von mia.winchester
Als hätte sich jemand in das Werk der großen Uhr über dem Haupteingang geklemmt und an allen Rädern gedreht und gekurbelt, verflog die Zeit bis zum Frühling, ohne dass es wirklich jemand mitbekam. Die meisten Schüler in Hogwarts waren vertieft in ihre Schularbeit, lernte, bis ihnen die Köpfe rauchten und waren mit Prüfungen und Aufsätzen beschäftigt. Auch Andromeda sah im Lernen den einzigen Ausweg aus ihrer Traurigkeit. Sie war zu ihrem ewigen Begleiter geworden. Wie ein schwarzer Schleier hatte sie sich über sie gelegt und sie war bereits dabei, einfach hinzunehmen, dass sie für den Rest ihres Lebens dazu verdammt war, sich leer und unglücklich zu fühlen. Sie müsste für immer über das schweigen, was ihre Schwester getan hatte, durfte niemals den leisesten Zweifel an ihrer Lebensideologie äußern und vor allem durfte sie sich nie, nie wieder mit dem Jungen treffen, nach dem sich ihr Herz verzehrte, und letzteres hatte sie bei dem Treffen in Hagrids Hütte selbst bestimmt.
Bellatrix' wohnte den Todessertreffen nun als engste Vertraute des Dunklen Lords bei. Kein anderes Mädchen und auch kein anderer Junge schien ihm so nah zu sein wie sie. Während ihre eigenen Schwestern litten, hatte sie sich nie besser gefühlt. Sie hatte es geschafft. Sie hatte mit Willenskraft und Gerissenheit ihr Ziel erreicht und auch, wenn ihr das lange nicht genug war, so konnte sie sich doch für die kurze Zeit, in der die Freude noch frisch war, damit zufrieden geben. Sie war die Art Mensch, die nie genug bekommen kann, egal, ob sie alles erreicht haben, was sie sich vorgenommen hatten. Und nun, da sie dem Dunklen Lord näher war als sonst wer, zudem Rodolphus an ihrer Seite hatte, der alles tat, was sie von ihm verlangte, und außerdem mit perfidem Vergnügen mit ihrer Macht über Andromeda und Narzissa spielte, hätte sie eigentlich wirklich glücklich sein müssen. Aber Bellatrix hatte angefangen, Gefühle zu missachten. Sie hatte gelogen und betrogen und Unrecht getan, und wer Anderen Schmerzen zufügt, wird selbst nie ohne Schmerzen sein. Sie hatte ganz einfach verlernt, wie es sich anfühlte, glücklich zu sein. Alles, was sie kannte, war selbstgefällige Zufriedenheit und Hunger nach mehr davon.
Narzissa litt. Anders konnte man ihren Zustand nicht beschreiben. Das arme Mädchen war bis auf die Gesellschaft ihres arroganten besten Freundes Lucius nun wieder völlig alleine. Andromeda verging in ihrer Gleichgültigkeit, die sie nur vortäuschte, um nicht ewig weinen zu müssen und vergaß darüber, dass sie ruhig mit Narzissa darüber hätte reden können. Narzissa war der Überzeugung, sie könne Andromeda helfen. Sie wusste, dass ihre große Schwester Liebeskummer hatte und wollte sie darin bestärken, dass sie wirklich besser dran war ohne diesen Muggelgeborenen. Bellatrix hingegen schien immer öfter zu vergessen, dass sie überhaupt eine kleine Schwester hatte. Zwar sprach sie viel öfter mit Narzissa als Andromeda es tat, aber da diese sowieso kaum noch redete, war das auch nichts Besonderes. Lieber verbrachte Bellatrix Zeit mit ihren Todesserfreunden und da zu denen auch Lucius Malfoy gehörte, hatte oft nicht einmal der Zeit für Narzissa. Der Frühling brach an und die Schwestern bemerkten es nicht einmal. Für die Schönheit der neu erblühenden Welt waren sie zu blind geworden.
