ Jedes Wort kam so sanft von seinen Lippen, dass sie eine Gänsehaut bekam. Völlig verwirrt blickte sie zur Seite und wieder zu ihm. Sie zog die Augenbrauen zusammen und drehte leicht ihren Kopf zur Seite. „Aber du erinnerst dich nicht mehr“, stellte er fest und strich ihr plötzlich mit dem linken Handrücken über die Wange. Zuerst wollte sie seine Hand weg schlagen, doch dann überlegte sie. Kannte sie diese Geste nicht? Er hatte sie Jessy genannt. Das tat nur eine einzige Person auf der ganzen Welt. Ganz vorsichtig fragte sie: „Tom?“ So leise, dass sie es selbst kaum hörte. Ihr Gegenüber zog viel sagend die Augenbrauen hoch und lächelte. Es war, als würde der Blitz in sie fahren! Er war der Letzte, den sie hier vermutet hätte. Warum hatte sie ihn nur nicht erkannt? Seine Gesichtszüge waren ganz anders, als vor drei Jahren. So viel Zeit war doch gar nicht vergangen. Er musste jetzt 20 sein, und doch sah er viel älter aus. Sie hätte ihn sicherlich auf Mitte 30 geschätzt. Aber natürlich: diese dunklen Augen hätte sie doch erkennen müssen! Allerdings hatte er keine Locken mehr. Seine Haare waren etwas länger und nach hinten gekämmt. Er war kein Junge mehr. Vor ihr stand ein Mann. Sie dachte nicht nach und fiel ihm um den Hals. Sie klammerte sich regelrecht an seine Schultern und spürte, dass er die Umarmung erwiderte. Ihr Atem stockte und sie konnte es nicht fassen. Er war hier. Ihr bester Freund, Tom Riddle hatte sie wieder gefunden. Ausgerechnet hier in St. Petersburg. Gab es solche Zufälle überhaupt? Sie schloss die Augen und wusste einen Moment lang nicht, ob sie lachen oder weinen wollte. Doch dann besann sie sich plötzlich. Er hatte sie verlassen. Er war einfach verschwunden, hatte sie drei Jahre lang alleine und über seinen Verbleib im Dunkeln gelassen. Sie ließ ihn los und stieß ihn so heftig zurück, dass er ins Straucheln geriet und auf dem Rücken im Schnee landete. Ohne zu zögern, stürzte sie sich auf ihn und fing an mit Fäusten auf seine Schultern und seine Brust einzuhämmern. „Du elender, blöder Esel!“, schrie sie wütend. „Du bist einfach abgehauen, ohne ein Wort! Du egoistischer, scheinheiliger Mistkerl! Wie konntest du nur, WIE KONNTEST DU NUR?!!“ Er ließ sie nur für einen kurzen Moment gewähren, bevor er ihre Hände zu fassen bekam und sie festhielt. „Es tut mir Leid.“, brachte er hervor. „Ach so! Es tut dir Leid! Oh, ES TUT IHM LEID! Ist das alles?!“, rief sie und pustete sich eine Locke aus dem Gesicht. „Lass mich bitte aufstehen“, sagte er, wartete aber nicht auf ihre Antwort, sondern packte sie kurzerhand an der Taille und hob sie hoch. Er rappelte sich auf, ließ sie los und klopfte sich den Schnee vom Anzug. Jessy ging kurz entschlossen in die Knie, schnappte sich eine Hand voll Schnee und warf ihn ihm ins Gesicht. Er schloss die Augen, seufzte genervt auf und wischte sich den Schnee mit einer Hand weg. „Jessy…“ Doch sie unterbrach ihn: „Was, Tom? Was?! Immerhin weißt du meinen Namen noch. Ich gratuliere! Und ich hoffe, du hattest ein tolles Leben, die letzten drei Jahre!“ Die Wut kochte in ihr, doch sie versuchte herunter zu fahren. Dann sagte sie etwas ruhiger: „Und jetzt verschwinde. Das kannst du doch so gut!“
Mit diesen Worten wandte sie sich ab und wollte zurück zum Wintergarten gehen. Doch er nahm sie am Arm und zog sie mit sanfter Gewalt zu sich. Sie sah bewusst an ihm vorbei und verschränkte abwehrend die Arme vor der Brust. „Ich weiß, dass ich dich verletzt habe. Aber ich musste weg. Du…du hattest deine Ausbildung und ich wusste, dass du immer deine Freizeit geopfert hast, um mich zu besuchen…“. Er brach ab und sah sie entschuldigend an. Ohne ihn eines Blickes zu würdigen sagte sie: „Damit willst du wohl behaupten, dass du’s mir zuliebe getan hast!“ Zuerst holte er Luft, doch dann sagte er ganz ruhig: „Ja.“ Überrascht sah sie ihn an. Ja?
