von mia.winchester
„Ich sag dir eins, Sammy,“ grummelte Dean Winchester, als er seine spärlich bepackte, zerschlissene Ledertasche vom Gepäckband hob. „Den Rückweg schwimme ich.“
„Jetzt stell dich nicht so an.“, entgegnete Sam. „Der Flug war halb so schlimm. Es gab keinerlei Turbulenzen, ich bitte dich.“
„Turbulenzen! Das wär's ja noch gewesen!“, schnauzte Dean seinen jüngeren Bruder an. „Als wäre das mit dem besessenen Pilot vor ein paar Wochen nicht genug gewesen. Natürlich müssen wir gleich noch einen drauf setzen und den ganzen verfluchten Ozean in so einem Höllengefährt überqueren.“
Sam seufzte entnervt. Seitdem sein Bruder ihn vor knapp zwei Monaten aus dem Collegeleben zurück in die Welt gerissen hatte, aus der er so angestrengt zu entkommen versucht hatte, war es für ihn an der Tagesordnung, Deans Launen zu ertragen. Nicht selten fragte Sam sich, ob nicht er der Ältere war. Während Dean allein über den Anblick eines frisch gebackenen Apfelkuchens den Verstand verlor, behielt Sam selbst in den heikelsten Situationen alle Sinne beieinander. Trotzdem musste er sich eingestehen, dass sein großer Bruder der bessere Jäger war. Schließlich hatte er sein Leben lang auch nicht anderes gemacht. Während Sam mit seiner verlorenen Kindheit hatte abschließen wollen, war Dean in die für ihn vorgesehenen Fußstapfen ihres Vaters getreten und zu einem stattlichen, eigensinnigen Jäger gereift. Dass er versuchte, Sam unter seine Fittiche zu nehmen und weiterzubilden, konnte dieser ihm nicht übel nehmen. Selbst, wenn er, wie Dean es zugeben musste, ein Naturtalent war. Es lag eben in der Familie.
„Wir sind ja jetzt erstmal da.“, beruhigte Sam einen großen Bruder. „Also beruhige dich.“
Dean nickte. „Ich bin ruhig.“, log er, und warf Sam die seine Tasche zu. Diese war, im Gegensatz zu der von Dean, aus ordentlichem, fleckenfreien Stoff, neu gekauft, und bis zum Rand mit Büchern und frischen Hemden vollgestopft.
„Schottland.“, sagte Dean kopfschüttelnd. „Haben die keine eigenen Jäger hier? Oder sind die zu beschäftigt damit, in Röcken rumzulaufen?“
„Nimm es doch als Kompliment.“, sagte Sam. „Dieser Rolf hätte sicherlich jemand Anders fragen können. Stattdessen hat er uns angerufen.“
„Falsch.“, sagte Dean. „Er hat Dad angerufen.“
„Dad.“, zischte Sam. Dean hob prüfend die Brauen.
„Pass auf, was du sagst.“, warnte Dean seinen kleinen Bruder.
John Winchester, der Vater der beiden jungen Männer, war einer der im Geschäft der Geisterjagd bekanntesten Männer. Seit einigen Monaten war er nicht von der Jagd zurückgekehrt, weswegen es Dean nach einer langen Zeit ohne Kontakt zu Sam überhaupt wieder zu diesem getrieben hat. Die Annahme, dass John nach jenem grauenvollen Dämon jagte, der den frühen Tod seiner Frau Mary, der Mutter der Brüder, verschuldet hatte, lag nahe. Dennoch gab es über lange Zeit kein Lebenszeichen von ihm. Zumindest bis vor drei Tagen eines von Deans zahlreichen Telefonen geklingelt und sich, mit schottischem Akzent, ein gewisser Rolf Scamander am anderen Ende der Leitung gemeldet hatte.
„Spreche ich da mit Dean Winchester?“, hatte er unsicher gefragt.
„Ja.“, hatte Dean gesagt. Er hatte Sam, der auf dem Beifahrersitz von Deans parkenden 67er Chevy Impala eingeschlafen war, wachgerüttelt, um dass dieser das Telefonat mitanhören konnte.
„Ihr Vater hat mich zu Ihnen weitergeleitet.“, hatte der Schotte erklärt. „Mein Name ist Rolf Scamander. Ich bin ein Jäger und ich brauche Ihre Hilfe.“
„Was meinen Sie damit, unser Vater hat Sie zu uns weitergeleitet?“, hatte Dean forsch gefragt. Es lag nicht allzu lang zurück, dass sie als erstes Lebenszeichen ihres Vaters nach langer Zeit eine Mailboxnachricht auf dessen Nummer gehört hatten, in denen er Anrufer zu seinem Sohn Dean verwies.
„Haben Sie mit ihm gesprochen?“, hatte Dean weiter gefragt. Seinen Vater zu finden und ihm bei der Jagd des schrecklichen Dämons mit den gelben Augen zu helfen war Deans Hauptziel.
