von Blue
London, Dezember 2003
„Verdammt!“ Wütend und genervt schmiss Hermine die Schreibfeder auf den Boden. Das blöde Ding schmierte und verursachte Tintenkleckse auf ihrem Bericht. Dabei musste sie diesen heute noch fertig kriegen! In diesem Moment klopfte es an ihrer Bürotür und sie blickte auf. Sie seufzte. Wer, bei Merlin, wollte denn nun schon wieder was von ihr?
„Herein“, rief sie und versuchte ihren Schreibtisch einigermaßen zu ordnen. Die ging auf und hinein trat eine Person, mit der Hermine überhaupt nicht gerechnet hatte.
„Harry!“, entfuhr es ihr und ihr blieb der Mund offen stehen. Ihr Freund breitete die Arme aus und grinste. „Du hättest mir ruhig sagen können, dass du dich freust mich zu sehen!“ Sie holte schon Luft um etwas zu erwidern und erhob sich fast von ihrem Stuhl, doch sie besann sich ganz plötzlich und das leichte Glimmen in ihren tief braunen Augen, das den Anschein nach Freude und Leben erweckt hatte, verschwand wieder. Ihr Gesicht wurde wieder zu der ausdruckslosen Maske, die sie seit 5 Jahren trug. Auch Harrys anfangs fröhlicher Ausdruck verfinsterte sich nun. Wortlos kam er zu ihr und setzte sich auf einen der beiden Besucherstühle. Hermine zog die Augenbrauen hoch und fragte ziemlich unterkühlt: „Also, was gibt es?“, während sie einige Pergamentstücke aufeinander stapelte und zur Seite legte.
Der junge Auror beugte sich nach vorne und begann vorsichtig: „Hermine, du…“ Er unterbrach sich zwar, doch da sie ihn nicht ansah, sondern sich nur mit ihrer Arbeit beschäftigte, bemerkte sie es gar nicht. „Ich…wollte dich zum Weihnachtsessen einladen.“
Noch immer keine Reaktion von ihr und Harry glaubte, mit einer Wand zu reden.
„Wie jedes Jahr!“, setzte er nach und legte seine Hände gefaltet auf die Tischplatte. Immerhin erregte er mit dieser Geste ihre Aufmerksamkeit so weit, dass sie mitten in der Bewegung inne hielt und ihre Augen von unten zu ihm heraufschielten. Doch ihr Blick war nicht interessiert, sondern strafend. Als hätte sie sagen wollen: „Nimm sofort deine Hände von meinem Tisch!“ Eine Weile starrte sie ihn auf diese Weise an, bevor sie den Blick wieder senkte und damit fort fuhr, Dokumente zu stapeln. „Ich kann nicht, Harry. Tut mir Leid.“, antwortete sie knapp und ging nicht weiter darauf ein. Doch dann nahm er ihre Hände in seine und Hermines Kopf erhob sich überrascht, während sie gleichzeitig scharf die Luft einzog und leicht zurück zuckte. Ihre Hände waren rau und eiskalt. Harry musterte sie. Seine beste Freundin sah schlecht aus. Ihr einst so hübsches, aufgewecktes Gesicht war eingefallen, auf ihrer Stirn bildeten sich bereits Falten. Der Ehrgeiz und die Lebensfreude, die ihre Augen immer zum Strahlen gebracht hatten waren erloschen und hatten bloß zwei leere dunkle Höhlen zurückgelassen unter welchen sich düstere Ringe gebildet hatten. Im gesamten war sie sehr blass. Noch blasser, als zuvor. Hinzu kam, dass sie unnatürlich viel abgenommen hatte. Vorher war sie schlank gewesen, jetzt war sie mager. Ihr langes buschiges Haar, was er immer sympathisch gefunden hatte, gerade weil es nicht perfekt gewesen war, steckte seither jeden Tag in einem festen, scheitellosen Knoten an ihrem Hinterkopf. Sie wirkte sehr streng, müde und eigenbrödlerisch. Bedauerlicherweise war sie genau das. Harry erschreckte ihre Entwicklung und ihre zunehmende Distanz immer mehr.
