Draco war schlecht. Speiübel. Am liebsten hätte er sich übergeben und die Schande aus sich herausgewürgt. Wenn er sich jetzt schon so schuldig fühlte, wie würde es sich dann erst anfühlen, wenn er wirklich jemanden umbrachte?
Wie ein Lauffeuer hatte die Nachricht sich im Schloss verbreitet, dass Ron Weasley im Krankenflügel lag, aber da Draco nach wie vor die meiste Zeit im Raum der Wünsche verbrachte, hatte er es erst sehr spät von Pansy beim Frühstück erfahren. Ron Weasley hatte den vergifteten Met getrunken, den Draco geschickt ins Schloss schmuggeln konnte. Erneut war sein Plan gescheitert, wie zuvor schon bei der verfluchten Kette. Und das verdammte Verschwindekabinett war immer noch kaputt!
Draco hasste sich. Nichts bekam er hin, dabei hing so viel von ihm ab. Zwei Menschen hatte er unbeabsichtigt geschadet. Sein schlechtes Gewissen trieb ihn in den Wahnsinn, was er allerdings niemals sich selbst gegenüber zugegeben hätte. Nachdem er von Weasleys Unfall erfahren hatte, war Draco zum Krankenflügel gegangen. Nur einen kurzen Blick wollte er auf ihn werfen, sich mit eigenen Augen davon überzeugen, dass es ihm gut ging, denn das hätte seine Schuldgefühle vielleicht ein kleines bisschen gelindert. Minutenlang hatte er vor den verschlossenen Türen des Krankenflügels gestanden und mit sich selbst gehadert, war dann letztendlich aber wieder gegangen.
Mittlerweile war es März und Draco hatte mehrere Monate keinen Gedanken mehr an Cormac McLaggen verschwendet, bis er ihm eines Tages über den Weg lief. Draco kam gerade als Letzter verschlafen vom Turmzimmer, in dem Wahrsagen unterrichtet wurde und wo er aufgrund der parfümierten Luft und der Hitze – und womöglich trug auch der Schlafmangel einen gehörigen Anteil dazu bei – beinahe eingeschlafen wäre, als der Gryffindor auf der Wendeltreppe plötzlich vor ihm stand und Draco fast in ihn hineingelaufen wäre.
Draco blinzelte ein paar Mal, bis er den großen, drahthaarigen Jungen erkannte. Den hatte er ja auch schon eine Ewigkeit nicht mehr gesehen... Dann fiel ihm auch wieder ein, wieso nicht: Draco hatte sich die letzten Monate erfolgreich vor dem Gryffindor verstecken können, denn der war ziemlich sauer darüber gewesen, dass Draco sein Versprechen, welches aus slytherin’scher Sicht niemals gegeben wurde, nicht eingehalten hatte. Angesichts seiner Müdigkeit brauchte Draco jedoch einen Moment, um diese Information zu verarbeiten, doch als er sich dessen bewusst wurde, war es für eine Flucht schon zu spät. Statt wütend über ihn herzufallen grinste der Gryffindor ihn jedoch an. Jetzt war Draco total verwirrt.
„Ich hatte die Hoffnung schon aufgegeben“, sagte Cormac, der Draco regelrecht anstrahlte. „Eigentlich hatte ich vor, dir den Arsch aufzureißen, wenn ich dich das nächste Mal sehe, aber jetzt würde ich dich am liebsten küssen!“
„Bitte nicht“, flehte Draco. Er wusste ja, dass er unwiderstehlich war, aber die Vorstellung, dass McLaggen... das wollte er nicht einmal denken! Als Cormac dann allerdings auch noch einen Schritt näher trat und einen Arm nach ihm ausstreckte, war Draco wieder hellwach und hüpfte erschrocken eine Treppenstufe zurück. Der Gryffindor ließ sich davon nicht verunsichern und legte seine Hand auf Dracos Schulter, um sie freundschaftlich zu tätscheln. Mit vor Freude geschwollener Brust sagte er: „Danke, dass du Weasley für mich aus dem Weg geräumt hast!“
Dracos Gesichtszüge entgleisten für einen Moment. Wegen ihrer blöden Abmachung wusste Cormac jetzt, dass es Dracos Verdienst war, dass das Wiesel im Krankenflügel lag. Draco wurde schon wieder ganz schlecht.
„Keine Panik, ich verrat’s keinem“, versicherte er. Er schien wirklich zu glauben, dass Draco dahinter steckte. Tat er ja auch, nur dass Cormac ein anderes Motiv vermutete. „Sag mal, du hast nicht zufällig auch was mit Katies Unfall zu tun?“
Draco erstarrte.
„Ich mache nur Witze. Du solltest dein Gesicht sehen, Malfoy.“ Jetzt lachte Cormac ihn auch noch aus. Das laute Gelächter hallte von den Wänden wider. „So etwas trau’ ich nicht mal dir zu.“
Draco fühlte sich mies. Richtig mies. Während Cormac alles für einen Witz hielt und immer noch lachte, war es für Draco ein wahrer Alptraum. Am liebsten hätte er sich in die Ecke gestellt und sich in Grund und Boden geschämt. Er konnte nur hoffen, dass der Gryffindor dicht hielt und nicht im Schloss herumerzählte, dass Draco Schuld an Weasleys Misere war. Es war klar, wem man mehr glauben würde, wenn man zwischen einem Gryffindor und einem Slytherin wählen musste.
Aber zumindest hatte sich ein Problem für ihn gelöst. „Das heißt, wir sind quitt?“ Cormac nickte begeistert. Wenigstens hatte Draco die Nervensäge jetzt nicht mehr an der Backe. Leider war das für ihn momentan von Allem nur das kleinste Übel.