„Ja.“, hatte Rolf gesagt. „Er hat mir außerdem gesagt, dass ich Ihnen keinerlei Informationen über das Gespräch an sich geben soll, sondern lediglich über den Fall selbst.“
„Wenn das so ist, ist die Sache für mich erledigt.“, hatte Dean schroff und voller Enttäuschung entgegnet. Wieso wollte sein Vater nicht, dass er ihn fand? Wieso dieses Versteckspiel? Wieso telefonierte er mit Fremden, aber nicht mit seinen eigenen Söhnen? „Guten Tag.“
„Halt!“, hatte Rolf in den Hörer gebrüllt. „Bitte legen Sie nicht auf, Mr Winchester.“
„Was?“, hatte Dean gedonnert. „Sie geben mir keine Informationen, ich gebe Ihnen keine Hilfe. Ganz einfach.“
Sam hatte Dean angestupst und ein stummes „Reiß dich zusammen“ mit den Lippen geformt. Sam war um einiges enttäuschter von seinem eigenen Vater als Dean, allein wegen der leidigen Vorgeschichte, die ihn erst aus dem Schoß der Jägerfamilie getrieben hatte. Doch wenn Dean John wirklich finden wollte, musste er einen klaren Kopf bewahren. Darin war der emotionale ältere Bruder nie gut gewesen.
„Bitte!“, hatte Rolf am anderen Ende der Leitung gefleht. „Ich weiß nicht, was zwischen Ihnen und Ihrem Vater vorgefallen ist, aber ich brauche Ihre Hilfe. Wirklich ganz dringend.“
Dean hatte entnervt geseufzt und dann hatte ihm der verzweifelt wirkende Schotte den Fall erklärt: Seit geraumer Zeit verschwanden ungewöhnlich viele Menschen nachts aus ihren Betten, ohne jegliche Spur.
„Sogar, oder vor allem Muggel verschwinden. Das ist ja das Problem.“, hatte Rolf gesagt.
„Was?“, hatte Dean nachgefragt, aber Rolf war nicht weiter darauf eingegangen. Stattdessen hatte er Dean nahezu angefleht, im bei der Sache zu helfen. „Die Jäger in Schottland sind gut, aber es sind wenige. Und sie wissen nicht mal etwas von... Nun, das tun Sie auch nicht, aber das kann man ja ändern. Muss man ändern. Die Umstände erfordern drastischere Maßnahmen und John wäre sicherlich meine erste Wahl gewesen, da dieser aber nun mal nicht da ist, bitte ich Sie, mir zu helfen.“
Am Ende hatte Dean sich tatsächlich dazu überreden lassen, nach Schottland zu reisen.
„Dir ist schon klar, dass wir fliegen müssen, oder?“, hatte Sam mit einem hämischen Grinsen im Gesicht gesagt.
„Verdammt!“, hatte Dean gestöhnt. Er hatte sich gerade noch zurückhalten können, seinem Auto zuliebe nicht auf das Lenkrad zu schlagen.
Und nun standen sie am Flughafen in Glasgow und warteten darauf, in der Menge eilig umherirrender Menschen einen Mann zu erkennen, den sie als Rolf Scamander identifizieren konnten.
„Meinst du, er trägt einen dieser karierten Röcke für Männer?“, witzelte Dean. „Und hat einen roten Bart und einen Dudelsack umgehängt?“
„Sei nicht albern.“, entgegnete Sam. „Als ob hier irgendjemand wirklich so rumläuft. Das ist bloß ein Vorurteil. Wir Amerikaner ernähren uns doch auch nicht ausschließlich von Hamburgern und sehen den ganzen Tag Oprah.“
Dean lächelte wie ein kleiner Junge. „Oh, glaub mir, wenn ich könnte, wie ich wollte, würde ich diesem Vorurteil bis ins letzte Detail entsprechen.“
Eine Weile standen die ungleichen Brüder einfach nur dort, unbewegt in der hektischen Menschenmasse, bis sich das Lächeln auf Deans Gesicht ausbreitete und er Sam viel zu fest in die Seite stieß.
„Hey, Sammy!“, sagte er und musste sich ein Lachen verkneifen. „Du hattest Recht, er trägt keinen Rock. Er trägt ein verdammtes Kleid.“
Sams Blick irrte umher und blieb schließlich an einem hochgewachsenen Mann in einer langen, dunklen Kutte hängen, der nicht weit entfernt von ihnen in der Menge stand und ein Plakat mit der Aufschrift WINCHESTER, in schiefen Druckbuchstaben, in die Luft hielt. Er war jünger als Dean ihn sich durch seine raue Stimme am Telefon vorgestellt hatte, und hätten sich die jungen Männer über so etwas Gedanken gemacht, hätten sie sich eingestehen müssen, dass er wirklich gutaussehend war. Abgesehen von dem seltsamen Umhang natürlich. Er hatte hellblaue Augen und dunkles, wirres Haar. Sein Gesicht war von einem ernsten, aber irgendwie leidendem Ausdruck. Je näher Sam und Dean ihm kamen, umso jünger schien er zu werden. Und als sie vor ihm standen wussten sie, dass er kaum älter als fünfundzwanzig sein konnte, und damit in etwa in Deans Alter.