„Und das konntest du mir nicht wenigstens in einer kurzen Nachricht erklären? Du musstest einfach so verschwinden, als hätte es dich niemals gegeben?“, fragte sie und spürte, wie ihr die Tränen kamen. Sie schluckte hart. Sein Ausdruck wurde bedauernd und er streichelte sanft ihren Oberarm. Sie ließ es ohne Widerstand geschehen, obwohl es sie auf diese Weise noch mehr schmerzte. „Ich wusste, es würde leichter sein, wenn du sauer auf mich wärst. Anders hättest du mich nie gehen lassen. Eher hättest du deine Ausbildung abgebrochen“, meinte er wissend. Jessica wollte protestieren, doch sie schloss ihren Mund wieder, als sie darüber nachdachte. Er hatte Recht. Das wäre typisch für sie gewesen. „Aber glaub mir, wenn ich sage, dass du mir jeden einzelnen Tag, jede einzelne Stunde und jeden einzelnen Moment gefehlt hast.“ Und etwas schwermütig fügte er noch hinzu: „Das musst du mir glauben, Jessy.“ Sie wusste nicht, was sie glauben sollte. In diesem Moment kam Sergej in den Garten. Er trug zwei Wodkagläser in den Händen und blieb abrupt stehen, als er Tom erblickte. Verwirrt sah er zwischen den beiden hin und her. Doch anstatt etwas zu sagen, verschwand er komischerweise ohne ein Wort. Jessica sah ihm verwundert hinterher und dann wieder zu Tom, der ihrem Cousin merkwürdig intensiv hinterher starrte. Dann blickte er ihr wieder in die Augen. Seine dunklen Augen. Immer noch durchdringend und hypnotisierend. Ihr wurde fast schwindelig. In seinem Gesicht stand nichts mehr. Kein Ausdruck zu erkennen. „Verzeih mir.“ Das klang mehr nach einem Befehl, als nach einer Bitte. Er nahm sie in die Arme, doch sie blieb steif. „Du hast mir mal versprochen, mich nie wieder im Stich zu lassen, weißt du noch?“, fragte sie über seine Schulter. „Im Turm der Vertrauensschüler, damals, in Hogwarts?“ Er ließ sie los und sah sie ernst an. „Ich weiß.“ Mehr sagte er nicht. Jessy gab sich Mühe, ihre Enttäuschung nicht zu zeigen. Doch dann lächelte sie. „Du bist dumm, Tom Vorlost Riddle“, sagte sie. Ihr Gesicht verfinsterte sich aber sofort wieder als sie hinzufügte: „Und du bist nicht eingeladen in meinem Haus.“ Mit diesen Worten wollte sie ihn erneut stehen lassen, doch er kam ihr hinterher. „Das ist nicht dein Haus“, stellte er sachlich fest. „Aber das meiner Familie, also im übertragenen Sinne….“, gab sie gleichgültig zurück. Doch plötzlich blieb sie stehen und zog ihren Rock wieder hoch. Sie musste ihren Zauberstab wieder verstecken. Als sie sich bückte, bemerkte sie, dass Tom sich neben ihr verspannte. Er sog hörbar die Luft ein und aus dem Augenwinkel sah, sie, wie er den Kopf wegdrehte. War ihm übel? Sie wollte schon fragen, ob alles in Ordnung sei, doch dann erinnerte sie sich, dass sie ja wütend auf ihn war. Also tat sie, als hätte sie es gar nicht bemerkt. Nachdem sie den Zauberstab wieder unter ihr Strumpfband geschoben hatte, richtete sie sich auf und ließ ihren Rock wieder fallen. Dann ging sie weiter zur Tür. Er folgte ihr ohne ein weiteres Wort. Als sie eintrat, drehte sie sich zu ihm um und versperrte ihm den Weg. Sie stand nun eine Stufe über ihm und war somit etwas größer als er. Er zog kurz die Augenbrauen zusammen, fing sich aber schnell wieder und bekam sein Gesicht unter Kontrolle. Immer unter Kontrolle. „Kein Zutritt für unerwünschten Besuch“, zischte sie arrogant und wollte die Tür schließen. Doch er hielt mit einer Hand dagegen und stellte seinen Fuß dazwischen. Empört funkelte sie ihn an, doch er zeigte sich sichtlich unbeeindruckt. Ihre Wut loderte erneut auf. „Du bist nicht nur unhöflich, du bist auch noch unverschämt!“ Noch einmal stieß sie gegen die Tür, die sich natürlich nicht schloss und ergriff dann die Flucht, durch die Menschenmenge.
