von mia.winchester
Die Nacht brach über die verlassenen Straßen von Schottland ein. Der Himmel zog sich zu, schwarze Quellwolken schoben sich vor die Sonne und bald fanden sich Rolf, Sam und Dean in völliger Dunkelheit wieder. Die schwachen Lichter des klapprigen alten Wagens flackerten.
Bald jedoch fuhren sie durch ein dicht besiedeltes Gebiet, zwischen deren eng beieiander stehenden Häusern sich zahlreiche Menschen tummelten. Es war Wochenende und in Dumbarton tingelten die Bewohner von Kneipe zu Kneipe.
„Die sehen normal aus.“, bemerkte Dean, der nun langsamer fuhr. Auf den einsamen Straßen hatte er das alte Auto bis an seine Tempogrenzen getrieben.
„Was hast du erwartet?“, entgegnete Rolf. Während er zu Beginn der Fahrt noch geschlafen hatte, war er spätestens seit dem Stopp beim Diner hellwach. Dean und Sam ahnten, dass dies daran lag, dass er Luna gesehen hatte.
„Na ja. Spitzhüte, lange Umhänge mit Stehkragen.“, witzelte Dean.
Rolf stieß entnervt die Luft aus. Dean überhörte ihn, aber Sam drehte den Kopf und sah ihn prüfend an. Rolf nickte ihm besänftigend zu und Sam drehte sich wieder um.
„Hier rechts.“, warf Rolf nach einer Weile Fahrt durch eine schwach beleuchtete Gasse und Dean gehorchte ihm. Sie fuhren auf eine Anhöhe und kamen schließlich vor einem Reihenhaus zu stehen.
„Ihr seid wirklich hinterlistig.“, bemerkte Dean, als er neben Rolf und Sam vor der Haustür der Binsons stand. „Lebt hier inmitten von unwissenden, wie nennt ihr sie noch gleich,- Muggeln.“
„Es gibt auch Dörfer, die hauptsächlich von Zauberern bewohnt sind.“, erklärte Rolf und drückte auf die Klingel. „Aber die Binsons scheinen es vorzuziehen, in einer größeren Stadt mit den Muggeln zusammen zu leben. Ich finde das übrigens bemerkenswert. Unheimlich tolerant.“
Dean sah Rolf schief an, öffnete den Mund, als wolle er etwas sagen, doch dann schwang die Tür auf und eine dünne, kleine Frau mittleren Alters trat hinaus.
„Wer sind Sie?“, fragte sie an die drei Männer gewandt.
Normalerweise hatten Dean und Sam für diese ihnen so oft gestellte Frage gefälschte FBI-Ausweise parat, aber Mrs. Binson war der amerikanische Spezialpolizeidienst sicherlich kein Begriff. Also übernahm Rolf.
„Guten Tag, Mrs. Binson, mein Name ist Rolf Scamander und das sind Sam und Dean Winchester.“, stellte er sich und seine Begleiter vor. Er reichte Mrs. Binson die Hand, doch sie nahm nicht an. Ihr Blick wanderte von Sam zu Dean und zurück. Fragend sah sie Rolf an.
„Ja.“, beantwortete er ihre stumme Frage. „Muggel. Aber sie wissen Bescheid. Es sind Jäger.“
„Jäger?“, fragte Mrs. Binson.
„Wenn wir kurz reinkommen dürften...“, schlug Rolf vor, doch Mrs. Binson schüttelte energisch den blondierten Haarschopf.
„Was wollen Sie überhaupt von mir?“, fragte sie mit lauter Stimme.
„Es geht um ihren Mann.“, erklärte Rolf.
Mrs. Binsons Gesicht wurde kreideweiß. Ohne weitere Fragen zu stellen, trat sie beiseite und gewährte den Fremden Einlass.
So dünn wie Mrs. Binson war, so dick war der kleine Junge, der Sam, Dean und Rolf im Wohnzimmer des elegant eingerichteten Hauses erwartete. Er ähnelte einem Apfel, kugelrund mit roten Wangen und einer glänzenden Stirn. Doch seine dunklen Knopfaugen sahen traurig aus, und um den Hals trug er einen dicken Schal. Er wirkte kränklich.
