von mia.winchester
Als die Sonne aufging, erreichten sie das Schloss. Völlig außer Atem und ängstlich wie noch nie in ihren kurzen Leben zuvor, öffneten sie mit aller Kraft das schwere Tor und traten ein.
„Hilfe!“, rief das ältere Mädchen, so laut es konnte. Und zu ihrem Glück eilte gleich eine in weiß gekleidete Dame herbei.
„Mein Gott, Kinder, wie seht ihr nur aus?“, fragte sie. „Wo kommt ihr her?“
„Bitte helfen sie uns.“, sagte das Mädchen nur. Das kleine Mädchen, gerade einmal zwei Jahre alt, hatte in seinem bisherigen Leben noch nicht ein Wort gesprochen.
„Ja, ja, natürlich helfe ich euch.“, sagte die Dame in Weiß. „Kommt erstmal mit mir.“
Sie nahm die Kinder bei der Hand und führte sie in den Krankenflügel.
„Habt ihr ein Glück, dass ihr mir begegnet seid.“, sagte sie. „Hier arbeite ich.“
Sie richtete im Handumdrehen zwei Betten für die Kinder her. „Aber erst einmal wascht ihr euch. Ihr seid ja voller Asche.“
Sie führte die Kinder in den Waschsaal des Krankenflügels und bereitete eine Zinkwanne voll heißem Wasser vor.
„Nun sagt schon, wo kommt ihr her?“, fragte sie.
„Ich kann es nicht genau sagen, Madam.“, gab das ältere Mädchen zu. „Ich weiß nicht, wie ich das, was heute Nacht geschehen ist, erklären soll.“
Die Krankenschwester hob prüfend die Augenbrauen. „Wie meinst du das?“
„Nun, Madam.“, sagte das ältere Mädchen zögerlich. „Gwenog und ich wohnen eigentlich in einem Waisenhaus in East London.“
Erschrocken sog die Krankenschwester die Luft ein. „Ihr seid Muggel?“, entwich es ihr.
„Nein!“, sagte das Mädchen schnell. „Wir sind Hexen, wir beide. Wie alle im Waisenhaus. Gwenog und ich allerdings stammen von Muggeln ab.“
„Ich verstehe.“, sagte die Krankenschwester. „Aber wie seid ihr hierher gekommen?“
„Heute Nacht wurden wir von Feuer geweckt. Miss Smith hat versucht, uns zu retten, aber da waren eine Menge vermummter Zauberer. Die haben sie getötet.“
„Nicht wahr!“, rief die Krankenschwester. „Schon wieder ein Angriff auf ein Waisenhaus?“
Das Mädchen zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht.“
„Gut, gut. Mein Kind, was ist dann passiert?“, hakte die Krankenschwester nach.
„Eine von den vermummten Gestalten hat uns gepackt und dann zu diesem riesigen Knochen geschleift und ehe ich mich versehen konnte, waren Gwenog und ich in diesem Wald. Die Hexe sagte, wir sollten laufen, also liefen wir. Ich hatte furchtbare Angst und Gwenog hat nicht mehr aufgehört, zu weinen.“
Besorgt strich die Krankenschwester dem noch immer schluchzenden kleinen Mädchen über den Schopf dunkler Haare.
„Ihr armen Dinger.“, sagte sie. „Wo ist die Hexe, die euch gerettet hat, jetzt?“
Wieder zuckte das ältere Mädchen mit den Schultern. „Sie blieb im Wald. Sie war ziemlich verletzt, glaube ich. Ich weiß nicht, ob sie überhaupt zu den Bösen gehört hat.“
Die Krankenschwester hob erneut prüfend die Brauen. „Wie sah sie aus?“, fragte sie. „Braune, lockige Haare? Ein trauriges Kindergesicht?“
„Tut mir Leid, Madam, ich weiß es nicht mehr. Aber das kann sein.“
Die Krankenschwester sog scharf die Luft ein. „Unfassbar.“, sagte sie. „Bitte, bade Gwenog und dann dich selbst. Dann geht in die Betten, die ich für euch bereitet habe. Ich bin bald wieder da.“
Bevor sie ging, bat sie ihre junge Gehilfin Poppy Pomfrey, Acht auf die Kinder zu geben. Dann machte sie sich auf den Weg in Dumbledores Büro.
Als sie eintrat, sah sie, dass Dumbledore nicht alleine war. Vor ihm saßen zwei Erwachsene, der Mann hielt seine weinende Frau im Arm.
„Madam Patterson.“, begrüßte Dumbledore die Krankenschwester. An seinem Blick konnte die Krankenschwester erkennen, dass sie zum falschen Zeitpunkt erscheinen war. Dennoch bat sie ihm um ein kurzes Gespräch und Dumbledore willigte ein.