„Du arbeitest zu viel.“, sagte er sachlich. Hermine zuckte ungeduldig mit den Schultern und wollte ihm ihre Hände wieder entziehen. „Einer muss es ja machen.“ Doch er ließ sie nicht los, hielt sie stattdessen nur noch fester und sah sie eindringlich an.
„Hermine, bitte. Komm wieder zu uns. Du hast Ginny, Luna, Neville und die anderen ewig nicht gesehen. Wir vermissen dich. Wir alle.“ Ihr Gesicht blieb ausdruckslos.
„Ich habe zu tun, Harry. Tut mir Leid.“ – „Das hast du auch letztes Jahr gesagt, und davor. Und bei meinem Geburtstag, und bei Ginnys Geburtstag.“
Sie seufzte und sah ihn an, doch es schien als würde sie durch ihn hindurch sehen.
„Hermine“, er startete einen letzten verzweifelten Anlauf, zu ihr durchzudringen.
„Wenn du dich zurückziehen willst, tu das. Zieh dich zurück, nimm dir Zeit für dich. So viel, wie du brauchst. Aber bitte stoß uns nicht weg.“
Als ihr Blick abschweifte und sie auf den Boden starrte, wie abwesend, rückte er noch ein Stück näher und hob ihre Hände leicht an.
„Hermine, ich bin’s! Stoß mich nicht weg.“
Doch sie reagierte gar nicht darauf, so als hätte sie ihn nicht gehört. Sie schien sich hinter einem dicken Fensterglas zu befinden. Er konnte sie zwar sehen, aber sie nahm ihn nicht wahr.
Harry fühlte sich schrecklich hilflos. All ihre Zuneigung, die sie einst füreinander empfunden hatten, schien verschwunden. Er wusste einfach nicht wie er zu ihr gelangen, wo er sie erreichen konnte. Plötzlich antwortete sie ihm, ohne eine sonstige Regung zu zeigen.
„So bin ich, Harry.“ Ihre Stimme war leise, erschöpft und völlig monoton.
„Ich bin jemand, der andere wegstößt.“ Ihre leeren Augen füllten sich mit Schmerz, der taube Blick noch immer auf den Boden gerichtet.
„Ron hab ich auch weggestoßen.“ Harry hörte, dass sich bei diesem Satz Tränen in ihrem Hals bildeten. Sie schluckte hart, bevor sie fort fuhr: „Wir haben uns all die Jahre fast nur gestritten. Ich war so gemein zu ihm. Und das letzte, was ich zu ihm gesagt hab, hab ich in Wut gesagt.“ Ihre Stimme wurde immer leise und letztlich von den aufkommenden Tränen erstickt.
Er wusste es. Ihm war völlig klar, warum sie den Orden mied und weshalb sie ununterbrochen, am Liebsten 24 Stunden am Tag arbeitete. Sie suchte Ablenkung. Wenn sie nichts zu tun hatte, musste sie an Ron denken und daran, dass er jetzt schon seit 5 Jahren tot war. Darüber war sie noch so traurig wie am ersten Tag. Egal, wie viel Zeit verging, sie entkam nicht aus diesem Strudel der Trauer. Noch dazu hatte sie wahrscheinlich viel zu viel Angst, bei einem Besuch des Ordens Snape zu begegnen. Nach dem Krieg hatte Harry anhand der Erinnerungen alles aufklären können und nach nd nach hatten sogar die Weasleys Severus Snape verziehen. Alle bis auf Molly, die ihn zwar duldete, jedoch weitgehend ignorierte. So weit würde Hermine es wohl niemals schaffen, sie hatte ja auch niemanden. Die Weasleys hatten einander, er hatte Ginny, Neville hatte Luna. Sie alle konnten ihr zwar ihre Hilfe anbieten, aber es wäre noch lange nicht das gleiche. Noch dazu hatte sie ihre Eltern noch immer nicht gefunden. Tatsächlich war es auch Harry, der sich um Mister und Misses Grangers Verbleib kümmerte. Hermine hatte gar nicht wirklich versucht, sie zu finden. Diese Tatsache schob sie immer auf ihren Job und darauf, dass sie ja so wenig Zeit hatte. Im Grunde wollte sie ihre Hilfe gar nicht. Nicht einmal die von Harry. Es tat ihm weh, sie so zu sehen. Sie suhlte sich regelrecht n ihrer Trauer und verkroch sich in der Vergangenheit, unfähig loszulassen und ihr Leben weiterzuleben. Sie war leer, sie stand am Abgrund. Völlig gelähmt.