„Was zieht der für ein Gesicht?“, fragte Dean seinen Bruder leise. „Ist die Schokolade alle?“
Diese Frage klärte sich allerdings von selbst. Der Junge griff eine eckige Packung aus seinem Schoß, öffnete sie und nahm mit kräftigem Griff einen schokobraunen Frosch hinaus, der sich in seinen Wurstfingern wand, ehe er ihn mit einem Happen verschlang.
Dean stand der Mund offen und Sam schüttelte ungläubig den Kopf.
„Das ist Mavis.“, stellte seine Mutter den Jungen vor. „Er ist erkältet und kann nicht sprechen. Ist aber selbst Schuld.“
„Wieso?“, fragte Rolf, überrascht vom schroffen Ton, den Mrs. Binson plötzlich anschlug.
„Er weigert sich vehement, sich beim Schlafen zuzudecken.“, sagte sie. „Und wenn ich sein Zimmer lüften will, fängt er an, wie ein Irrer zu schreien. Als provoziere er es, krank zu werden. Jetzt hat er es geschafft. Meine Freundin Betsy meinte, es wäre vollkommen normal, dass Kinder nach Verlusten sehr eigene Verhaltensweisen an den Tag legen, aber Mavis spricht ja nicht mal mit mir. Ich weiß nicht, wie ich ihm helfen soll.“
Der Junge schien seiner Mutter nicht zuzuhören, wie sie über ihn sprach, als säße er nicht mit im Raum.
„Vielleicht“, fuhr Mrs. Binson fort, „kann ja einer von Ihnen bei ihm bleiben und der Rest von uns bespricht sich in der Küche. Ich möchte ihm nicht zu viel zumuten. Wie Sie sehen, hat das Verschwinden seines Vaters ihm schon genug zugesetzt.“
Rolf und Sam nickten und gingen hinter Mrs. Binson in die Küche. Ohne ihn gefragt zu haben, schienen sie beschlossen zu haben, Dean bei Mavis zu lassen.
Sam wusste, dass Dean gut mit Kindern konnte. Erst vor kurzem hatte er durch einen Fall, bei dem es um einen Geist in einem See ging, Freundschaft mit einem verstummten Jungen geschlossen. Vielleicht war es Deans später Wunsch nach einer eigenen Kindheit. Dass die Brüder statt mit Fußbällen schon im Grundschulalter mit tatsächlichen Pistolen geschossen hatten, war einer der Gründe gewesen, warum Sam sein früheres Leben hinter sich hatte lassen wollen. Doch er konnte seiner Bestimmung nicht entkommen. Hier stand er, im Hause einer Hexe, mit den ständigen, quälenden Gedanken an seine Vision vom Tod seiner Freundin, und war drauf und dran, einen Fall zu klären, der für die Leute, die mit ihm zur Uni gegangen waren, einfach unvorstellbar wäre. Da konnte er Dean verstehen, dass er sich insgeheim in seine Kindheit zurückwünschte. Wenn die Brüder in Motels schliefen, wurde Sam nachts oft von Deans Lachen geweckt, weil dieser sich wieder Cartoons ansah. Neben dem Skin Channel und Casa Erotica war Cartoon Network Deans Lieblingsprogramm.
Trotzdem rümpfte er die Nase, als Sam ihn schulterzuckend ansah und in die Küche ging.
„Toll.“, grummelte Dean, als sein Bruder die Tür hinter sich schloss. Er ließ sich in den Sessel gegenüber von Mavis sinken und sah ihn eindringlich an, ehe er ihn fragte:
„Also, Mavis, wie geht’s dir?“
Vielleicht könnte er es schaffen, über den Jungen etwas über das Verschwinden seines Vaters herauszubekommen. Vielleicht würde er sich ja wirklich ganz gut mit ihm verstehen.
„Wie soll's mir gehen du Idiot?“, fragte Mavis. Für ein vorschulkindliches Aussehen hatte er eine erschreckend tiefe Stimme.
Dean verzog das Gesicht.
„Nimm erstmal den Amerikaner aus dem Mund und sprich dann mit mir.“, meckerte Mavis. Dean ballte die Hände zu Fäusten. Ihn wegen seinem Akzent anzugiften sah dem Schotten ähnlich. Er selbst klang nicht viel besser.