Auf irgendeine Art und Weise machte Dean das wütend. Er hatte sich die Arbeit mit einem alten, verwirrten Jäger im Kilt wesentlich leichter vorgestellt als das, was ihm nun bevorzustehen schien: Eine Kooperation mit einem viel zu gut aussehenden jungen Mann, der sich aufgrund der Tatsache, dass er in Schottland wohnte und sich schon länger mit dem Fall auseinandersetzte, sicherlich noch als Chef aufspielen würde. Das wollte Dean sich auf gar keinen Fall gefallen lassen. Als er schließlich nahe genug bei Rolf war, um ihn zu begrüßen, legte er also all seine Kraft in den Händedruck.
„Schön, dass Sie da sind.“, sagte Rolf gefasst. Er schien sich aus der Altersgeschichte nichts zu machen. „Wirklich, vielen Dank.“
„Nichts zu danken.“, sagte Sam und reichte Rolf die Hand. Er schüttelte sie ganz locker und lächelte freundlich. Rolf war ihm gleich symphatisch, wenn sein Erscheinungsbild auch leicht irritierend war.
„Besonders Ihnen rechne ich ihr Erscheinen hoch an.“, sagte Rolf an Dean gewandt. „Ihr Vater erwähnte, Sie haben schreckliche Flugangst?“
„Bitte, duzen wir uns doch.“, warf Sam ein. Rolf nickte.
„Dean, dein Vater meinte, du hast Flugangst?“, wiederholte er dann.
Dean kniff verärgert die Augen zusammen. Jetzt sprach dieser aufgeblasene Kleidträger auch noch mit ihm, als würden sie sich schon Jahre kennen. „Dad übertreibt gerne.“, sagte er knapp und warf Sam einen vernichtenden Blick zu. Dieser lächelte nur.
„Also, kommt ihr?“, fragte Rolf und begann, sich den Weg durch die Menge zu bahnen. „Ich habe Haggis gekocht, ein schottisches Traditionsgericht. Ihr könnt bei mir auspacken und erstmal eine Runde schlafen.“ Seine raue Stimme übertönte die Durchsagen der Fluggesellschaft.
„Oh je.“, stöhnte Sam leise.
„Was?“, fragte Dean forsch. „Was ist Haggis zum Teufel?“
„Herz, Leber und Lunge vom Schaf, mit Zwiebeln und Mehl als Pudding im Magen des Tiers serviert.“, erklärte Sam mit angewiderter Stimme. „Guten Appetit.“
Dean verzog das Gesicht. „Nie im Leben esse ich das. Und schon gar nicht von diesem blasierten Idioten.“
„Stell dich nicht so an. Ein bisschen wirst du ja wohl davon probieren können.“, zischte Sam. „Wenn er extra für uns gekocht hat. Er scheint sich wirklich Mühe zu geben.“
„Bist du verliebt in ihn?“, bellte Dean sarkastisch. „Ich hoffe nur, es gibt in Schottland genug Fastfood-Restaurants. Dann können wir unterwegs schnell an einem Drive-In halten und ich haue mir den Magen mit Burgern voll, sodass kein Platz mehr für Hagger ist.“
„Haggis.“, korrigierte Sam ihn. „Du vergisst, dass wir mit Rolf fahren, Dean. Wir werden wohl kaum an einem Drive-In halten können. Dein Auto steht am Flughafen in Tucson.“
„Verdammt.“, knurrte Dean. „Ich will nach Hause.“
Sam seufzte. Der Gedanke daran, dass er seit dem Tod seiner Freundin gar kein wirkliches zu Hause mehr hatte, überkam ihn mit einer schmerzlichen Traurigkeit. Und auch Dean war, wenn überhaupt, nur in seinem Auto zu Hause, mit dem er Tag und Nacht über die Straßen Amerikas rauschte. Die Brüder schliefen in Motels und waren ständig auf der Reise. Heimatlose, verlorene und vom eigenen Vater verstoßene Söhne, die nicht nur Dämonen, sondern etwas viel Größerem nachjagten. Was genau das war, konnte weder Sam noch Dean wirklich sagen. Sam für seinen Teil war allerdings auf eine dankbare Art und Weise froh, für die Zeit in Schottland ein festes Dach über dem Kopf zu haben, und, selbst wenn es die Innereien eines Schafes waren, zum ersten Mal seit Jahren ein extra für ihn gekochtes Essen.
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