I’ve become so numb
I can’t feel you there
Become so tired so much more aware
I’m becoming this all I want to do
Is be more like me and be less like you
“Es ist nicht deine Schuld, Hermine.”, versicherte er ihr und suchte vergeblich ihren Blick.
Doch davon wollte sie nichts hören, davon hatte sie nie etwas hören wollen. Sein Bild von der selbstbewussten, jungen talentierten Hexe verschwamm immer mehr, denn diese Hexe existierte nicht länger. Irgendwie war sie mit Ron gestorben. Dabei schien es noch gar nicht so lange her: Hermine war stark, schön, lebendig, fröhlich, hilfsbereit und voller Tatendrang. Heute saß eine Maschine vor ihm. Mechanische Bewegungsabläufe. Kalt und emotionslos.
Wo war sie? Wo war ihr Leben? Wo war ihre Phantasie, ihr helles Licht, ihre Hoffung? Wo war ihre Energie?
Can't you see that you're smothering me?
Holding too tightly, afraid to lose control
Cause everything that you thought I would be
Has fallen apart right in front of you
„Hermine, bitte. Du musst kommen…“ Da sprang sie plötzlich wie von der Tarantel gestochen auf, entriss ihm ihre Hände und hob abwehrend die Arme, als würde er mit seinem Zauberstab auf sie zielen.
„Ich sage dir doch, es geht nicht, Harry!“, rief sie aufgebracht. „Und jetzt geh bitte, ich habe noch zu tun!“ Er starrte sie völlig perplex an. Wieso war sie so empfindlich und so abweisend zu ihm? Langsam und vorsichtig erhob er sich, als würde er versuchen, ein scheues Tier nicht zu erschrecken. Sie ließ ihre Arme sinken und blickte auffordernd zur Tür. Doch er wollte es noch ein allerletztes Mal versuchen. „Wenn du dich immer weiter abschotterst, dann…“
„RAUS!“, schrie sie beinahe hysterisch und kam einen Schritt auf ihn zu, das Gesicht zu einer wütenden Grimasse verzogen. Harry wich erschrocken zurück und stieß mit den Beinen gegen den Stuhl. Es war sinnlos. Er musste erkennen, dass sie vollkommen abblockte und sich mehr und mehr vor ihm verschloss. Vor ihm! Der, der sie besser kannte, als sonst wer.
Enttäuscht wandte er sich, ab um zu gehen. Er öffnete die Tür, blieb jedoch stehen und schaute zurück. „Du bist nicht auf Malfoy Manor gestorben, Hermine!“, presste er hervor und verschwand.
Caught in the undertow just caught in the undertow
Every step that I take is another mistake to you
Caught in the undertow just caught in the undertow
And every second I waste is more than I can take
Hermine verkrampfte sich und ihr Körper zitterte vor Wut.
Sie war nicht auf Malfoy Manor gestorben? Nein, zumindest nicht vollständig. Aber ein Teil von ihr war zerfetzt worden und verrottete nun schon seit 5 Jahren elendig. Und keine Rettung in Sicht. Ron kam nicht zurück. Er war tot und sie hatte nicht einmal einen Ort, wo sie hätte hingehen und ihm gedenken können. Die Vorstellung, dass sein Skelett irgendwo herumlag, zuvor von Fliegen, Ratten und Maden übersäht. Oder, dass seine Asche sich über ganz Nordengland verteilte, zuvor elendig verbrannt unter beißendem Gestank.
Plötzlich überfielen sie der Horror und die Trauer gleichzeitig. Sie schrie auf, sank auf den Boden und brach in ein fürchterliches Geschluchze aus. Die heißen Tränen rannen ihr in Bächen die Wangen herunter und sie drückte verzweifelt ihre Hand auf den Mund.
Sie sank immer tiefer und rollte sich zu einer kleinen Kugel zusammen. Ihr Hals brannte und es gelang ihr einfach nicht, ihre Tränen zu stoppen. Sie war fertig, völlig am Ende.
And I know I may end up failing too
But I know you were just like me
With someone disappointed in you
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