von mia.winchester
Die Nacht brach herein, und nachdem Luna, wie ein stummes Freundschaftsangebot in der kleinen Küchenzeile ein spärliches Abendbrot mit dampfend heißem Tee gekocht hatte, verzog sich Sam als erster in eines der Schlafzimmer. Wie immer musste er sich dieses mit Dean teilen, es sei denn, Rolf würde sich gleich bei Luna einnisten. Es war belustigend, mitanzusehen, wie er den ganzen Abend über den Blick nicht von der jungen Hexe hatte nehmen können. Egal, was sie gesagt hatte, er hatte bestätigend genickt und gelächelt, doch wenn sie ihn angesehen hatte, hatte er beschämt den Kopf gesenkt. Sam hatte versucht, bei der sich sehr wahrscheinlich anbahnenden Romanze nicht allzu sehr an sich und Jessica zu denken. Er hatte nie angezweifelt, dass sie seine große Liebe gewesen war. Doch jetzt war sie tot.
Sam schloss die Tür hinter sich, lehnte sich an das kühle Holz und atmete tief durch. Er brauchte Schlaf, ganz dringend. Selbst, wenn die Furcht vor nahenden Alpträumen ihm einen eiskalten Schauer über den Rücken trieb, streifte er sich sein Shirt vom Körper und ließ er sich längs auf das breite Bett am Fenster fallen. Sam vergrub sein Gesicht in den Daunen, schloss die Augen und atmete den muffigen Duft der Laken ein, bis die Müdigkeit ihn vollends übermannte und er einschlief.
Sofort fand er sich auf einer verlassenen Landstraße wieder. Sam war sich bewusst, dass er träumte. Über luzide Träume hatte er schon gelesen. Man war sich während des ganzen Traumes über bewusst, dass das Geschehen nicht real war, und außerdem in der Lage, es zu steuern. Sam vernahm ein leises Geräusch, das ihn aufschrecken ließ. Er wirbelte herum, doch die Straße war einsam und leer. Gesäumt von tiefen, dunklen Wäldern sah sie nicht anders aus als eine der Straßen, die Sam mit seinem Bruder Tag für Tag, Nacht für Nacht entlangfuhr. Doch etwas war anders. Sam fühlte sich beobachtet. Er wirbelte herum und entdeckte schließlich ein schwarzes, dünnes Tuch aus dem Wald schweben. Nur einige Zentimeter über dem Boden kroch es auf ihn zu. Sam wusste sofort, dass es ein Letifold sein musste.
Er begann, zu rennen. Schneller, als er es im wirklichen Leben je könnte, setzte er einen Fuß vor den Anderen, rannte, rannte immer weiter die Straße entlang, doch sie nahm kein Ende und der Letifold flog dicht an seinen Fersen wie ein tödlicher Fliegender Teppich hinter ihm her. Wie konnte er sich gegen diese Kreatur wehren? Nicht einmal ein Gesicht hatte sie.
Plötzlich erkannte Sam eine Gestalt nicht fern von sich inmitten auf der Straße stehen. Je näher er ihr kam, umso deutlicher konnte er ihr Gesicht erkennen. Es war John Winchester.
„Dad!“, rief Sam. „Hilf mir!“
Obwohl er wusste, dass der Letifold ihm in Wirklichkeit nichts anhaben konnte, wollte er selbst im Traum nicht erleben, wie es sich anfühlte, von jenem Wesen getötet zu werden. Sam hatte verstanden, wieso Mrs. Binson so schockiert und abwehrend auf die These, ein Letifold stecke hinter dem Verschwinden ihres Mannes, reagiert hatte. Hatte ihn wirklich ein Letifold geholt, so war die Wahrscheinlichkeit, dass er noch lebte gleich Null.
„Tut mir Leid, Sammy.“, sagte John drehte sich um. „Aber da musst du alleine durch.“
Sam versuchte angestrengt, den Traum abzuwenden, doch John verschwand in der Dunkelheit und ließ Sam zurück. Sam spürte, wie es immer wärmer und wärmer wurde. Und dann legte sich das heiße Lebende Leichentuch auf ihn, drückte ihn zu Boden. Sam schlug um sich, er kämpfte, doch er hatte keinen Einfluss mehr auf den Traum. Kurz bevor ihm der Atem ausging, erwachte er.
