von fiirvogel
Melody saß auf ihrem Bett, den Kopf über die Gitarre geneigt. Sie hatte die Stirn in Konzentration in Falten gelegt und blickte auf das Notenblatt, das vor ihr auf dem Bett lag. Da klopfte es und Hanna streckte den Kopf zur Tür herein. „Darf ich hereinkommen?“, fragte sie. „Oder störe ich dich?“
„Nein, kein Problem, komm herein.“
Melody legte die Gitarre auf ihr Kopfkissen und rückte etwas zur Seite, damit Hanna neben ihr auf dem Bett Platz nehmen konnte. Hanna blickte ihre Tochter lange wortlos an. Melody rutschte unter ihrem undeutbaren Blick nervös hin und her. „Was ist?“, fragte sie schließlich.
„Ich möchte mit dir sprechen“, antwortete Hanna. „Es gibt ein paar wichtige Dinge, die ich dir erzählen muss.“
Melody zog fragend die Augenbrauen hoch. Hanna suchte nach Worten. „Deine Mutter ...“, begann sie. „Nun, du weißt schon lange, dass Liz kurz nach deiner Geburt gestorben ist. Wir gehen ja jedes Jahr nach Bawburgh an ihr Grab ... Wir haben dir gesagt, dass sie schwer krank war ... Das stimmt nicht. Die Wahrheit ist, dass sie von bösen Zauberern getötet wurde.“
„Von bösen Zauberern?“ Melody verdrehte die Augen in gespieltem Entsetzen und sagte vorwurfsvoll: „Mama, ich bin kein kleines Kind mehr.“
Hanna sah Melody ernst an. „Das weiß ich, deshalb möchte ich dir ja auch die Wahrheit erzählen ...“, beruhigte sie Melody. „Hör mir bitte einfach zu. Die bösen Zauberer sind keine Erfindung von mir. Deine Mutter war eine Hexe, eine sehr talentierte sogar. Sie ging an die bekannteste Zauberschule der Welt. Sie wuchs – wir wuchsen in einer Zeit auf, in der die Zaubergemeinschaft von Schrecklichem überschattet war. Ein finsterer Magier hatte viele Gleichgesinnte um sich geschart. Sie nannten sich die Todesser, und ihr Ziel war es, die Zauberwelt von allem unreinen Zauberblut zu reinigen. Nach ihrem Schulabschluss machte deine Mutter die Auroren-Ausbildung und wurde eine Jägerin schwarzer Magier. Der Beruf war und ist sehr gefährlich, das wusste Liz. Es war wohl nicht zuletzt der Tod ihrer Eltern und ihres Bruders, der sie dazu bewogen hat, diesen Beruf zu wählen. Sie war eine gute Aurorin.
Nach dem Untergang von Dem-dessen-Namen-nicht-genannt-werden-darf hat sie zahlreiche Todesser aufgespürt und mitgeholfen, sie vor Gericht zu bringen, wo sie zur Rechenschaft gezogen wurden. Sie schaffte sich viele Feinde. Nicht alle Todesser wurden gefasst. Viele tauchten unter und sannen auf Rache. Liz war sich bewusst, dass sie in großer Gefahr schwebte. Sie wollte nicht, dass dir etwas zustieß, deshalb bat sie Tom und mich um Hilfe. Es fiel ihr unsäglich schwer, dich zu verlassen. Ich bat sie zu bleiben, sich bei uns zu verstecken, aber sie wusste, dass ihr schwarze Magier auf der Fährte waren und sie wollte uns nicht in Gefahr bringen. In den letzten zehn Jahren war es mehr oder weniger ruhig in der Zauberwelt. Doch seit einigen Monaten geht das Gerücht um, Der-dessen-Namen-nicht-genannt-werden-darf sei zurückgekehrt. Die schwarzen Magier sind seither wieder sehr aktiv. Bereits sind wieder Menschen ermordet worden oder verschwanden unter ungeklärten Umständen. Auch die Robinsons wurden von Todessern umgebracht, und es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis sie auch zu uns kommen.“
„Mama, es war eine Gasexplosion“, antwortete Melody ungeduldig.
Doch Hanna beharrte auf ihrer Version der Geschichte. „Sie wurden umgebracht.“
„Wieso sollten diese ... diese Typen denn die Robinsons umgebracht haben?“, fragte Melody verwirrt.
