von mia.winchester
Es war dunkel, als Dean aufwachte. Er sah auf die Uhr und stellte fest, dass es halb elf war. Wahrscheinlich war Rolf gerade erst zu Bett gegangen. Die Zeitverschiebung zerrte an Dean, er war hellwach. Sam im Bett neben seinem schlief noch. Wie so oft flammte das Gesicht des sechsjährigen Sams vor Deans Gesicht auf. Schon damals hatte er immer auf ihn aufpassen müssen. Diesen Beschützerinstinkt konnte Dean in keiner Sekunde unterdrücken, selbst, wenn er sich eingestehen musste, dass Sam inzwischen zu einem selbstständigen und erschreckend klugen jungen Mann herangewachsen war. Wie er dort ausgestreckt lag und beinahe das ganze Bett einnahm, groß wie er war, musste Dean schmunzeln.
„Mensch, Sammy.“, murmelte er.
Er wusste nicht genau, was er tun sollte und beschloss, erst einmal ein Bad aufzusuchen, um zu duschen. Das war genau das, was er jetzt brauchte. Obwohl er es nach all den Jahren gewöhnt war, kam er sich immer schmuddelig vor, wenn er in den selben Sachen einschlief, die er den ganzen Tag über getragen hatte. Also griff er sich aus seiner Ledertasche eines seiner zwei Wechselshirts und frische Boxershorts und trat dann hinaus auf den Flur. Statt von gewöhnlichen Lampen, wurde dieser von Kerzen an den vergilbten Wänden beleuchtet. Im Vorbeigehen fiel Deans Blick wieder auf das Bord mit den Zauberstäben. Sie sahen so fein geschnitzt und verarbeitet aus, dass er sich vorstellte, wenn er einen von ihnen griff, könne er damit tatsächlich zaubern.
Kopfschüttelnd unterdrückte er den kindlichen Drang, nach ihnen zu langen, und suchte stattdessen die Türen von außen nach einem Hinweis auf das Badezimmer ab. Und tatsächlich, am Ende des Flurs bedeutete ein kleines, altmodisches Porzellanschild mit der Aufschrift LAGUNE , das sich dahinter das Badezimmer befand. Dean drückte leise die Klinke hinunter und fand sich in einem großräumigen, frisch gefliesten Palast von Bad wieder. Die Modernität dieses Raumes wollte ganz und gar nicht zum Rest des vollgestellten, alten Hauses passen, aber Dean hieß die gläserne Dusche in der Mitte des Raumes durchaus Willkommen. Kaum, dass er eintrat, entzündeten sich die Kerzen an dem Deckenleuchter von selbst. Erschrocken wich Dean zurück. Ihr Glimmen tauchte das moderne Bad in ein unheimliches Licht. Trotz des Schrecks entledigte Dean sich seiner Kleidung und trat unter den warmen Wasserstrahl der Dusche.
„Willkommen im Bates Motel.“, flüsterte er, um sich selbst bei Laune zu halten. Er duschte und stellte überrascht fest, dass Rolf sogar Shampoo mit seinem Lieblingsduft, Kokosnuss, besaß.
Und auch das Handtuch, mit dem der Jäger sich schließlich abtrocknete, entsprach genau seiner Vorstellung von weich. Es war sogar vorgewärmt. Ohne Skrupel bediente sich Dean dann noch an dem Aftershave, das überhaupt nicht brannte, und an dem Parfum auf dem Bord über dem Waschbecken, das so gut roch, dass er sich von oben bis unten damit besprühte.
Er zwinkerte zufrieden seinem Spiegelbild zu und wollte gerade zu der Kommode laufen, auf der er seine frische Kleidung bereitgelegt hatte, als ihm plötzlich das Herz stehen blieb.
Geschockt schnappte er nach Luft. Er griff instinktiv an seinen Rücken, doch natürlich hatte er keine Waffe dabei, um sich gegen das zu wehren, was ihn so erschreckt hatte: Dort, vor der Kommode, stand ein kleines, verschrumpelt aussehendes Wesen mit riesigen Glupschaugen und Fledermausohren und es starrte Dean entgeistert an.