Die Wiesen um Hogwarts erstrahlten in sattem Grün und erste Wildblumen wucherten am Rande desVerbotenen Waldes. In allen erdenklichen Farben sprossen sie im hohen Gras und auch die Bäume trugen wieder dünne Blätter. Auf dem Schwarzen See lag ein heller Glanz, wenn die Märzsonne sich darin spiegelte, und der Wind, der das Land überflog, war lang nicht mehr kühl.
Narzissa saß am Ufer des Sees und betrachtete ihr Spiegelbild in der glatten Oberfläche. Sie war größer geworden, ohne dass sie es gespürt hatte. Und in ihrem Gesicht lag eine Härte, von der sie nicht wusste, ob sie vom Wachsen kam und ein Zeichen von Reife war, oder bloß das Resultat ihrer ewigen schlechten Laune.
„Zissy.“, rief eine Stimme hinter ihr. Narzissa wirbelte herum. Es war Lucius.
Ohne ihn zu begrüßen, rutschte Narzissa auf dem Stein, auf dem sie sich niedergelassen hatte, ein Stück zur Seite und machte ihm Platz. Sein silbriges Haar war länger geworden.
„Willst du dir die nicht mal schneiden?“, fragte Narzissa und zupfte an einer besonders langen Strähne.
„Nein.“, sagte Lucius. „Um ehrlich zu sein, finde ich das schick so.“
„Jedem das seine.“, sagte Narzissa spöttisch. Lucius lachte.
„Du musst mich ja nicht heiraten.“, sagte er.
„Hab ich auch sicherlich nicht vor.“, lachte Narzissa. Ihr Magen meldete sich mit einem unangenehmen Ziehen.
„Was machst du hier?“, fragte Lucius zu ihrer Erleichterung.
„Nichts. Ich sitze bloß hier und schau mir mein Spiegelbild an.“, sagte sie leise.
„Gefällt es dir denn?“, feixte Lucius.
„Nicht mehr.“, sagte Narzissa. „Ich sehe alt aus.“
„Das ist Schwachsinn.“, sagte Lucius. „Du siehst hübsch aus.“
Beide betrachteten ihre Spiegelbilder. Ihr helles Haar verfloss zu einem Silberschweif auf der Wasseroberfläche und die Zwei lächelten sich gegenseitig an.
„Wir sehen beide verdammt hübsch aus.“, stellte Lucius mit einem überhebliches Lachen fest und Narzissa musste zum ersten Mal seit langer Zeit schmunzeln.
„Ich muss wieder gehen.“, sagte Lucius plötzlich. „Hab noch eine Menge Artihmantik-Aufgaben zu erledigen.“
„Dann tschüss.“, sagte Narzissa leise.
Malfoy rappelte sich hoch, aber ehe er ging, beugte er sich noch einmal zu Narzissa hinab und drückte ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange. Völlig verwundert und mit einem ohrenbetäubenden Rauschen in den Ohren blieb sie auf dem Stein zurück und wagte es nicht, ihm nachzusehen.
„Hast du das mit dem Waisenhaus bei Manchester gehört?“, fragte Gideon seinen Freund Ted, als die beiden sich im Gemeinschaftraum der Gryffindors in die samtroten Sofas fallen ließen.
„Nein, was ist passiert?“, fragte Ted. Er klang, wie schon die ganze Zeit seit dem Treffen in Hagrids Hütte, furchtbar gelangweilt. Nichts schien ihn mehr zu regen und wenn Gideon ihm in die Augen sah, war ihm, als würde er geradewegs in Andromedas Augen blicken. Es war nahezu albern, wie heftig sich Ted in dieses Mädchen verliebt hatte. Und dass sie ihn nun vollkommen ignorierte, brach ihm der Herz. Gideon und Fabian versuchten alles, um ihn aufzumuntern, aber es glückte nichts.
„Da gab es ein Waisenhaus mit überwiegend muggelstämmigen Kindern.“, begann Gideon und holte den Tagespropheten hervor.