Sie war durch den Salon gehuscht, die Treppe hinauf gerannt und war bereits im zweiten Stock, als sie sich umblickte. Auf der Treppe war niemand. Ohne lange zu überlegen, lief sie zum Ende des Flurs und öffnete sie letzte Tür. Es war so dunkel, dass sie nichts sehen konnte. Sie schloss die Tür ganz sacht und begann, sich vorzutasten. Im nächsten Moment lief sie gegen einen Stuhl. „Au, Mist!“, zischte sie und ihre Hände fanden eine Tischplatte. Sie tastete darüber und fand einen Lichtschalter. Eine grüne Schreibtischlampe ging an und sie konnte erkennen, wo sie war. In der Bibliothek. Im Grunde war das Ding eine ganze Bücherei. Auch hier gab es zwei Etagen und allein hier unten reichten die unzähligen Bücherregale mit ihren Leitern bestimmt drei Meter hoch. Jessy atmete auf, doch da öffnete sich die Tür hinter ihr und ein gewisser Zauberer trat ein. Dummerweise sah er sie auch sofort und kam forschen Schrittes auf sie zu. Überrascht von seiner Entschlossenheit wich sie zurück, bis sie ein Regal in ihrem Rücken spürte. Ende. Es ging nicht weiter. Sie stand mit dem Rücken zur Wand, oder eher zum Bücherregal. Verdammt! Er kam ihr etwas näher, als ihr lieb war und sie wurde unweigerlich an die Szene in der Quidditschumkleide erinnert. Da hatte er sie geküsst. Was würde er heute tun? Dasselbe noch einmal? Sie hoffte inständig, dass es nicht so kommen würde. „Weglaufen bringt nichts, Jessy. Das solltest du doch wissen.“ In seinem Gesicht waren immer noch keine Emotionen. Sie lachte humorlos auf. „Pah! Das sagt der Richtige!“ Er zog wieder die Augenbrauen hoch. „Willst du für immer wütend auf mich sein?“ – „Hast du’s schon vor ein paar Wochen gewusst?“, fragte sie. „Was?“ Er schien wirklich nicht zu wissen, was sie meinte. „Dass ich’s bin. Hast du schon unter der Alexandersäule gewusst, dass ich es bin?“ Aus irgendeinem Grund hoffte sie, er möge es verneinen. Er seufzte tief bevor er antwortete: „Du meinst, als du meine Bücher in den Schnee geworfen hast? Ich…ja. Dieses Parfum würde ich noch immer unter tausenden erkennen…“ – „Danke, danke!“, meinte sie spitz. „Das genügt mir.“ Sie wollte an ihm vorbei, doch er packte sie an den Schultern und drückte sie gegen das Regal. „Du willst ja schon wieder weglaufen. Lass das!“, sagte er eindringlich. „Das ist mein Haus“, gab sie ungerührt zurück. „Ich gehe hin, wo ich will und vor allem, wann ich es will.“ Gerade wollte sie sich wieder befreien, als er sie noch fester packte. Es tat weh und sie verzog das Gesicht. Es fühlte sich an, wie der eiserne Griff ihres Vaters, aber anders. „Lass mich sofort los!“, fauchte sie. „Du bist wie ein scheues Reh“, sagte er sachlich und ließ seine Augen über ihr Gesicht wandern. „Ein Reh tötet man“, zischte sie und drehte ihre Schultern nach hinten, was nichts nutzte. Er schaute sie fragend an. „Was soll das bedeuten?“ Sie hob das Kinn und flüsterte: „Das bedeutet, du musst mich schon töten, wenn ich mich nicht mehr bewegen soll!“ Jessica hatte erwartet, dass er erst einmal eine Weile brauchen würde, um zu antworten doch seine Worte kamen, wie aus der Pistole geschossen. „Falsch! Ich muss bloß deinen Widerstand auslöschen.