„Entschuldigen sie mich, Mr und Mrs Somerset.“, sagte er höflich und ging mit Madam Patterson in einen vollgestellten Nebenraum.
„Was gibt es, Eve?“, fragte er. „Die Eltern des Mädchens sind da, wie du vielleicht siehst. Ich habe eigentlich keine Zeit. Es ist schrecklich. Sie sind am Boden zerstört. Ich kann immer noch nicht fassen, dass das Mädchen tot ist. Also, was gibt es?“
„Es geht um das Mädchen!“, sagte Madam Patterson. „Um das verstorbene Mädchen. Haben sie schon den Tagespropheten empfangen?“
Dumbledore nickte. „Wieso?“
„Das Waisenhaus in East London.“, sagte Madam Patterson. „Es wurde in Brand gesteckt.“
Dumbledore nickte erneut. „Ja, das stimmt. Grauenvolle, rassistische Tat. Wenn ich nur wüsste, wer dahintersteckt.“
„Es sind die Selben, die Schuld an Miss Somersets Tod haben.“, wisperte Madam Patterson.
„Woher wollen sie das wissen?“, fragte Dumbledore.
„Eben fand ich im Flur zwei kleine Mädchen aus dem Waisenhaus. Ja, ich weiß, verrückte Vorstellung. Aber eines von ihnen sagte mir, dass sie in der Nacht vom Feuer geweckt wurden und das eine Hexe sie gerettet und in den Wald gebracht hat.“
„Aber Miss Somerset konnte unmöglich apparieren.“, stellte Dumbledore fest.
„Ein Portschlüssel, Sir.“, sagte Madam Patterson. „In Form eines Knochens.“
„Wie kommt Miss Somerset in den Besitz eines Portschlüssels, der sie zu einem Waisenhaus führt, welches von einer Bande rassistischer Zauberer in Brand gesetzt wird?“ Dumbledore, der sonst immer gefasst und klar eine Antwort auf alle Fragen wusste, war mit all diesen Informationen und Verdächtigungen vollkommen überfordert.
„Das weiß ich nicht, Sir, aber offensichtlich brachte Miss Somerset die Kinder damit in Sicherheit und blieb dann im Wald zurück, während die Kinder davonrannten.“, erklärte Miss Patterson. „Sie können mit den Kindern sprechen, sie liegen im Krankenflügel.“
Dumbledore nickte wieder. „Später, ja. Lassen sie mich vorerst nur kombinieren. Heute Nacht wurde ein Waisenhaus verbrannt. Miss Somerset verließ mithilfe eines Portschlüssels das Schulgelände, gelangte zum Schauplatz und rettete zwei Kinder. Dann kehrte sie mit ihnen in den Wald zurück- von wo aus sie auch verschwunden ist- und kurze Zeit darauf wurde sie am selben Ort getötet. Vermutlich von den Brandstiftern. Und diese waren mächtig genug, zu apparieren.“
Madam Patterson nickte.
„Das heißt...“, fuhr Dumbledore fort. „Wir haben es mit einer Gruppierung rassistischer Zauberer zu tun, die nicht davor zurückschrecken, Unschuldige zu töten. Und mindestens einer von ihnen ist mächtig genug, auf dem Schulgelände von Hogwarts zu apparieren.“
Madam Patterson sah zu Boden. „Das ist nicht gut, oder?“, fragte sie unsicher.
„Das ist wirklich nicht gut.“, bestätigte Dumbledore. „Aber wie passt Miss Somerset in die Geschichte?“
„Nun. Ich kann es mir nur so erklären. Oft habe ich sie gesund pflegen müssen, weil sie sich Hals über Kopf in ein Abenteuer gestürzt hat.“, sagte Madam Patterson mit trauriger Stimme. Die Erinnerungen an das übermütige Mädchen, das sie zu Lebzeiten nicht selten ziemlich genervt hatte, machten sie wehmütig. „Sie wird einen Verdacht gehabt haben. Sie hat irgendetwas über diese Gruppe gewusst und wahrscheinlich wollte sie verhindern, dass sie das Waisenhaus in Brand setzen. Sie wollte ein Abenteuer erleben.“
„Ihr letztes Abenteuer.“, sagte Dumbledore leise. „Doch sie starb als eine Heldin.“
Es folgten viele Gespräche mit allen möglichen Freunden und Bekannten aus Sians Umfeld, und schließlich kam Dumbledore zu dem Schluss, dass seine Vermutung der Wahrheit entsprach. Gideon Prewett bestätigte, dass Sian in Eile den Ball verlassen hatte, was wiederum die Bestätigung dafür war, dass sie mehr gewusst hatte als alle Anderen und verhindern hatte wollen, dass die Gräueltat von der gefährlichen Gruppe schwarzer Magier begangen wurde.