„Die meisten Zaubererwaisenhäuser beherbergen muggelstämmige Kinder.“, erwiderte Ted. „Ist doch auch klar. Stell dir vor, du bekommst als Nichtmagier ein Kind, dass du abends ins Bett legst und morgens in der Küche antriffst, obwohl es noch nicht mal laufen kann. Oder das Dinge über seinem Bett schweben lässt. Viele Muggel denken, der Leibhaftige habe Besitz von ihrem Kind ergriffen. Das war früher noch viel schlimmer, als man auch in der Muggelwelt noch an Besessenheit glaubte.“
„Dann hattest du ja echt Glück mit deinen Eltern.“, sagte Fabian und bereute es sofort.
„Wohl eher nicht.“, sagte Ted. Jetzt versank er wieder in Selbstmitleid. Seine Freunde sahen es schon kommen. „Wenn ich nicht muggelstämmig wäre, würde Andromeda mit mir zusammen sein können.“
„Hör doch auf, dir schon wieder die Schuld zu geben.“, sagte Fabian. „Schließlich ist es allein die Schuld ihrer verkorksten Familie, dass sie ihre Tochter so rassistisch erzogen haben.“
„Wo er Recht hat.“, sagte Gideon über seinen Bruder.
„Genau. Sieh es mal so“, begann Fabian, „wenn Andromeda wirklich wollte, würde sie ihrer Familie den Finger zeigen und zu dir kommen.“
„Weil das ja auch so leicht ist.“, spottete Ted mit Sarkasmus in der Stimme.
„So kannst du das nicht sagen, Fabi.“, erklärte Gideon. „Du hast keine Ahnung, wie stark der Druck ist, den ihre Familie auf sie ausübt. Guck sie dir doch an. Sie sieht nur noch traurig aus. Isst kaum noch was. Und Bellatrix hingegen scheint sich super zu fühlen. Glaub mal nur, dass die am meisten dazu beiträgt, dass ihre Schwester dich nicht treffen darf, Ted.“
Ted nickte nur. „Ich weiß.“, sagte er schließlich. „Das ist furchtbar.“
„Also, was ist mit dem Waisenhaus?“, hakte Fabian nach.
„Abgebrannt.“, sagte Gideon. „Aber nicht einfach so. Man hat Feuer gelegt.“
„Wer macht so was?“, rief Fabian. „Die armen Kinder.“
„Rassisten.“, sagte Ted. „Ganz klar.“ Er seufzte laut.
„Über dem brennenden Haus“, sagte Gideon jetzt mit verheißungsvoller Stimme, „hat das hier in den Flammen geschwebt.“
Er drehte den Tagespropheten so, dass sein Bruder und sein bester Freund das Bild auf der Titelseite sehen konnten. Ted fiel die Kinnlade herunter und Fabian fuhr prüfend mit dem Finger die Konturen des Rauchschwadens nach, der unheilvoll über dem in Flammen stehenden Haus am Nachthimmel hing.
Er sah aus wie ein Totenkopf, aus dessen knochigen Maul sich eine Schlange wand.
