von hawthornandvine
Paranoia
Verfolgt
„Nein, Mum, ich habe am Samstag schon etwas vor, tut mir leid. Ich muss jetzt auflegen, jemand steht vor der Tür… Ja mach ich. Hab dich lieb, bis bald.“
Leicht genervt legte Hermine ihr Telefon weg. Kaum telefonierte sie ein paar Minuten mit ihrer Mutter, klingelte es an der Tür, was sehr unüblich war.
„Bin ich hier richtig bei… Granger?“, sagte ein Mann, sofort nachdem sie die Tür einen Spalt aufgemacht hatte.
„Ja“, antwortete sie und sah den Mann skeptisch an.
„Es ist ein Paket für Sie da.“
„Von wem den?“
Hermine war verwundert. Kaum jemand schickte ihr Post, wenn dann schon mit einer Eule.
„Anonymer Absender, tut mir leid. Unterschreiben Sie bitte hier kurz.“
Er reichte ihr einen Zettel und einen Stift.
„Einen schönen Tag noch.“
„Ihnen auch“, murmelte sie und schloss die Tür.
Das Paket war nicht sehr groß, aber dick. In unauffälligem, braunen Papier eingewickelt und in Blockschrift stand ihr Name & Adresse.
Hm.
Vielleicht war es ja nur ein Irrtum?
Neugierig machte sie das Päckchen auf und ein Buch kam zum Vorschein.
Das neue Buch von Stephen King.
Das neue, ausverkaufte Buch von Stephen King.
Oh mein Gott.
Sie liebte diesen Mann. Er war in ihren Augen ein Genie.
Das Buch war erst gestern erschienen und angeblich bereits ausverkauft.
Sie hatte zwar stundenlang in einer Schlange vor einem Buchladen gewartet, aber alles umsonst.
Und jetzt flatterte es aus dem nichts zu ihr nach Hause?
Unvorstellbar.
Am liebsten würde sie schreien. Einen Freudentanz machen und in die Luft springen. So glücklich machte sie dieses Buch.
So glücklich wie schon lange nicht mehr.
Ganz aufgeregt hastete sie in die Küche, machte sich eine Tasse Tee und legte sich in ihr Bett.
Alleine das Cover rief schon „Lies mich, lies mich, Hermine!“
Auch Bücher konnten verführerisch sein.
+++++
Alles war rosa. Der Boden, die Wände, das Licht und vor allem die schleimige Masse, die sie festhielt.
Es war schrecklich.
Von überall hörte sie ihre Kollegen sagen: "Du hast versagt, Hermine, du hast versagt! Sieh nur, was du hier angerichtet hast!"
Maurice brüllte "Sie sind gefeuert!"
Die rosafarbene Masse wand sich durch das ganze Ministerium durch und riss die Menschen mit, sie schrieen und kreischten um ihr Leben, wussten nicht, was mit ihnen passierte.
Der Zaubereiminister schrie "Hermine Granger, das ist alles Ihre schuld! Wagen Sie es nicht, sich noch einmal in der Welt der Zauberer blicken zu lassen!"
Immer noch gefangen in dem verdickten Liebestrank, zerbrach man ihren Zauberstab, schimpfte sie nochmals und tat schließlich das Schlimmste: Jemand versuchte den Obliviate Zauber an ihr an zuwenden und wollte ihr sämtliche Erinnerungen entziehen.
Sie konnte sich nicht wehren. Aus dem rosa Gebräu formten sich Seile, die sie zurückhielten und hilflos machten.
Als ob es nicht schon genug quälend für sie war, erkannte sie den Zauberer, der gegenüber von ihr war.
Mit einem lauten Schrei wachte Hermine auf und fand sich in ihrem Bett wieder. Sie trug noch ihre Klamotten, eine umgekippte Tasse lag neben ihr und auf ihrem Bauch ruhte ihr neues Buch.
Sie musste wohl eingeschlafen sein.
Erleichtert ließ sie sich zurück fallen, denn es war alles nur ein Traum gewesen.
Ein überaus böser Traum, der furchtbarste Alptraum den sie in den letzten Monaten hatte.
Schon klar, der Fehler während ihrer Arbeit war... Heftig gewesen, aber sie hatte es ja wieder gut hingebracht. Sie hatte alles gerettet und niemand wurde darüber in Kenntnis gesetzt.
Jedoch…
Was hatte Draco in diesem Traum gesucht? Er war derjenige gewesen, der ihren Zauberstab zerbrochen hatte.
Er war derjenige, der sie härter geschimpft hatte als alle anderen und er war derjenige, der sie all ihrer Erinnerungen rauben wollte.
In ihrem Traum war er der Mann, den sie nie geliebt hatte.
Er sah so böse aus, als er sie als "Nichtsnutz" und "Strafe für die gesamte magische Gemeinschaft" beschimpft hatte.
Hermine wusste, dass er sich gebessert hatte aber wenn sie so an diese Momente ihres Traumes dachte, erschien alles so wirklich.
Sie schauderte kurz, als sie an ihre Schulzeit und die Konfrontationen mit ihm dachte und legte das Buch weg.
Sie wollte wissen, wie spät es war, also sah sie beim Fenster raus, um einen groben Überblick zu haben.
Draußen war es stockdunkel und ihr Thermometer an der linken Fensterseite zeigte an, dass es auch bitterkalt war.
Erneut lief es ihr kalt über den Rücken hinunter und sie sah sich um.
Es hatte sich kaum etwas verändert.