Das traurigste an jener Geschichte war allerdings, dass Sian zwar als Heldin starb, aber nach kurzer Zeit trotz allem in Vergessenheit geriet. Bald schon kamen mehr Gräueltaten besagter Gruppe ans Tageslicht und Voldemort offenbarte der Zaubererwelt sein grässliches Gesicht, scharte mehr und mehr Zauberer um sich und stieg zu der Macht an, die er schon damals erstrebt hatte. Da wusste jeder, dass er es gewesen sein musste, der damals das Mädchen im Wald ermordet hatte. Selbst, wenn es in Wirklichkeit seine Gehilfin Bellatrix Black, später dann Lestrange, gewesen war. Aber wie das so ist, mit Menschen, die sterben, so verblassten die Erinnerungen an Sian Somerset so schnell und unbemerkt wie der Wind, der sich an diesem Morgen über die Länderein von Hogwarts trieb. Im Aufstieg Voldemorts war sie bloß eines der frühen Opfer seiner Macht. Niemand wusste es und niemand dachte an Sian, als diejenigen, die sich später dann gegen Voldemort verschworen hatten, genau wie sie schon viel früher für das Gute kämpften.
Auch nicht der Enkelsohn ihres Onkels: Harry James Potter.
Aber wo immer auch Sians Seele trieb. Der Tag, an dem Voldemort durch die Hand ihres Großcousins starb, war der, an dem sie endgültig ihren Frieden fand.
Mr und Mrs Somerset hatten beschlossen, Sian in ihrem Heimatort nahe Manchester zu beerdigen. Als sie ihre tote Tochter am Abend des windigen Frühlingstages in einem hellen Sarg mit sich nahmen, stand Andromeda auf einem hohen Turm und blickte hinab. Die Schuld, die sie fühlte, als sie auf die trauernden Eltern hinabsah, die bald ihre eigene Tochter unter die Erde bringen mussten, würgte sie wie ein enger Strick. Aber sie brachte es nicht über sich, ihnen von Voldemort zu erzählen. Sie brachte es nicht über sich, ihr eigenes Blut noch mehr zu verraten, als sie es ohnehin schon getan hatte. Und sie brachte es nicht über sich, den Eltern des Mädchens ins Gesicht zu sehen, dass sie vielleicht hätte retten können. Als sie sich die Tränen aus den Augen gewischt hatte, wand sie den Kopf und entdeckte am Fenster eines gegenüberliegenden Turmes eine Gestalt, die sie zunächst als ihre Spiegelung im Glas und dann als Bellatrix erkannte.
Auch sie starrte hinab auf das Geschehen vor dem Schloss. Doch dann entdeckte sie Andromeda. Eine Weile sahen sich die Schwestern nur an. Der Wind zerrte an Andromedas Haaren und neue Tränen trübten die Sicht. Doch sie konnte im Gesicht ihrer großen Schwester etwas erkennen, dass sie überraschte. Etwas, das sie stark an die eigene Trauer erinnerte.
Doch dann lächelte Bellatrix. Es war keines der herablassenden, wahnsinnigen Lächeln, die sie in letzter Zeit so oft zeigte. Es war ein Lächeln, das voller Enttäuschung und Resignation war. Andromeda wusste, dass sie Bellatrix mit genau dem selben Ausdruck im Gesicht ansah.
Wie Zwillinge.
Dann formten Bellatrix rote Lippen ein Wort. „Niemals.“
Andromeda spürte die kalte Luft von außen in ihren Körper strömen. Niemals. Niemals.
Niemals würde es werden, wie es früher gewesen war.
Niemals würde Sian wieder lebendig sein.
Niemals würde sie die Schuld begleichen können, denn niemals würde sie es wagen, die Wahrheit zu sagen.
Niemals würde sie so stark sein, wie sie tat.
Niemals würde sie die ganze Wahrheit kennen, und niemals würde sie dies wollen.
Niemals würde ihr gebrochenes Herz heilen.
Niemals würde sie in den Schoß ihrer Familie zurückkehren, ihr Bild war wahrscheinlich schon aus dem Teppich gebrannt.
Doch vor allem würde sie trotz allem, trotz dem Bruch und dem Verrat, trotz all der Worte und der vergessenen Liebe, trotz der Fremde und der Abneigung, trotz der Erkenntnis und der Wut- niemals aufhören, Bellatrix' Schwester zu sein. Allein, weil in dieser Sekunde das gleiche Blut durch die Adern der Mädchen rauschte und weil sie sich aus den gleichen dunklen Augen mit der gleichen Verzweiflung ansahen. Durch eine Glasscheibe, die sich wie die Welt anfühlte.
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