„Heilige Scheiße!“, fluchte er. Noch nie hatte er ein solches Wesen gesehen. Er überlegte nicht lange.
Er eilte zurück zum Waschbecken und griff nach dem Rasiermesser auf der Ablage. Gekonnt schleuderte er es nach dem Wesen, doch ehe sich die scharfe Klinge in dessen Fleisch bohren konnte, schnipste es und verschwand. Es löste sich einfach in Luft aus.
„Sehr lustig!“, knurrte Dean. „Komm zurück, du Feigling!“
Doch nichts regte sich. Er wirbelte herum, griff sich das zu Boden gefallene Rasiermesser und schaute in jede Ecke des Badezimmers. Nichts.
„Na klasse.“, brüllte Dean. „Ich wusste, dass hier was faul ist!“
Dann lief er hinaus, stürmte durch den Flur und riss die Tür zu seinem und Sams Zimmer auf.
„Sam, wach auf!“, brüllte Dean. Sein Bruder richtete sich erschrocken im Bett auf.
„Dean, was ist los?“, fragte er.
„Ich habe eben geduscht“, erklärte Dean, während er in Rage die abgesägte Schrotflinte aus seiner Ledertasche zog.
„Das sehe ich.“, sagte Sam und wies Dean mit einem prüfenden Blick darauf hin, dass er noch immer nur mit einem um die Hüften geschlungenen Handtuch bekleidet war.
„Verdammt.“, zischte Dean. „Jedenfalls dusche ich, in diesem supermodernen Bad, mache mich... fertig und so weiter und so fort. Und dann drehe ich mich um und dieses Ding steht vor mir.“
„Was für ein Ding?“, fragte Sam und setzte sich auf seine Bettkante.
„Keine Ahnung!“, donnerte Dean. „So was habe ich noch nie gesehen! Ging mir etwa bis zur Hüfte. Riesige Ohren und Augen wie Fußbälle. Scheißhässlich, wenn du mich fragst. Und es hatte eine Toga aus Gardinenstoff an oder so.“
„Hat es dich angegriffen?“, hakte Sam besorgt nach.
„Nein.“, gab Dean zu. „Es stand nur da. Aber glaub mir, es wollte mich angreifen. Ich hab ein Messer nach ihm geworfen, aber es hat sich in Luft aufgelöst. Ich gehe jetzt zurück ins Bad und warte darauf, dass es wieder kommt. Und dann knall ich es ab.“
„Dean!“, warnte Sam. „Warte auf mich, ich komme mit.“
Er stellte sich mit aller Mühe auf die Beine und trottete hinter Dean her hinaus in den Flur, schnurstracks auf die Tür an dessen Ende zu.
„Eigentlich will ich nur zurück ins Bett.“, gähnte er. „Ich brauche dringend noch mehr Schlaf.“
Vor der Tür hielten die Brüder kurz inne, dann drückte Sam die Klinke hinunter. Dean stürmte an ihm vorbei hinein. Und erlitt sogleich den nächsten Schock.
„Was zur Hölle?“, rief er.
Statt in einem Badezimmer standen er und Sam nun in einem luxuriösen Schlafzimmer, das größtenteils von einem riesigen, von zahlreichen Kissen bedeckten Himmelbett eingenommen wurde.
„Hast du nicht gesagt, hier wäre das Badezimmer?“, fragte Sam entgeistert. Sehnsüchtig blickte er auf das einladend wirkende Bett. Wenn er sich doch nur hineinlegen und einfach weiterschlafen könnte... Das wäre genau das, was er jetzt brauchte.