Die Todesserclique von Hogwarts, wie Andromeda ihre Schwester und deren Freunde heimlich nannte, war in heller Aufregung. Denn es war schon wieder Vollmond. Andromeda verkroch sich den ganzen Tag über im Bett und wartete darauf, dass sie angespannten Anderen endlich Gemeinschaftsraum und Schlafsaal verließen, um ihren Weg in den Verbotenen Wald anzutreten. Es war beinahe erschreckend, wie leer die Räumlichkeiten der Slytherins waren, wenn ein Treffen der Todesser stattfand. Inzwischen gehörte über die Hälfte des Hauses zu ihnen. Andromeda selbst wurde immer wieder, besonders von Rabastan, aufgefordert, doch mitzukommen. Aber sie wollte nicht. Sie konnte auf keinen Fall verantworten, Kreisen anzugehören, denen ihr eigener Onkel zum Opfer gefallen war. Weil ihre eigene Schwester eine grässliche Lüge über ihn verbreitet hat. Inzwischen war sich Andromeda ganz sicher, dass das mit dem Übergriff auf sie nur gespielt gewesen war. Und sie hatte sich auch eine Reim auf alle anderen Übeltaten ihrer Schwester machen können. Aber was nützte ihr das, wenn sie nicht den Mut besaß, sie damit zu konfrontieren? Was nützte die unbändige Wut auf ihre eigene Schwester, wenn sie nicht stark genug war, sie dazu zu nutzen, sich von ihr abzuwenden und das zu tun, wonach ihr Herz sich sehnte? In Teds Arme zu fallen und sich von ihm retten zu lassen, vor sich selbst, vor ihrer Familie, vor dem Gefühl, das sie seit einer gefühlten Ewigkeit in sich trug wie einen schweren Stein und um sich wie einen schwarzen Mantel. Sie war am Ende ihrer Kräfte und konnte nicht einmal mehr die Stärke aufbringen, etwas zu tun, was sie wieder zu Kräften hätte kommen lassen können. So mussten sich Inferi fühlen. Bloß dass die meistens noch eine Aufgabe hatten. Und alles, was Andromeda zu tun hatte, war lernen, wobei sie kaum etwas von dem vielen Lernstoff bei sich behalten konnte.
Sie lag alleine im Schlafsaal, grub sich in ihr Kissen und dachte darüber nach, wie viel schöner es wäre, in einer Welt zu leben, in der sie nun einfach zur Feder greifen und Ted einen Brief schreiben könnte. Einen Brief, in dem sie ihm alles gestand und versuchte, zu erklären, einen Brief, in dem sie die Wahrheit über Bellatrix verriet, die sie sonst als dunkles Geheimnis mit sich trug. Doch sie hatte sie geschworen, niemandem etwas zu verraten, auch wenn sie wusste, dass es ihr selbst dann vielleicht besser gehen würde. Allgemein war es die beste Entscheidung, das zu tun, was ihre Familie von ihr erwartete, und das wusste Andromeda. Und Ted wusste das auch. Außerdem teilten sich die Schwestern eine Briefeule und wenn eine von ihnen den möglichen Antwortbrief von Ted in die Hände bekam, würde Bellatrix den nächsten Kamin aufsuchen und Andromedas Bild aus dem Stammbaum fackeln. Von diesem Szenario hatte Andromeda schon Träume. Grässliche Träume, aus denen sie schweißgebadete und schnell atmend erwachte. Früher war sie dann zu Bellatrix ins Bett gekrochen und hatte ihr davon erzählt und dann hatten sich die Schwestern umarmt und die Monster und Gräueltaten aus ihren Albträumen erschienen gar nicht mehr schlimm, wenn Bellatrix Andromeda tröstete. Heute war sie es, die Andromeda Albträume bescherte. Was war nur aus ihr und der Liebe zu ihren Schwestern geworden?
Narzissa war hin-und hergerissen zwischen ihnen beiden und verbrachte aus Angst, in den für sie noch größtenteils unerklärlichen, stummen Streit zwischen ihnen zu geraten, kaum noch Zeit mit ihnen. Sie zog es vor, sich mit diesem blasierten Malfoy-Jungen abzugeben. Früher hätte Andromeda ihre kleine Schwester vor Jungen wie ihm gewarnt. Aber inzwischen sagte sie sich, es sollte doch wenigstens Narzissa glücklich sein, wenn sie selbst es offenbar nie mehr werden würde. Damit sie wenigstens überlebte, versuchte sie, ihre Gefühle zu unterdrücken und lebte in Betäubung und Gleichgültigkeit. Sie hatte es so bis in den Frühling geschafft.
Kein Licht brannte im Schlafsaal, kein Geräusch durchbrach die Stille. Sie bewegte sich nicht, hielt die Luft an und versuchte, an nichts zu denken.
Andromeda fragte sich, ob es sich so anfühlte, wenn man tot war.
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