“ Bei diesen Worten erschauderte sie und zuckte kurz ungewollt zusammen. Er lächelte deswegen. Dann setzte sie wieder ihren arroganten Gesichtsausdruck auf und sagte: „Na dann viel Glück“. „Danke“, hauchte er und im nächsten Moment spürte sie seine kühlen Lippen an ihrem Hals. Sie erschrak sich darüber so sehr, dass ihr Kopf nach hinten gegen das Regal kippte. Oh Merlin,…oh Merlin! Im ersten Augenblick wusste sie gar nicht, wie ihr geschah. Ihr wurde anders. Komplett anders. Seine Lippen wanderten ihren Hals auf und ab und das mit einer Seelenruhe, dass ihr ein Schauer nach dem anderen den Rücken hinab jagte. Sie konnte sich nicht wehren, sie war vollkommen erstarrt. Vollkommen unfähig, etwas zu tun. Es hallte wieder durch ihren Kopf: Zu müde um wegzulaufen! Das Todesurteil. Die Schlange schlägt zu! Beißt ihrem Opfer die Hauptschlagader durch, das nur noch kurz zuckt und dann….vorbei. Verloren. Aus. Sie unterdrückte ein Stöhnen und presste sich eine Hand vor den Mund, während sich die andere in das Holz des Regals krallte. Er presste sich an sie, schien ihr noch näher kommen zu wollen, als er schon war. Das hätte er vor drei Jahren nie getan. Oder? Entsetzt stellte sie fest, dass er selbst für sie unberechenbar war. Jetzt spürte sie auch seine Zunge, die über ihre Haut glitt. Ihr wurde abwechselnd heiß und kalt und vor ihren Augen flimmerte es. Da ließ er plötzlich von ihr ab, bewegte sich aber kein Stück von ihr weg. Sie erinnerte sich wieder daran, wie man atmete und sie nahm schnell die Hand von ihrem Mund. „Tot“, sagte er tonlos. Jessica konnte nichts sagen. Es war ein Wunder, dass sie es gerade noch schaffte, den Kopf zu schütteln, bevor sie erneut ganz leicht erschauderte. „Ach nein?“, fragte er amüsiert und zog spöttisch eine Augenbraue hoch. Doch dann wurde er sofort wieder ernst und sein Gesicht war wieder eine emotionslose, kontrollierte Maske. „Dann sag mir, dass ich aufhören soll“, hauchte er und sein Gesicht näherte sich ihrem. Seine Lippen strichen über ihre, ganz sacht und zärtlich. Nur widerwillig drehte sie den Kopf zur Seite und schloss die Augen. Ihr Herz raste, ihre Schläfen pochten und sie versuchte verzweifelt, einen klaren Gedanken zu fassen. Aber es gelang ihr nicht. Die Maus verblutet langsam. Und die Schlange sieht geduldig zu, denn sie weiß, dass es bald zu Ende sein wird, und dass sie ihre Beute schon längst bekommen hat. Jessica wollte zur Seite an ihm vorbei gehen, doch sein Arm versperrte ihr den Weg, als er sich gegen das Regal lehnte. „Jessy…“ Er sah sie an, doch sie senkte den Blick auf den Boden. Wenn sie ihm jetzt in seine dunklen Augen sah, wäre es vorbei. Warum nur war sie so schwach? Tom strich ihr mit der freien Hand durch die Haare und ließ mehrere Locken durch Zeige- und Mittelfinger gleiten. „Sag mir, dass ich aufhören soll“, wiederholte er leise. Sie konnte nichts sagen. Es war, als hätte sie ihre Sprache vollkommen vergessen. Ihr Kopf war vollkommen leer gefegt. Da spürte sie plötzlich seinen Arm um ihre Hüfte und er zog sie zu sich heran. „Stoß mich zurück!