„Wow, du bist ja ein wirklicher Sonnenschein.“, bemerkte Dean mit falschem Lächeln.
„Komm mir nicht so.“, knurrte Mavis. „Die komische Frau hat auch schon versucht, auf die Kumpeltour zu kommen.“
„Welche komische Frau?“, hakte Dean nach. Er hoffte sehr, dass er mit seiner Vorahnung falsch lag.
„Die, die vorhin hier war. Was weiß ich. Wieso sollte ich dir das erzählen?“ Mavis machte ein Gesicht, das an einen Wasserspeier aus Hogwarts erinnerte und öffnete die nächste Schockofroschpackung. Die lebende Süßigkeit glitt ihm fast aus der Hand, doch er schaffte es, sich auch diesen Frosch mit einem Happs einzuverleiben.
„Gesunder Appetit.“, bemerkte Dean. „Also. Welche Frau?“
Mavis stöhnte entnervt, steckte einen Finger nach dem Anderen in den Mund, um die Schokolade daran abzulecken und sagte dann: „Luna Lovegood. Eine Freundin von Harry Potter. Die Alte hat 'ne gewaltige Klatsche, sag ich dir.“
Dean presste die Lippen aufeinander. Natürlich. Luna. Wer sonst. Diese Frau raubte ihm noch den letzten Nerv! Wie hatte sie es geschafft, nach ihnen das Diner zu verlassen und trotzdem früher bei Mrs. Binson zu sein? Zauberei vermutlich. Doch, so oder so- wieso schien sie jeden Schritt, den Dean, Rolf und Sam machten, schon gemacht zu haben?
„Verdammt.“, grummelte Dean.
„Was ist los?“, hakte Mavis nach. „Kennst du die Etwa? Würde mich nicht wundern. Du scheinst auch nicht von der besonders hellen Sorte zu sein.“
„Sagt das Kind einer Familie, die ihren Lebensunterhalt mit der Herstellung lebendiger Süßigkeiten verdient. Kreativ, Kürbiskopf, muss ich schon sagen.“, spottete Dean, obwohl er insgeheim zu gerne von den Schokofröschen gekostet hätte.
Mavis murmelte ein Schimpfwort, das Dean Gott sei Dank überhörte und keiner von beiden sagte mehr etwas.
„Also.“, sagte Rolf. „Mrs. Binson, was können Sie uns über das Verschwinden ihres Mannes sagen?“
Mrs. Binson rieb sich mit den Händen die Wangen, seufzte und sagte dann: „Ich habe die ganze Geschichte schon gefühlte hundert Mal erzählt.“
„Aber keinen Jägern.“, fuhr Rolf fort.
„Was bitte soll das für einen Unterschied machen? Was jagen sie überhaupt?“, fragte Mrs. Binson.
„Geister, Dämonen,... So ein Zeug.“, erklärte Sam.
„Dämonen?“, keuchte Mrs. Binson.
„Ja.“, sagte Rolf. „Normalerweise kreuzt diese Art Geschöpf nicht die Wege der uns bekannten magischen Wesen. Aber, wie sie es als Nachbarin von Muggeln selbst am Besten wissen, manchmal verwischen die Grenzen. Eigentlich eine gute Sache, nur nicht, wenn es sich um Wesen aus der Hölle handelt.“
„Also gibt es die Hölle wirklich?“, fragte Mrs. Binson.
Rolf nickte. Sam schluckte schwer. Der Gedanke an die Hölle, mit Feuer, Hitze, tödlicher Glut, machte ihm schreckliche Angst.
„So ähnlich habe ich reagiert, als ich erfuhr, dass Zauberer und Hexen friedlich unter uns leben.“, sagte er, um sich von seinen Gedanken abzulenken und Mrs. Binson ein wenig zu beruhigen.
„Also meinen Sie, mein Mann ist in der Hölle?“, fragte sie schrill.
„Nein.“, sagte Rolf. „Wir haben noch keinerlei Anhaltspunkte für das, was hinter dem Verschwinden ihres Mannes und all der Anderen steht, aber wir sind drauf und dran, es herauszufinden und hofften, dass Sie uns vielleicht einen Hinweis geben können, eine Vermutung, irgendetwas, was uns weiterbringt.“
„Denn das Verschwinden geht weiter und wir müssen es unterbinden.“, sagte Sam selbstsicher.