Die Wärme, die er gespürt hatte, war die warme Morgensonne gewesen, die durch das Fenster am Bett auf seine Haut geschienen hatte. Sam war trotz allem schrecklich erleichtert, unversehrt im Bett in der Hexenhütte zu liegen. Er faltete seine Hände auf seinem kräftigen Brustkorb und sah an die hölzerne Decke.
Erst jetzt bemerkte er den leisen, stetigen Atem in seiner Nähe, drehte den Kopf und sah Dean im Bett an der Wand. Auf dem Bauch, mit einem Arm auf den Boden hängend, lag er da und schlief. Sein Gesicht hatte den Ausdruck eines kleinen Kindes, das grimmig ins Bett gegangen war. Sam wusste, dass Dean sich enorm an Luna störte, auch, wenn er nicht ganz verstand, wieso. Klar war eine der obersten Regel für Jäger, niemandem als sich selbst zu vertrauen. Nicht einmal dem eigen Fleisch und Blut sollte man glauben, konnte doch jederzeit ein Dämon in die körperliche Hülle des Vaters oder Bruders fahren. Aber Luna schien wieder besessen noch eine Lügnerin zu sein. Einzig und allein ein wenig neben der Spur war sie. Bevor Sam ins Bett gegangen war, hatte sie begonnen, ihn davon überzeugen zu wollen, dass er ganz dringend die Schlickschlupfe in seinem Kopf loswerden musste. Doch Sam wusste, dass auch Dean sich darüber im Klaren sein musste, dass Luna keine Gefahr darstellen würde. Trotzdem verhielt er sich ihr gegenüber fast genau so abweisend wie Rolf gegenüber. Sam führte den absurden Gedanken, dass Dean sich vielleicht wie Rolf in Luna verguckt hatte, nicht zu Ende.
Plötzlich klopfte es an der Tür.
Sam richtete sich auf.
Luna steckte ihren Kopf durch den Türspalt und sah ihn mit ihren großen Augen an.
„Guten Morgen.“, begrüßte sie ihn langsam.
Sam zog sich die Decke vor seinen entblößten Brustkorb, aber Luna beachtete seinen muskulösen Oberkörper nicht für eine Sekunde.
„Es gibt Frühstück.“, sagte sie seelnruhig. „Ich habe im Wald einige Beeren gefunden und die Vorratsschränke müssen von anderen Jägern erst eine Woche zuvor gefüllt worden sein. Daher habe ich Obstkuchen gemacht.“
„Obstkuchen?“
Deans schläfrige Stimme zog Lunas Aufmerksamkeit auf sich.
„Guten Morgen, Dean.“, sagte sie freundlich.
„Du bist ja immer noch hier.“, grummelte Dean und grub sein Gesicht in die Matratze. „Geh weg.“
„Dann willst du keinen Obstkuchen?“, fragte sie.
„Noch jemand, der mir sein verwunschenes Essen andrehen will.“, knurrte Dean. „Mir hat Winky gereicht.“
Doch sein Magen knurrte und er wusste, dass er sich nicht länger wie ein nörgelnder kleiner Junge anstellen durfte. Zumindest nicht, was das Essen anbelangte. Denn es sah nicht aus, als würde es in den Wäldern um Windy Gates ein McDonalds oder eine Filiale von Uncle Sam's geben würde geben.
„Rolf und ich warten in der Küche.“, erklärte Luna und nickte den Brüdern lächelnd zu.
Sie schloss die Tür hinter sich und die Winchesters zogen sich rasch frische Kleidung an.
„Jetzt heißt es schon Rolf und ich.“, grummelte Dean. „Da haben sich ja zwei gefunden.“
„Eifersüchtig?“, witzelte Sam.
„Quatsch.“, knurrte Dean. „Aber Rolf ist ein verdammter Idiot und Luna... Gut. Sie ist auch nicht ganz klar im Kopf. Soll mir auch egal sein.“
„Ist es aber nicht.“, sagte Sam.