„Weil die Robinsons Squibs waren.“
„Squibs?“, fragte Melody verständnislos.
„Squibs. Das sind Zauberer, die nicht zaubern können. Es gilt als große Schande.“
„Und was hat das alles mit uns zu tun?“
Es war Hanna schrecklich peinlich, aber sie holte tief Luft und erklärte tapfer: „Ich bin auch ein Squib.“
Melody sah ihre Mutter an, als sei sie nicht mehr richtig bei Verstand. „Mama, was ist heute Abend nur mit dir los? Du benimmst dich sehr eigenartig.“
„Ich habe Angst, Melody. Ich habe das alles schon einmal erlebt, die Schikanen, die Verfolgungen, die Ermordungen. Ich will nicht, dass dir etwas zustößt. Deshalb habe ich mich heute Morgen in der Stadt mit meinem Cousin Remus Lupin getroffen.“
„Du hast einen Cousin?“, fragte Melody erstaunt.
„Ja. Er ist ein Zauberer. Wir hatten während vieler Jahre keinen Kontakt, aber er kam sofort, als ich ihn um Hilfe bat. Er kann dich nach Hogwarts bringen. Dort bist du in Sicherheit.“
„Was?“, rief Melody empört und sprang auf. Ihre Augen blitzten gefährlich. „Du willst mich einfach einem wildfremden Mann mitgeben?! Ich fasse es nicht! Und wohin soll ich bitte schön gehen?“
„Nach Hogwarts. An die Zauberschule“, antwortete Hanna. Sie stand ebenfalls auf und legte beruhigend ihre Hand auf Melodys Arm. „Melody, es tut mir Leid, das hätte ich schon viel früher machen sollen. Du gehörst nach Hogwarts. Du bist eine Hexe.“
Melody wusste nicht, ob sie schockiert oder beleidigt sein sollte. Sie hatte schon oft gehört, sie sei eine Hexe, es hatte nie etwas Gutes bedeutet. Tom schimpfte sie eine Hexe, wenn um sie herum Dinge geschahen, die nicht geschehen durften. Die Kinder an der Schule nannten sie manchmal abschätzig eine Hexe, weil sie anders war.
Hanna reichte Melody einen Umschlag und strich ihr eine widerspenstige Strähne aus dem Gesicht.
„Was ist das?“, fragte Melody trotzig, doch nach kurzem Zögern öffnete sie den Umschlag. Darin lagen ein gutes Dutzend 50-Pfund-Scheine. Melody sah Hanna mit großen Augen verständnislos an. „Geld?“, fragte sie. „Mama, was soll ich mit dem ganzen Geld machen?“
„Nun, du wirst Schuluniform, Bücher und so brauchen“, erklärte Hanna.
„Ich ...“ Melody suchte nach Worten. Schließlich atmete sie tief durch und erklärte so ruhig und bestimmt sie konnte: „Mama, ich gehe da nicht hin. Ich gehe an keine Schule für Hexen.“
„Du bist eine Hexe, Melody, wie deine Mutter. Ich hätte dir beibringen sollen, stolz darauf zu sein, aber ich konnte es nicht. Es tut mir Leid.“
Melody hielt den Atem an und sah ihrer Mutter fassungslos in die Augen. Sie machte keine Witze, das sah sie ihr an. Sie meinte es tatsächlich ernst. Es dauerte einige Zeit, bis diese Erkenntnis durch Melodys Panzer von Vernunft gedrungen war und sich in ihrem Innersten eingenistet hatte – ein Gefühl von Übelkeit. Sie schüttelte immer wieder den Kopf und sah sich in ihrem Zimmer um, als befürchtete sie, ihre ganze Umgebung könnte sich nun in Luft auflösen. Doch nichts geschah, die Möbel wirkten so solide in ihrer Konsistenz wie immer. Sichtlich erleichtert darüber richtete Melody den Blick wieder auf ihre Mutter und fragte: „Und mein Vater? War er etwa auch ein Zauberer oder war er – normal?“
Hanna wich Melodys Blick aus und antwortete nicht.
„Ist er wirklich tot, oder habt ihr mich auch in diesem Punkt angelogen?“
Hanna gab immer noch keine Antwort.
