von mia.winchester
Sam war durch das Gespräch mit Luna von einer willkommenen Ruhe erfüllt. Er beschloss, die Dusche auf später zu verschieben.
„Morgen, Dean.“, sagte er. Sein Bruder war soeben neben ihn getreten. Mit verklärtem Blick erwiderte er den Gruß und massierte sich die pochenden Schläfen. Er hatte lang geschlafen, aber wirklich ausgeruht war er nach dem Vorfall der letzten Nacht nicht. Zwar waren die Jobs, die er mit Sam erledigte, nie wirklich ungefährlich, aber er konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal so ernsthaft um sein Leben gebangt hatte wie unter dem tödlichen Gewicht des Letifolds.
Luna war indes zu Rolfs Zimmer gegangen, um auch ihn zu wecken. Dieser sah deutlich entspannter und überraschend besonnen aus, als er zu den Brüdern in die Stube trat.
„Morgen Jungs!“, trällerte er. „Gott, bin ich froh, dass wir hier alle wohlauf stehen.“
Deans Hände ballten sich zu Fäusten. Die Müdigkeit in seinem Gesicht wich blanker Wut.
„Was dich betrifft,“, knurrte er, „kann sich das ganz schnell ändern.“
Rolfs Augen weiteten sich vor Schreck. „Dean, was...?“
„Was war los gestern Nacht, hm?“, brüllte Dean. „Sam und ich wären beinahe draufgegangen. Hast du nicht gesagt, du hast einen Zauber, der die Dinger zumindest verscheucht?“
„Ja, der Patronus-Zauber, das stimmt, aber ich habe meinen Zauberstab nicht festhalten können, mich haben Letifolde angegriffen!“, verteidigte sich Rolf mit einem für ihn ungewöhnlichen scharfen Unterton in der bebenden Stimme.
„Wow!“, schrie Dean. „Super! Wenn dieser komische Hase nicht gekommen wäre, wären wir also alle drei gestorben?“
Niemand sagte etwas. Sam blickte unsicher zu Luna. Warum verriet sie nicht, dass sie Urheberin des rettenden Zaubers gewesen war?
„Das war von Anfang an eine beschissene Idee.“, knurrte Dean. „Was hast du dir eigentlich davon erhofft?“
Rolf rang nach Atem. „Ich...Ich...“, stammelte er. Er wusste nicht so recht, was er antworten sollte. Wenn er jetzt darüber nachdachte, hatten sie tatsächlich schon zu Beginn gewusst, dass sie die Letifolde mit höchster Wahrscheinlichkeit nicht töten konnten. Alle Zauber waren selbstverständlich umsonst gewesen und dass Salz und Schrotflinte nicht helfen würden, hatte ebenso auf der Hand gelegen. Im Grunde hatten die Jäger sich völlig umsonst in Gefahr begeben.
„Ja!“, lachte Dean sarkastisch. „Da fällt dir nichts mehr ein, hm? Was haben wir rausfinden wollen? Wie es im Jenseits ist? Diese ganze Sache ist doch aussichtslos. Was hätten wir erreichen sollen?“
Wieder wusste Rolf keine Antwort. Dean schritt auf ihn zu, bohrte den Zeigefinger in seinen Brustkorb und sah ihm wütend in die Augen.
„Du bist ein miserabler Jäger und soweit ich das beurteilen kann ein beschissener Zauberer dazu. Wegen deiner bescheuerten und sinnlosen Idee wären mein Bruder um ein Haar verreckt!“, zischte er.
„Ihr hättet doch nicht auf mich hören müssen, ich habe doch nur versucht, irgendwie voranzukommen, ihr hättet doch nicht...“, stammelte Rolf.
„Doch, hätten wir!“, brüllte Dean plötzlich. „Weil wir dir verdammt nochmal unser Wort gegeben haben, dass wir dich unterstützen und du auf uns zählen kannst! Aber das ist jetzt vorbei! Erwarte nicht, dass ich noch einmal meinen Kopf für dich hinhalte!“
Mit diesen Worten stieß Dean Rolf von sich und stürmte aus der Hütte.
Lunas Augen hatten sich mit Tränen gefüllt. Rolf stand vollkommen perplex in der Mitte der Stube. Sein Atem ging schnell. Die Wut auf Dean überwog, weswegen sein verletzter Stolz ihm nichts anhaben konnte. Er wirbelte herum und schlug mit der Faust in die Wandverkleidung. Das Holz brach. Luna zuckte zusammen und Sam starrte, wieder einmal von Rolfs ungeahnter Kraft überrascht, auf das splitternde Loch in der Wand. Wortlos lief Rolf in sein Schlafzimmer, warf die Tür hinter sich zu und ließ Sam mit Luna alleine.
Die beiden schenkten sich einen verzweifelten Blick, wohl wissend, dass sie für diesen Moment nichts tun konnten, um die Lage zu ändern.
Doch dann spürte Sam einen stechenden Schmerz in der Stirn. Er kannte das Gefühl, doch es war das erste Mal, dass es ihn im wachen Zustand übermannte. Die Visionen von Jessicas Tod waren im Schlaf mit genau der selben Qual über ihn hereingebrochen: Flutwellen von zerstörerischen Bildern, die kalte Brandung der nackten Panik.
Das Licht um ihn verschwand und er spürte alle Kraft aus seinen Gliedern weichen. Keuchend sank er auf die Knie.
„Sam!“, hörte er Luna rufen. Beiläufig nahm er wahr, wie ihre dünnen Arme unter seine Schultern griffen und sie versuchte, ihn zurück auf die Beine zu ziehen, doch er war zu schwer für sie und brach vollkommen auf dem Boden zusammen.
