von Blue
Harry erwachte wie aus einem Traum, als Jessica Whiteman aufhörte, zu erzählen. Als er sie wieder ansah bemerkte er, dass der Blick der alten Hexe komplett abwesend war. Ihre Augen waren ausdruckslos, ihre Haut schien noch bleicher als zuvor und sie schien diesen Teil ihrer Geschichte wie eine Maschine herunter erzählt zu haben. Als wäre ein Tonband abgelaufen. Vorsichtig musterte er sie. Konnte man sich in ihrem hohen Alter derart in Erinnerungen verlieren? „Es ist, als wäre es gestern gewesen, Mister Potter.“, sagte sie mit monotoner Stimme und sie schien noch immer geistig weit entfernt von dem Friedhof zu sein, auf dem sie standen. „Aber wenn ich jetzt davon berichte und alles wieder so nah erscheint… muss ich feststellen, dass es unerreichbar ist.“ Nun hob sie den Kopf und schaute beinahe sehnsüchtig zu der Statue über Voldemorts Grab hinauf. Sie reckte ihren Hals, Harry hörte sie tief Luft holen und es schien, als könne sie nicht nah genug bei seinem Todfeind sein. Als würde sie am Liebsten zu ihm in die Erde hinabsinken. Zu dem, was noch von Lord Voldemort übrig war. Zu seinen Knochen, zu seinem Staub. „So lange Zeit. So viele Jahre.“, seufzte Jessica Whiteman. Obwohl er sich größte Mühe gab, sich in ihre Lage hinein zu versetzen, es gelang Harry nicht, sich eine Liebe zwischen ihr und dem gefährlichsten, psychopathischsten und bösesten Zauberer aller Zeiten vorzustellen. Sie und dieses Monster. Diese Ausgeburt der Hölle sollte Liebe verspürt haben? Für Harry war das mehr als unvorstellbar. Er hatte irgendwie gehofft, es besser zu verstehen, wenn sie nur mehr erzählen würde. Doch dies geschah nicht. Im Gegenteil. Je mehr er erfuhr, desto weniger verstand er. Das Bild von Tom Riddle, das sich über Jahre hinweg derart in sein Gehirn eingebrannt hatte, geriet gefährlich ins wanken. Alles, was er getan hatte. Alles, was er mit ihm in Verbindung brachte war Hass, Wahnsinn, Bosheit, Grausamkeit, Brutalität, Kaltblütigkeit. Hatte er tatsächlich so zwigespalten sein können? Hatte am Ende nur die falsche Seite in ihm gesiegt? Und wenn ja, warum? Weil Jessica ihn verlassen hatte? War das der Auslöser gewesen?
Harry sah aus dem Augenwinkel, wie sie ihm den Kopf zuwandte. Leicht beschämt über seine Gedanken blickte er sie an. Ihre Augen waren bedauernd. „Er war schon immer…arrogant.“, begann sie langsam und es klang, als wollte sie ihn schützen. Ihn und seine Bosheit. „Und er war…herrisch.“ Bei diesem Satz blickte sie zu Boden. In Harry wuchs ein schlimmer Verdacht. Was hatte der dunkle Zauberer ihr angetan? Jessica straffte ihre Schultern und seufzte tief. „Er hatte schon immer diesen….Hass in sich, Mister Potter. Irgendwo tief drinnen. Es ist nicht so, dass er über Nacht zu dem wurde, was er bis zum Schluss blieb. Aber…“ Sie zögerte und schien mit sich zu ringen. „Es…ist durchaus möglich, dass…mein Weggehen von ihm…“ Ihre Stimme verlor sich und Harry wusste, dass sie nicht weiter sprach, weil sie es nicht ertrug. Doch die alte Hexe wechselte plötzlich das Thema:
„In den folgenden fünf Jahren, Mister Potter…“, sagte sie nun wieder mit gefasster und ruhiger Stimme. „…lebten Tom und ich in einer Beziehung. In meiner Wohnung, falls es Sie interessiert. Auch danach noch, es hat insgesamt beinahe 10 Jahre gehalten.“ Harry überlegte. Warum hatte sie die ersten fünf Jahre erwähnt, wenn es doch zusammen beinahe 10 Jahre gewesen waren? „Was passierte in dem fünften Jahr, Ma’am?“ Die Alte lächelte, blickte ihn jedoch nicht an. „Man konnte bei ihm und mir von einer glücklichen Zeit sprechen. Ich liebte ihn und ich weiß, er mich auch. Wir hatten bald eine Art…bürgerliches, relativ normales Leben.“ Ihr Lächeln wurde breiter und Harry beobachtete wie sie um Jahre jünger zu werden schien. „Es war großartig. Fast so, wie es im Buche steht. Aber nach fünf Jahren musste ich beruflich nach Belgien. Nach Brügge, um genau zu sein. Diese Berufsreise stand auf unbestimmte Zeit.“ Harry zuckte etwas ungeduldig mit den Schultern. „Und?“, fragte er vorlaut. „Was ist passiert? Hat er Ihre Abwesenheit nicht ausgehalten und hat in seiner Verzweiflung zwanzig Muggel umgebracht?“ Im nächsten Moment schlug er entsetzt die Hände vor den Mund und konnte nicht fassen, was er da gerade gesagt hatte. Er hatte geredet, ohne vorher zu denken! Verdammt! Jessica Whiteman zog die Augenbrauen hoch, tiefe Falten bildeten sich auf ihrer Stirn, sie sah streng aus. Ihr Blick war mahnend, wütend, aber nicht unkontrolliert. Ihre Stimme klang rasiermesserscharf, als sie zischte: „Nicht ganz, Mister Potter! Aber ein ähnliches Szenario steht Ihnen noch bevor!“ Und bevor Harry sich entschuldigen konnte, fuhr die die Hexe fort ihre Geschichte zu erzählen.
„In Brügge traf ich auf einen alten Bekannten, und auf jemanden, mit dem Sie sicherlich auch noch das Vergnügen hatten. Rufus Scrimgeour.“ Harry schluckte und versuchte, sich wieder in die Geschichte hineinzufinden. Scrimgeour? In Brügge?
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