„Lebt mein Vater noch?“ Melodys Stimme hörte sich nun einen Tick dringlicher an.
Hanna schwieg.
Melody packte sie am Arm und bat sie inständig: „Mama, bitte, ich – muss – es – wissen! Es ist wichtig für mich. Wenn er noch lebt, dann kann ich vielleicht zu –“.
In dem Moment hörte man im Erdgeschoss eine Explosion. Die Wände bebten. Hanna wurde kreidebleich. Sie hielt Melody, die auf den Korridor hinausrennen wollte, zurück, packte sie an den Schultern und sah ihr tief in die Augen. „Melody, ich will, dass du jetzt aus deinem Fenster steigst und dich in den Hintergärten versteckst“, beschwor sie sie. „Du darfst nicht bleiben. Ganz egal, was geschieht, du kommst erst wieder hervor, wenn Tom oder ich dich suchen kommen ... Oder Remus.“
Melody wollte fragen, wie Remus denn aussah, doch Hanna hatte sich bereits umgedreht und die Tür hinter sich zugezogen. Melody blieb alleine in ihrem Zimmer zurück. Ihr Herz raste, sie spürte, wie Adrenalin durch ihre Adern pulsierte. Vorsichtig öffnete sie die Türe wieder und schlich zur Treppe. Auf halbem Weg die Treppe hinunter erstarrte sie: ein Schrei zerriss die Stille. Er ging Melody durch Mark und Bein.
Durch die Wohnzimmertür sah sie drei Männer in schwarzen Umhängen. Hanna hing kopfüber in der Luft und flehte um Gnade. Tom lag sonderbar verrenkt auf dem Boden und wälzte sich in offensichtlich grausamen Qualen wimmernd hin und her. Melody wollte schreien, aber ihre Kehle war wie zugeschnürt, und es kam nur ein ersticktes Keuchen. Der Mann, der am nächsten bei der Türe stand, schnellte herum und sah zu ihr hinauf. Seine Augen glitzerten hinter Kapuzenschlitzen; mehr konnte Melody von seinem Gesicht nicht erkennen. Sie erwachte aus ihrer Erstarrung, machte kehrt und rannte die Treppe hinauf. Zurück in ihrem Zimmer schlug sie die Türe zu. Sie hatte gerade das Fenster erreicht, als die Tür mit einem Knarren wieder aufsprang. In Zeitlupe drehte sich Melody um. Vor ihr stand der große Maskierte, der sie auf der Treppe entdeckt hatte. Er hielt einen schlanken Holzstab in der rechten Hand und kam langsam näher.
„Miss Rohan, richtig?“, fragte eine gedehnte Stimme. „Oder soll ich dich Miss Cartney nennen? Ich kannte deine Mutter, weißt du. Du gleichst ihr sehr.“
Melody brachte kein Wort heraus, ihre Stimme gehorchte ihr nicht mehr. Kein Teil ihres Körpers schien ihr zu gehorchen: Sie stand mitten in ihrem Zimmer und konnte sich nicht bewegen.
„Ich habe noch eine Rechnung offen mit deiner Mutter, weißt du? Ich dachte schon, sie würde es mir schuldig bleiben, aber nun ...“
Melody kämpfte gegen die Starre an, in der sie sich befand. „Was wollen Sie von mir?“, fragte sie mit einer Stimme, die nicht viel mehr als ein heiseres Flüstern war.
„Nur meinen Spaß haben“, antwortete die gedehnte Stimme kühl. Ohne jede Vorwarnung deutete er mit dem Stab auf sie und krächzte: „Crucio!“
Melody schrie auf. Es waren Schmerzen, wie sie noch nie welche erfahren hatte. Es fühlte sich an, als würde ihr Schädel gespalten und ihre Arme und Beine vom Körper gerissen. Es schien kein Ende mehr zu nehmen. Gerade als sie das Gefühl hatte, das Bewusstsein zu verlieren, ließen die Schmerzen wieder nach. Melody lag auf dem Boden. Ihr Kopf hämmerte unerbittlich, ihre Arme und Beine zitterten unkontrolliert. Es dauerte eine Weile, bis sie wieder aufstehen konnte. Ihre Glieder schmerzten. Melody biss auf die Zähne und zog sich an ihrem Bett hoch. Unsicher schwankend stand sie da.