Vor geschlossenen Augen sah er das Antlitz eines grauenvoll zugerichteten Mannes aufflackern. Doch nein. Kaum etwas an diesem erinnerte noch an einen Mann. Er war von massiger, unmenschlicher Größe, mit stechend bösen Augen. Die Hände ähnelten verschmutzen Klauen mit gelben, spitzen Fingernägeln und sein langes, graues Haar hing in filzigen Strähnen an seinem bestialischen Gesicht hinunter. Er sah aus wie ein zum Mensch gewordener Wolf, oder andersherum.
Der Werwolf hetzte durch einen dunklen Wald, doch dann veränderte sich die Vision. Sam sah ihn neben einem ihm auf unheimliche Art und Weise bekannten Augenpaar in der Dunkelheit stehen. Jenes Augenpaar blitzte in einem grausigen Gelb. Der Dämon, der seine Mutter geholt hatte und auch den Tod seiner Freundin verschuldete. Der Dämon, den zu finden zur Lebensaufgabe seines Vaters und auch zu seinem eigenen Hauptziel geworden war. Sam hatte nie erfahren, ob es sich bei jener Macht tatsächlich um einen Dämon handelte, doch im Unterbewusstsein war er sich schon lange sicher, dass es keine andere Lösung für die Herkunft jener niederträchtigen Macht geben konnte.
Doch wer war dieser Werwolf?
Sam spürte eine unsagbare Hitze auf der Haut und erkannte, wie abertausende Letifolde über den Boden des schwarzen Waldes der Vision waberten. Außerdem tummelten sich, wie Maden im verrotteten Fleisch, allerlei andere grässliche Kreaturen zu den Füßen des Werwolfs und des Dämons, der wie ein dunkler Mentor hinter ihm stand. Dann brach die Szene in ein loderndes Feuer auf. Alles, was Sam Angst machte, war hier in einer Vision vereint. Schlagartig erwachte er.
„Sam! Sam!“, hörte er Luna rufen. Die ganze Zeit über hatte sie versucht, ihn zu Bewusstsein zu bringen. Auch Rolf war über ihm erschienen. Unbeholfen kippte er ihm eine volle Schüssel kalten Wassers über den Kopf.
Sam schnappte vergeblich nach Luft. Das kühle Nass tat gut, doch es füllte seinen Hals und er konnte nicht atmen.
Luna und Rolf zerrten ihn in aufrechte Position, sodass er das Wasser ausspucken konnte. Behutsam strich Luna ihm über die Stirn, während Rolf ihm jetzt mit dem Tagespropheten Luft zufächerte.
„Was bei Merlins Bart war das?“, sagte Rolf viel zu laut.
Sam konnte noch nicht antworten. Die plötzliche Vision hatte ihn vollkommen aus der Bahn geworfen. Er wünschte sich, dass Dean bei ihm wäre.
„Können wir ihn zusammen heben?“, fragte Rolf Luna.
„Wir können es probieren. Wenn nicht, benutzen wir Levicorpus.“
Sam konnte sich nicht dagegen wehren, dass die beiden Zauberer ihn an Schultern und Füßen griffen und auf das Sofa hievten.
„Was genau ist passiert?“, fragte Rolf.
„Er ist einfach zusammengebrochen. Es sah aus, als hätte er eine Art Vision.“, erklärte Luna. „Er krampfte und seine Lider flackerten. Er hat ganz deutlich etwas gesehen. Etwas, was wir nicht sehen konnten.“
„Sam, kannst du mit uns sprechen?“, drängte Rolf.
„Ja.“, brachte Sam hervor. Es war ihm unangenehm, sich so schwach zu zeigen. „Kann ich.“
„Gut.“, sagte Rolf. „Was hast du gesehen? War es tatsächlich eine Vision?“
Sam überlegte für einen Moment, Rolf und Luna eine Lüge aufzutischen und nichts von dem grausigen Bild des Werwolfs neben dem Dämon mit den gelben Augen zu erzählen. Und all diese Letifolde. Er wusste selbst nicht, wie er diese Vision einordnen sollte. Was hatten all diese erschreckenden Elemente darin miteinander zu tun? Seine Freunde vom College hätten ihn für geisteskrank erklärt, wenn er ihnen davon erzählt hätte. Allerdings befand er sich nun in Gesellschaft einer Hexe und eines Zauberers und Jägers, und selbst dafür waren Rolf und Luna noch einmal doppelt so verrückt. Also erzählte er:
„Ja. Es war eine Vision... Ich habe einen Werwolf gesehen. Er sah grauenvoll aus, anders als jeder Werwolf, den ich in meinem ganzen Leben je getroffen habe. Und dann waren da Letifolde, überall. Und andere grässliche Gestalten. Und...“
„Was?“, drängte Rolf. „Was noch?“
Sam zögerte. Er brachte es doch nicht über sich, von dem gelben Augenpaar zu erzählen.
„Nichts. Nichts mehr.“, log er. „Aber das hat mir gereicht.“
„Kann ich verstehen.“, sagte Luna besorgt.
„Dean.“, sagte Sam. „Ich werde jetzt Dean suchen.“
„Nein.“, bestimmte Luna. „Du bleibst liegen und ruhst dich aus. Ich möchte nicht, dass du alleine in den Wald gehst und dort noch einmal von einer solchen Vision übermannt wirst. Ich werde Dean finden.“
„Luna...“, sagte Rolf zögerlich, doch er wusste, dass er sie nicht zurückhalten konnte. Selbst, wenn er gut weiterhin auf Deans Gesellschaft verzichten konnte.
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