„Halt die Klappe, Sammy.“, knurrte Dean und öffnete die Tür so kraftvoll es nur ging. Sie flog beinahe aus den Angeln. „Kommst du? Sonst esse ich den Obstkuchen alleine.“
„Das tust du sowieso.“, murmelte Sam, schüttelte den Kopf und freute sich, dass der Morgen auf diese lustige Art begonnen hatte. Vielleicht würde es ja ein guter Tag werden, so ganz allein im Wald voller Bäume, durch deren Kronen sich das herrliche Frühsommerlicht brach.
Nach dem köstlichen Frühstück verschwand Rolf in seinem Schlafzimmer und kehrte nach einigen Minuten mit einem ernsten Gesicht an den Frühstückstisch zurück.
„Hier.“, sagte er und knallte sämtliche Bücher, Notizblöcke und Karten auf die Tischplatte. „Das ist alles, was ich über Letifolde gesammelt habe. Es ist wenig, aber es dürfte reichen.“
Dean und Sam griffen sich sofort etwas aus den Unterlagen und begannen, darin zu lesen.
„Ein Problem gibt es allerdings.“, sagte Rolf.
„Ja?“, hakte Sam nach.
„Nirgends gibt es auch nur den kleinsten Hinweis darauf, wie wir die Teile tot kriegen.“, antworte Rolf und sog scharf die Luft ein.
„Es gibt nichts, was ich noch nicht tot bekommen hab.“, sagte Dean mit einem selbstgefälligen Lächeln.
„Dean.“, sagte Rolf überraschend harsch. „Du vergisst, dass dies eine andere Art von Kreatur ist, als die, mit denen du sonst zu tun hast. Jene magische Wesen sind fernab von Himmel und Hölle. Salz hilft nicht, und exorzieren können wir einen Letifold ganz bestimmt auch nicht.“
„Hast du's schon mal probiert?“, keifte Dean. „Hast du?“
Rolf öffnete den Mund, als wolle er etwas sagen, doch er sog nur scharf die Luft ein. Stille trat ein. Plötzlich aber weckte ein lautes Donnern die Jäger und Luna aus der unangenehmen Spannung.
„Da ist er!“, trällerte Luna und schwebte zum Fenster hinüber.
„Wer?“, fragten Dean und Rolf gleichzeitig.
„Eine Eule.“, bemerkte Sam trocken.
Soeben war eine kleine, weiße Schleiereule gegen die Fensterscheibe der Hexenhütte geflogen. Das laute Donnern war das Geräusch ihres gegen das Glas knallenden Körpers gewesen.
„Autsch.“, machte Dean. „Armes Ding.“
Luna öffnete das Fenster und hob die Eule behutsam vom Fensterbrett auf. Um den Fuß hatte das feingliedrige Tier die zusammengerollte Ausgabe des aktuellen Tagespropheten.
„Darf ich vorstellen?“, sagte Luna und barg die Eule in ihren blassen Armen. „Freddie.“
Freddie berappelte sich und versuchte, die zarten Flügel auszustrecken, doch Luna hielt ihn sanft fest.
„Das ist eine besonders seltene Art von Schleiereulen.“, sagte Rolf leise und stand auf, um Freddie aus der Nähe zu begutachten. „Ein Albino.“
„Ganz recht.“, sagte Luna. „Schau mal, er hat beinahe hellblaue Augen.“
Rolf beugte sich über die Eule in Lunas Armen und liebkoste den fedrigen Kopf mit feinfühligen Fingern. „Oooh.“, machte Rolf ganz angetan.
„Kommt schon!“, rief Dean, der ohne Regung sitzen geblieben war. Selbst, wenn er Freddie beinahe doppelt so niedlich fand wie die anderen Anwesenden, wollte er sich nicht dazu hinablassen, vor Verzückung zu einem vollkommenen Idioten zu werden. Sam lachte und griff sich den Tagespropheten, den Luna auf den Tisch gelegt hatte.
„Das gibt es nicht.“, sagte er sofort und knallte den Tagespropheten zurück auf die Tischplatte, sodass jeder die Schlagzeile lesen konnte.
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