„Ja, das dachte ich auch!“, sagte Dean. „Es gibt doch nicht noch ein Geschoss, oder?“
„Nein.“, sagte Sam. „Die Treppe führt nur nach hier. Es sei denn, du bist schlafgewandelt und-“
„Ach Quatsch!“, unterbrach ihn Dean. „Ich war in diesem Raum hier. Und als ich drin war, war es ein Badezimmer.“
Trotzdem öffneten die Brüder dann jede andere Tür auf dem Flur. Sie fanden ein unordentliches Büro vor, ein weiteres Gästezimmer, einen kleinen Raum voller Bücher, die unten keinen Platz gefunden hatten, einen Raum, der wie ein hauseigenes Museum aussah, da er mit ausgestopften Tieren zugestellt war ( in ihrer Hektik erkannten Sam und Dean nicht, dass dies unter anderem Tiere waren, die ganz sicher nicht in gewöhnlichen Lexika verzeichnet waren ), und sogar das große Schlafzimmer von Rolf selbst, doch er lag nicht im Bett. Schließlich fanden sie am Anfang des Flures ein Badezimmer, doch es war nicht das, was in dem Dean zuvor gewesen war.
„Das ist es nicht.“, erklärte er. „Das hier passt wenigstens zum Rest des Hauses.“ Angewidert deutete er auf die abbröckelnden Fliesen und den zerbrochenen Spiegel an der Wand.
„Das Bad, in dem ich war, war total modern und einfach schick.“, fuhr er fort. „Es gab sogar Kokosnuss-Shampoo.“
„Dein Lieblingsduft.“, bemerkte Sam.
Dean schnaubte. „Das kann doch nicht wahr sein. Ich bin doch nicht blöd, Sammy. Ich habe mir das doch nicht eingebildet.“
„Natürlich nicht.“, sagte Sam. „Ich meine, sonst hättest du wahrscheinlich auch noch was an.“
Wieder ärgerte sich Dean darüber, dass er nur im Handtuch bekleidet durch das Haus stürmte. „Klasse. Meine Sachen lagen in dem Bad. Und das ist jetzt mit ihnen verschwunden oder was?“
Wutentbrannt stampfte er auf die Tür mit dem Porzellanschild zu. Darauf stand immer noch LAGUNE.
„Ich will meine Sachen wieder haben!“, brüllte Dean und drückte die Klinke hinunter. Und erschreckte sich ein drittes Mal.
„Das kann doch nicht wahr sein!“, hörte er Sam im Hintergrund sagen.
Dean stützte sich am Türrahmen ab. „Was soll das?“, keuchte er.
Hinter der Tür befand sich kein Bad, und auch kein Schlafzimmer mehr. Dort war lediglich ein kleiner, begehbarer Kleiderschrank, bis zum obersten Regalbrett vollgestopft mit weißen T-Shirts und Boxershorts, wie die, die Dean im Bad hatte liegen lassen.
„Da hast du deine Sachen.“, murmelte Sam entgeistert.
„Das reicht mir.“, sagte Dean wütend. „Wo ist Rolf?“
Er wollte nach unten stürmen und ihren seltsamen Gastgeber zur Rede stellen, doch Sam hielt ihn zurück.
„Dean“, sagte er und lachte. „Wo wir schon mal dabei sind-“ Er deutete auf den Kleiderschrank.
„Oh, na klar.“, sagte Dean und lächelte ertappt. „Ja. Erstmal anziehen.“ Er drückte Sam die abgesägte Schrotflinte in die Hand und ging in den Kleiderschrank, um sich endlich etwas anzuziehen.
Sam nickte und drehte sich um, um schon einmal runter zu gehen und nach Rolf zu suchen. Ihm war ganz mulmig zumute. Wo gab es schon Räume, die ihr Innerstes änderten, sobald man die Tür schloss? Was stimmte nicht mit diesem Haus und vor allem mit seinem Besitzer? Langsam begann Sam zu glauben, dass Rolfs Eigenartigkeit weit über seltsames Essen und nicht vorhandene Fahrkünste hinausging. Entweder das, oder er und Dean drehten vollkommen durch.
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