Der Maskierte beobachtete sie regungslos. Schließlich lachte er trocken und fragte: „Das hat weh getan, nicht wahr? Aber das war erst der Anfang. Ich habe die ganze Nacht Zeit. Irgendwann wirst du mich bitten, dich zu töten.“
Er wartete, bis sich sein Opfer etwas erholt hatte, dann richtete er den Stab mit einem hämischen Lachen wieder auf sie. „Cru –“
Es geschah im Bruchteil einer Sekunde. Melody spürte eine Welle blanker Panik in sich aufsteigen, sie hörte nur noch das Hämmern ihres Herzens und ein unheimliches Rauschen in den Ohren. Sie wollte schreien, aber es kam kein Ton heraus. Stattdessen taumelte der Maskierte plötzlich nach hinten. Er prallte mit dem Kopf hart gegen die Schranktür und sank zu Boden. Die blassblauen Augen starrten Melody immer noch durch die Kapuzenschlitze an, doch er rührte sich nicht mehr. Melody blickte einen Augenblick wie versteinert auf ihren Peiniger, dann drehte sie sich um und öffnete mit zittrigen Fingern das Fenster. Sie kletterte auf das Fensterbrett und sprang. Der Boden war aufgrund des anhaltenden Dauerregens der letzten Tage matschig und aufgeweicht. Melody trat schräg auf; ein brennender Schmerz durchzuckte ihr Fußgelenk. So schnell sie konnte hinkte sie geduckt durch den Garten bis zur Grundstückgrenze, kroch zwischen den nassen Büschen hindurch, durchquerte den nächsten Garten, kletterte über eine Mauer. Sie blieb erst stehen, als sie vier Gärten zwischen sich und ihrem Zuhause gelassen hatte. Dann sank sie hinter einem Busch zusammen und hielt sich den schmerzenden Kopf.
Als Remus am nächsten Mittag vor Hannas Haus stand, war es nur noch ein rauchendes Gerippe. Die Polizei hatte das Grundstück abgesperrt. Schaulustige drängten sich auf dem Quartiersträßchen vor der Brandruine.
„Sie sind tot“, hörte Remus eine alte Frau ihrer Kollegin zuraunen. „Sie haben sie vorhin aus dem Haus getragen. Die Tochter haben sie nicht gefunden.“
„Eine Gasexplosion soll es gewesen sein“, flüsterte die zweite Frau zurück. „Aber ich habe in der Nacht schreckliche Schreie gehört.“
„Sie waren doch mit den Robinsons befreundet. Das ist bestimmt kein Zufall.“
„Vielleicht hatten sie etwas mit der Mafia zu tun.“
Remus belegte sich mit einem Nichtbeachtungszauber und stieg über die Absperrbänder hinweg. Er ging um die Brandruine herum und sah sich im Garten um. Von Melody war keine Spur zu sehen. Vorsichtig betrat er das Haus oder das, was davon noch übrig war, und sah sich suchend um. „Melody?“, fragte er leise. „Melody, bist du hier?“ Er bekam keine Antwort. Remus war ratlos, er konnte nicht mehr tun als warten.
Er wartete lange. Es begann schon fast einzudunkeln, als er hinter sich ein Geräusch hörte. In einer einzigen fließenden Bewegung zog er seinen Zauberstab und schnellte herum.
Ein Mädchen stand im leeren Türrahmen; sie hielt einen Schürhaken in der Hand und zuckte heftig zusammen, als sie den Zauberstab sah, der auf sie gerichtet war.
Remus ließ seinen Zauberstab sofort sinken. „Melody?“
„Was wollen Sie?“, fragte das Mädchen mit tonloser Stimme. Sie war zweifellos der Teenager auf dem Foto, und doch kaum wiederzuerkennen. Die Haare klebten ihr in schmutzigen Strähnen im Gesicht. Gras oder Blätter hingen darin. Sie hatte die Stirn gefurcht und biss so stark auf die Zähne, dass ihre Wangenknochen sich deutlich abzeichneten. Sie hatte Rußflecken im Gesicht und blickte ihn mit fiebrigen Augen an. Sie trug nasse, schmutzige Kleider und war barfuss.