“, verlangte er mit bebender Stimme. Sie wollte. Nur zu gerne hätte sie ihn von sich gestoßen, sodass er wieder auf dem Boden gelandet wäre. Er hatte es verdient! Er mehr, als sonst wer. Sie hob ihren Blick und traf auf durchdringende Dunkelheit. „Stoß mich weg“, flüsterte er ein letztes Mal, dann küsste er sie. Ihr Atem setzte aus. Sein Kuss fühlte sich vertraut an und doch fremd. Seine Lippen waren kühl genau wie damals. Seine Arme schlangen sich um sie und sie spürte, wie er jeden einzelnen Muskel anspannte. Ihre Hände ruhten auf seiner Brust. Darunter fühlte sie seinen Herzschlag. Er ging ungleichmäßig. Das Blut rauschte ihr in den Ohren und sie hatte das Gefühl, zu fallen. Aber Tom hielt sie fest. Er hielt sie im Arm. Ein ihr sehr fremdes Gefühl machte sich in ihrem Körper breit. Es hieß Schutz, Geborgenheit. Und doch ließ er sie Bedenken spüren. Beide wussten, dass das nicht richtig war und dass es ganz sicher noch viel größere und vernichtendere Folgen haben würde. Für jeden von ihnen. Für Jessy und für Tom. Für ihre Familie. Für seine Pläne. Für ihren Beruf. Für sein Leben. Für ihr Leben. Ihre Hände wanderten seine Schultern hinauf, umschlangen seinen Nacken. Es war genau, wie damals. Sie sah und fühlte sich fallen. Eine unheimlich kraftvolle, betäubende und auch irgendwie dunkle Macht zerrte sie hinab und sie verlor sich. Das war einer dieser Momente, in denen man alles um sich herum vergaß. Und Jessica spürte, dass da mehr zwischen ihnen war, als nur Freundschaft. Sie wollte das nicht! Sie wollte sich nicht verlieben, schon gar nicht in ihren besten Freund, der einfach so nach drei Jahren wie aus dem Nichts wieder aufgetaucht war und nun versuchte, sie wie selbstverständlich zu verführen.
Es wäre besser gewesen, jetzt damit aufzuhören. Es wäre besser für alle gewesen, das jetzt abzubrechen. Sie wollte, und doch wollte sie nicht. Er hörte nicht auf. Es schien, als würde das ewig so weiter gehen. Seine Lippen auf ihren, die sich so langsam und bestimmt bewegten. Plötzlich hörte sie, wie er aufseufzte und einen Augenblick später zog er seinen Kopf nur so weit zurück, dass sich ihre Lippen nicht mehr berührten. Das kleine Bisschen Abstand zwischen ihnen schien sie in diesem Moment meilenweit voneinander zu trennen. Sein kalter Blick stach in ihre Augen und noch immer hielten sie sich in den Armen. Eine dunkle Strähne hatte sich aus seinen Haaren gelöst und fiel ihm nun ins Gesicht. Er atmete durch den Mund und schien selbst etwas überfordert mit der Situation zu sein. Keiner der beiden sagte ein Wort. Weder er, noch sie konnte sich dazu durchringen, diesen Moment fortzusetzen oder endgültig zu beenden. Er stützte seinen Kopf gegen ihre Stirn und beide schlossen ruhig die Augen, während sie mit den Fingern durch seine Haare strich. Eine gefühlte Ewigkeit standen sie so da, hörten und spürten den Atem des anderen, rochen den Duft des anderen und schwiegen. Überraschender Weise war sie die erste, die die angenehme Stille brach. „Was machst du ausgerechnet in St. Petersburg?“, flüsterte sie, die Augen noch immer geschlossen. Tom ließ einige Sekunden verstreichen, bevor er antwortete: „Geschäfte. Ich bin geschäftlich hier.