„Also bist du jetzt in der Mannschaft?“ Wieso Draco das fragte, konnte er selbst nicht verstehen. Was interessierte es ihn, ob sich McLaggens größter Wunsch endlich erfüllte? Wäre es nach ihm gegangen, hätte McLaggen auch die letzten beiden Spiele von den Tribünen aus mit ansehen können.
„Na klar! Nachdem das mit Weasley passierte, ist Potter gleich angekommen und hat mich praktisch angefleht als Hüter einzuspringen.“ Dass das stimmte, bezweifelte Draco. Amüsiert hob sich sein rechter Mundwinkel. McLaggen war so ein Angeber. Der hatte sich mittlerweile lässig gegen die Wand gelehnt, während er redete und die Arme vor der Brust verschränkt, was den Anschein weckte, dass er nicht so schnell vorhatte demnächst seinen Weg zum Wahrsagenzimmer fortzusetzen. Wenn Draco seinen Redeschwall nicht stoppte, würde McLaggen vermutlich stundenlang nur von sich erzählen. „Ich bin der Beste für diesen Job“, prahlte Cormac weiter. „Potter wird das schon erkennen. Er hätte einen Fehler gemacht, wenn er mich nicht genommen hätte und wir wissen, Potter macht keine Fehler. Wahrscheinlich lässt er mich dann auch gleich in der Mannschaft. Egal ob sich Weasley erholt oder nicht.“
Dracos Husten war nur ein getarnter Lacher. Dieser Kerl war wirklich sehr von sich selbst überzeugt.
„Wieso hast du beim Quidditch eigentlich nicht mitgespielt?“, wollte Cormac interessiert wissen und Draco suchte schon nach einer Ausrede, bis ihm bewusst wurde, dass er ihm ja gar keine Rechenschaft schuldete.
„Wüsste nicht, was dich das angeht.“ Seine kühle Antwort schien Cormac nicht im Geringsten zu kränken.
„Tja, auch wenn du mitgespielt hättest, hättet ihr wohl trotzdem verloren.“
„Sonst noch was?“, fragte Draco genervt, der diese Unterhaltung langsam beenden wollte. Er stand hier schon viel zu lange mit diesem Typen. Die Stimmen und Schritte von den Schülern, die sich auf den Weg zu Wahrsagen machten, hallten bereits zu ihnen hinauf. Es wäre nicht gut für seinen Ruf, wenn man Draco hier mit einem Gryffindor zusammen sehen würde. Womöglich würde da jemand noch etwas hinein interpretieren.
„Sieh dir das Spiel an, du wirst begeistert sein“, versicherte Cormac zwinkernd und hielt beide Daumen hoch.
„Potter wird den Schnatz fangen. Wie jedes Mal“, sagte Draco ungerührt. „Langsam wird es langweilig. Aber vielleicht kannst du ihn ja für mich vom Besen werfen. Das wäre mal was Neues“, schlug Draco vor. Das Letzte mal, dass Potter vom Besen fiel, war nämlich schon wieder drei Jahre her. Noch dazu kam, dass die blöde Brillenschlange ihm im Moment ein bisschen zu doll herumschnüffelte. Potter hielt sich auffallend oft in der Nähe vom Raum der Wünsche auf, als würde er etwas ahnen. Draco hatte keine Lust, dass der ihm irgendwann auf die Schliche kam.
„Ich kann doch nicht meinen eigenen Kapitän -!“, wollte Cormac sich beschweren, als Draco ihn unterbrach. Dass das nur ein Scherz gewesen war, hatte der wohl nicht geschnallt. Gryffindors gaben so viel auf ihre Ehre, dass sie nicht einmal beim Quidditch betrogen.
„Vergiss es einfach“, sagte Draco und quetschte sich auf der engen Wendeltreppe an Cormac vorbei und achtete pingelig genau darauf ihn nicht zu berühren, was ihm zum Glück auch gelang.
„Ach, bevor ich es vergesse“, begann Cormac und Draco stöhnte genervt auf. Gerade als er sich umdrehte, um ihn anzublaffen, was er denn jetzt noch wollte – schließlich waren sie ja nun quitt – fand er sich plötzlich in einer stürmischen Umarmung wieder.
„Danke! Das wird der beste Tag meines Lebens!“ Cormac drückte ihn fest an sich und seine starken Arme legten sich um Draco wie eine Zwangsjacke, sodass er sich nicht mehr rühren konnte und ihm das Atmen schwer fiel. Völlig überfordert mit dieser Situation wusste er nicht, was er tun sollte. Seine Hände hingen unentschlossen an seinen Seiten, erst später kam ihm der Gedanke, dass er sie ja auch gebrauchen konnte, um Cormac einfach wegzuschubsen. Bevor er sein Vorhaben in die Tat umsetzen konnte, ließ der Gryffindor ihn auch schon wieder los und die angenehme Wärme, die der fremde Körper ausstrahlte, verschwand.
Winkend und außerdem auch noch unverschämt grinsend stieg der Gryffindor die Treppenstufen empor. Draco sah ihm auch dann noch hinterher, als der schon längst außer Sicht war. Erst die anderen Siebtklässler, die zu Wahrsagen wollten und ihn unfreundlich anschnauzten, er solle den Weg freimachen, rissen ihn aus seiner Starre.
Wenn Du Lob, Anmerkungen, Kritik etc. über dieses Kapitel loswerden möchtest, kannst Du einen Kommentar verfassen.
Zurück zur Übersicht - Weiter zum nächsten Kapitel