„Mein Name ist Remus Lupin. Ich bin ...“
„Mama hat von Ihnen erzählt“, schnitt ihm Melody das Wort ab und musterte ihn misstrauisch. Sie hustete und zog die Nase hoch. Lange sagte keiner von beiden ein Wort. Dann machte Remus eine hilflos Geste, deutete auf die Überreste des Hauses, in dem sie standen, und flüsterte: „Es tut mir Leid. Es tut mir so Leid, Melody.“
Es war, als fiele die Anspannung der letzten Stunden mit Remus’ Worten von dem Mädchen ab. Sie ließ den Schürhaken sinken, schwankte leicht und sank auf den Boden. Remus durchquerte den Raum in drei großen Schritten und nahm ihr den Schürhaken aus der kraftlosen Hand. Dabei fiel ein zerknittertes Foto mit versengten Rändern zu Boden, das Melody die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte. Remus nahm es auf und betrachtete es. Er erkannte Hanna und ihre beste Freundin Liz. Sie waren etwa in Melodys Alter. Liz trug die Schuluniform von Hogwarts, Hanna ein Sommerkleid. Die beiden hatten sich die Arme um die Schultern gelegt und grinsten den Fotografen kokett an.
Professor Severus Snape ging in seinem Büro auf und ab. Er fand keine Ruhe. Das Gespräch mit Dumbledore am Vortag und die unglaubliche Geschichte, die Lupin ihm aufgetischt hatte, mahlten in seinem Kopf herum. Er, Severus Snape, sollte eine Tochter haben. Was im Namen der Gründungsväter von Hogwarts sollte er mit einem Kind anfangen! Er war kein Vater, er wollte nie einer sein. Kinder passten nicht in seinen Lebensplan. Damals nicht und heute nicht.
Und was um alles in der Welt hatte sich Liz nur dabei gedacht, das Kind bei Hanna zu lassen?! Bei dem Gedanken, dass ein Kind von ihm, sein Fleisch und Blut, bei einem Muggel und einer Squib aufgewachsen war und mit dreizehn Jahren noch keinen einzigen Zauber zustande gebracht hatte, wurde ihm übel. Was für eine Schande! Er hätte das nie zugelassen, wenn er von der Existenz seiner Tochter gewusst hätte. Er ärgerte sich und war etwas beleidigt. Wieso hatte Liz ihm nichts von ihrer Schwangerschaft gesagt?! Er hätte ein Recht darauf gehabt zu erfahren, dass sie schwanger war, und mit zu entscheiden, was mit dem Kind geschehen sollte, fand er ... Doch eine leise, hartnäckige Stimme in seinem Kopf sagte ihm, dass er lieber nicht wissen wollte, wie er damals auf eine solche Neuigkeit reagiert und was er gesagt hätte.
Severus war froh, dass Dumbledore mit ihm einig war, dass diese überraschend aufgedeckte Beziehung zwischen ihm und Miss Rohan vor allen, allen voran vor Miss Rohan selber, geheim gehalten werden musste. Ein Kind würde seine Aufgabe als Spion in den Reihen des Dunklen Lords gefährden, würde ihn angreif- und erpressbar machen. Zudem würde es Miss Rohan in unnötige Gefahr bringen: Der Dunkle Lord betrachtete die Kinder seiner Getreuen automatisch auch als seine Untergebenen. Severus war erleichtert, dass niemand erfahren sollte, dass er Vater war: das bewahrte ihn davor, eine Rolle einnehmen zu müssen, die er nie gewollt hatte und die er nicht bereit war anzunehmen. Er konnte Miss Rohan so behandeln wie alle seine Schüler: mit distanzierter Herablassung.
Erleichtert über diesen Gedanken setzte sich Severus an seinen Schreibtisch, um endlich die Essays seiner Schüler in Angriff zu nehmen. Er hatte sich während des Abendessens diskret in der Grossen Halle umgesehen, doch er hatte weder ein neues Gesicht noch Lupin entdecken können. Na gut, er würde Miss Rohan sicher früher oder später kennen lernen. Lieber später als früher, dachte er verärgert, immerhin war ihr unerwartetes Auftauchen in seinem Leben der Grund, weshalb er am Vorabend gerade mal einen Text zu korrigieren im Stande gewesen war. Schwungvoll tauchte er seine Feder in das Fässchen mit roter Tinte und nahm sich das zweite Schüleressay vor, als es klopfte.