“ Jegliche Kontrolle war aus seiner Stimme verschwunden und hatte Platz für Erschöpfung gemacht. Er klang, als wäre er gerade eine halbe Stunde am Stück gerannt. So fühlte sie sich. Ausgelaugt, merkwürdig ausgepowert. Als hätte man ihr die Lebenskraft ausgesaugt. Geschäfte. Diese Antwort reichte ihr vorerst. Sie öffnete die Augen und nahm ihren Kopf von seinem. „Du solltest gehen“, murmelte sie betroffen, hielt ihre Arme aber noch immer um seinen Nacken geschlungen. Auch er öffnete die Augen, sah aber zu Boden und strich mit seinen Händen über ihre Taille. „Ja, das sollte ich wohl“, sagte er sachlich und hob den Blick. In diesem Moment wurde ihr wieder schwindlig. Dieser Mann schaffte es tatsächlich mit nur einem Blick, sie völlig aus der Bahn zu werfen. „Aber ich will nicht“, hauchte er ihr entgegen. Jessy wurde klar, dass das so niemals ein Ende finden würde. Aber es musste. Es musste ein Ende geben. So legte sie ihre Hände gegen seine Schultern, drückte ihn sanft von sich weg und ging an ihm vorbei zum Schreibtisch, um den Abstand wieder herzustellen. Sie wandte ihm den Rücken zu und blickte ihn über die Schulter an. Nur sehr langsam drehte er sich zu ihr um. „Man tut vieles, was man eigentlich gar nicht will“, sprach sie. „Das weißt du doch.“ Jetzt lächelte sie. Verzeihend. Und er schien es zu verstehen, denn sein Mundwinkel zuckte für einen kurzen Moment verräterisch nach oben. Dann kam er auf sie zu, legte seine Hand in ihren Nacken und küsste sie so unerwartet und stürmisch, dass sie nicht einmal protestieren konnte. Seine Zunge tauchte zwischen ihre Lippen, fordernd und aggressiv. Es fühlte sich an, wie eine Strafe. Er wollte ihr den Geschmack einprägen, wollte, dass sie es ganz sicher nicht vergaß. Er streute noch einmal Salz in die Wunde, offenbar seine Art, sich zu verabschieden. Genauso plötzlich, wie er sie geküsst hatte, hörte er dieses Mal auch wieder auf. Er strich über ihren Nacken und sah sie wieder ohne jegliche Emotion an. „Ich werde dich wieder finden, Jessy. Das verspreche ich dir.“ Es klang wie eine Drohung aus seinem Mund und seine Augen durchschauten sie bis zum tiefsten Punkt. Seine Hand wanderte zu ihrer Wange, er strich noch einmal zärtlich mit dem Daumen darüber, dann wandte er sich ab und ging zur Tür. Sie spürte seine Berührung noch auf ihrer Haut brennen, als er sich an der bereits von ihm geöffneten Tür noch einmal nach ihr umdrehte und zögerte. „Nun hau endlich ab, Riddle!“, rief sie und bemühte sich, ihre Stimme überzeugend klingen zu lassen. Ein amüsiertes und zugleich warmes Lächeln umspielte seine Lippen, dann trat er aus der Bibliothek und die Tür schloss sich leise hinter ihm.
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Okay, erst mal Luft holen und das eben Gelesene auf sich wirken lassen. Ganz ruhig bleiben ^^ Wenn ihr glaubt, ihr habt euch wieder einigermaßen erholt, habt ihr ja vielleicht Lust auf das hier:
http://www.yusrablog.com/wp-content/uploads/2010/11/Rachel-Weisz-Hot-Dress-Picture-520x696.jpg - Jessy in ihrem Kleid!
http://www.perfectpeople.net/photo-picture-image-media/Ralph-Fiennes-325x360-14kb-media-1068-media-87807-1077942300.jpg - und der junge Tom Riddle, der bereits jetzt schon viel zu wütend ist.
Ich hoffe, es hat euch gefallen! :DD Und wenn ihr wieder Luft bekommt und eure Kräfte wieder mobilisiert habt, würde ich mich über KOMMIS freuen! ^^
Liebe Grüße,
Blue
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