„Nun.“, sagte Mrs. Binson. „Mehr als das, was ich dem Tagespropheten und den Auroren und all den Anderen gesagt habe, kann ich Ihnen auch nicht sagen. Tut mir Leid.“
Rolf nickte. „Gut.“, sagte er leise.
„Nicht gut.“, warf Sam ein.
Mrs. Binson schüttelte den Kopf. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. „Es tut mir wirklich Leid. Ich wünschte, ich könnte irgendetwas sagen, was irgendjemanden auf irgendeine Idee bringt, was dahinterstecken könnte, dass mein Mann verschwunden ist. Ich will ihn einfach zurückhaben, oder zumindest wissen, wo er ist und was mit ihm geschehen ist. Er war einfach nicht mehr da. Ich konnte mich nicht von ihm verabschieden, nichts.“
Rolf streckte den Arm aus, um Mrs. Binson sanft über die Schulter zu streichen. Beinahe fegte er die Teekanne vom Küchentisch, doch Sam schaffte es rechtzeitig, sie festzuhalten. Er musste lächeln bei dem Anblick des fürsorglichen Rolfs und stellte fest, dass er trotz seiner sehr speziellen Art wirklich ein guter Mensch sein musste.
Mrs. Binson griff ein Taschentuch aus ihrer Schürzentasche und tupfte sich die blassgrünen Augen trocken.
„Und Mavis...“, sagte sie. „Mavis ist vollkommen verändert. Ich konnte es eben vor ihm nicht sagen, aber ich glaube, dass er etwas weiß.“
„Sie meinen...?“, hakte Rolf nach und nahm die Hand wieder von Mrs. Binsons knochiger Schulter.
„Ich meine, ich glaube, er hat in der Nacht von Frederics Verschwinden vielleicht etwas gesehen.“, hauchte Mrs. Binson.
„Sie gehen davon aus, weil er sich seitdem so seltsam verhält?“, hakte Sam nach. Er hoffte, dass Dean im Wohnzimmer vielleicht etwas Bedeutendes von Mavis erfuhr.
Mrs. Binson nickte. „Als ich am Morgen danach in Mavis' Zimmer nach ihm sehen wollte, war seine Tür verschlossen. Ich öffnete sie mit einem Zauber. Er hatte Boxen vor den Türspalt gestapelt und sich im Bett verkrochen. Allerdings ohne Decke. Die hat er in der Nacht aus dem Fenster geschmissen, ehe er es geschlossen und mit Schnürsenkeln zusätzlich gesichtert hat.“
Sam und Rolf hörten aufmerksam hin, warfen sich einen verwunderten Blick zu und atmeten beide tief ein, ehe Sam fragte:
„Kann ihr Sohn nicht zaubern?“
Mrs. Binson presste die Lippen aufeinander. „Ich fürchte Nein.“, gab sie leise zu. „Er hat bisher noch keinerlei Anzeichen von magischen Fähigkeiten gezeigt. Vielleicht ist er ein Squib. Frederic wollte es nie wahrhaben, aber ich habe den Verdacht schon länger.“
„Mein Onkel Romolus war auch ein Squib.“, erzählte Rolf. „Er war ein super Golfer.“
Mrs. Binson schenkte Rolf einen verachtenden Blick und wischte sich an ihrer Schulter über die Stelle, die er gestreichelt hatte. Sam ahnte, dass es ihr gar nicht gefallen würde, wenn ihr Sohn tatsächlich keine magischen Kräfte hätte. Er fühlte sich daran erinnert, dass auch er gegen den Willen seines Vaters gehandelt hatte, als er aufs College gegangen war, und bekam Mitleid mit Mavis. Rolf sagte nichts mehr. Mit der rüden Geste hatte Mrs. Binson ihn mundtot gemacht.
„Nun ja.“, sagte er, um die plötzlich angespannte Situation ein wenig aufzulockern. „Vielleicht gehen wir einfach nochmal ins Wohnzimmer rüber. Eventuell hat Dean ja etwas von dem Jungen erfahren.“
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