Severus hasste es, bei der Arbeit gestört zu werden, und entschlossen, das den Störenden deutlich wissen zu lassen, rief er genervt: „Herein!“
Lupin streckte den Kopf zur Tür herein. Severus’ Augen verengten sich. „Was willst du?“, knurrte er unwirsch.
Lupin schien einen Moment zu zögern, dann trat er ein und zog die Türe hinter sich zu. „Störe ich?“, fragte er mit einem Blick auf den Stapel Essays.
„Ja“, war die knappe Antwort.
„Ich wollte nur rasch Bescheid geben. Ich war heute in Rickmansworth.“
Severus hob gelangweilt eine Augenbraue.
„Ich kam zu spät“, fuhr Lupin fort. „Die Todesser waren bereits gestern Abend dort gewesen. Das Haus war komplett ausgebrannt, als ich kam. Hanna und Tom sind tot.“
„Und Miss Rohan?“
„Deine Tochter schläft im Krankenflügel. Ich habe sie hierher gebracht.“
Seine Tochter. Die Art, wie Lupin das Wort betonte, passte Severus gar nicht. Demonstrativ gleichgültig meinte er frostig: „Gut. Dann darf ich mich jetzt wieder meiner Arbeit zuwenden?“
„Entschuldigung, ich dachte, es interessiert dich.“ Lupin klang gereizt.
Severus seufzte ungeduldig und stellte die Frage, die Lupin offenbar von ihm erwartete: „Was fehlt ihr?“
„Nichts Lebensbedrohendes“, antwortete Lupin. „Sie hat sich den Knöchel verstaucht und ist erkältet. Etwas Fieber hat sie auch. Sie stammelte wirres Zeug, während Madam Pomfrey sie untersuchte, wohl aufgrund des Schocks. Madam Pomfrey hat ihr einen Schlaftrunk verabreicht.“
„Hm.“
„Dumbledore will uns morgen nach dem Frühstück in seinem Büro sehen.“
„Will er?“, knurrte Severus. „Und was soll ich da?“
„Es geht um die Zukunft von Melody“, antwortete Lupin und schien nun allmählich verärgert. „Könntest du vielleicht ein bisschen mehr Interesse zeigen?“
Severus nervte die maßregelnde Art, in der Lupin mit ihm sprach. Kühl und mit leichtem Sarkasmus in der Stimme bemerkte er: „Du passt offensichtlich wunderbar in die Rolle des Vaters.“
„Ich habe mir diese Rolle nicht ausgesucht“, gab Lupin zurück. „Ich habe keine Ahnung von Kindern. Aber irgendjemand muss ihr doch helfen. Du hättest sie sehen sollen ...“ Und als Severus keine Anstalten machte, darauf etwas zu erwidern, drehte er sich mit einem kurzen „Schönen Abend“ um und verließ den Raum. Die Tür fiel empfindlich laut ins Schloss. Der Zaubertränkemeister schnaubte wütend und tauchte zum zweiten Mal an diesem Abend die Feder in die rote Tinte.
Es war lange nach Mitternacht, als Severus die Marmortreppe in den ersten Stock hinaufstieg. Es hatte lange gedauert, bis er sich resigniert und immer noch leicht verärgert eingestanden hatte, dass er nicht würde schlafen können, bevor er nicht im Krankenflügel gewesen war.
Hoffentlich schlief Madam Pomfrey. Severus wollte nicht wissen, was die Schulheilerin sagen würde, wenn sie ihn um Mitternacht im Krankenflügel am Bett einer ihrer Patientinnen erwischte. Leise öffnete er die große Flügeltüre und zog sie wieder hinter sich zu. Milchiges Mondlicht fiel durch die Fenster. Severus bewegte sich wie ein Schatten durch den Raum. Er trat an das Bett, in dem Madam Pomfreys zurzeit einzige Patientin lag und blickte auf das schlafende Kind hinunter. Was er dabei empfand und was ihm durch den Kopf ging, blieb hinter seiner steinernen Miene verborgen. Er stand lange reglos da, dann drehte er sich abrupt um und verließ den Krankenflügel genauso leise, wie er ihn betreten hatte.
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