Alles sah noch genauso aus wie früher. Sie hatte keine anderen Möbel gekauft, keine anderen Lampen (damals hatte Hermine darauf bestanden, Muggel Elektronik in der Wohnung zu haben), sogar das Regal hatte sie kaum umgeräumt.
Sie seufzte kurz und ging dann in die Küche, dort hing eine Uhr.
Als sie nach oben sah und sich der Zeit vergewissern wollte, traf sie ein kleiner Blitz. Es war bereits 16 Minuten vor Mitternacht und da morgen ein Arbeitstag war, sollte sie für gewöhnlich schon schlafen.
Nur hatte Hermine noch vieles zu erledigen.
Ginny wollte sie noch einen Brief senden, Monsieur Maître hatte sie noch eine Notiz über den Verlauf des Liebestranks zu anfertigen und so langsam musste sie sich wohl oder übel auch Gedanken darüber machen, was sie zum Ministeriumsball anziehen sollte.
Nun gut - es war gar nicht wirklich ein Ball. Es war eher eine gehobene Feier wo man elegant gekleidet aufzutauchen hatte.
Das stand sowieso in ihrem Sinne, aber die Umsetzung war nicht immer leicht.
Während sie sich eine Toastscheibe aus dem Kühlschrank nahm, überlegte sie, was sie zuerst erledigen sollte. Den Brief schreiben oder die Notiz?
Oder warum nicht beides?
Hastig schluckte sie den letzten Bissen von dem bereits trocken schmeckenden Toastbrot hinunter und ging zum Küchentisch, wo immer ein kleiner Stapel an Papier bereit lag und ein uralter Becher mit Stiften aller Art.
Ohne nachzudenken was das werden sollte, fing sie an zu schreiben.
»Notiz an MM« kritzelte sie und unterstrich die drei Wörter doppelt.
»Alles läuft gut, es gibt keine Probleme mit XX. Halte mich an den Plan, nur die Vorräte einiger Zutaten gehen aus.
HG«
XX bedeutete der Liebestrank.
Nun, das war leichter als gedacht für sie.
Da es niemals zu spät für Tee war, stand sie kurz auf und setzte heißes Wasser auf.
Als zweiter Punkt stand Ginnys Brief auf ihrer Liste.
Das würde schon etwas kniffliger werden. Sie schrieb nicht so gerne Briefe, schon gar nicht spätnachts.
»Hallo Ginny«
Nein, »Hallo Ginny« passte ihr nicht.
Hermine strich es durch und schrieb anstelle »Liebe Ginny« hin.
»Wie versprochen werde ich morgen bzw. heute bei dir vorbei schauen.«
Eigentlich war das alles, was sie zu sagen hatte, aber es erschien ihr als unhöflich.
»Voraussichtlich werde ich erst am Abend kommen, denn MM (mein Chef) lässt mich nie früher als 5 Uhr gehen, außer er ist nicht da.
Freue mich schon, dich und alle anderen zu sehen.
Bis bald,
Hermine «
Die Frage war, wo bekam sie nun eine Posteule her?
Manchmal zweifelte sie wirklich am Kauf von Krummbein, Eulen waren eigentlich um einiges nützlicher als diese Fellbälle.
"Warum hab ich das nur gemacht", murmelte sie und zog ihre Haube tiefer ins Gesicht.
Es war ein Donnerstagabend, pardon, eine Freitagnacht und sie war alleine auf den Straßen Londons unterwegs. Normalerweise neigte sie nicht zu solchen Dummheiten, aber sie hatte heute Stephen King gelesen, einen Alptraum gehabt und sehr starken Tee getrunken.
Und nun musste sie die Nebenwirkungen ausbaden, indem sie durch eine spärlich beleuchtete Straße ging.
Etwas weiter vorne konnte sie eine Bar erkennen, deren beleuchtetes Neonschild alle paar Sekunden flackerte. Davor standen ein paar Männer - ohne jeglichen Zweifel betrunken - und unterhielten sich laut, alle mit einer Flasche in der Hand.
Ob es Bier oder etwas Stärkeres war, konnte Hermine nicht erkennen. Sie wollte es auch ehrlich gesagt nicht.
Theoretisch hätte sie einfach in die Winkelgasse apparieren können, aber nein, ihr Unterbewusstsein meinte, die Bewegung würde ihr gut tun.
Ganz im Gegenteil. In dem Buch ging es in den letzten Seiten, die sie vor dem Einschlafen gelesen hatte, um Verfolgungswahn.
So in etwa fühlte sie sich in diesem Moment auch.
Verfolgt. Gejagt.
Schnell sah sie hinter sich, aber da war niemand. Nur eine Straßenlaterne, die ebenso wie dieses Schild von der Bar bald den Geist aufgeben würde.
Genau wie in diesen Horrorfilmen…
"Miss Granger!", rief Tom, der zahnlose Wirt von Tropfendem Kessel, als Hermine das Pub betrat.
"So spät noch unterwegs?"
"Ich brauche nur eine Posteule, Tom, und ich wollte ein wenig Bewegung haben."
"Wie Sie wünschen, Miss Granger, darf es was zum Trinken sein?"
"Später, Tom, wenn ich wieder komme."
Er nickte und Hermine bahnte sich einen Weg durch die Tische und Stühle.
Um diese Zeit und an diesem Tag waren nicht sehr viele Gäste hier, was sie auch verstehen konnte.
Ihr Ziel war der Hinterhof, wo die hohe Backsteinmauer war.
Behutsam nahm sie ihren Zauberstab, der bei ihrer Berührung augenblicklich warm wurde und sie klopfte einmal gegen den allzu bekannten Stein.
Wie gewöhnlich erschien kurze Zeit später der erwünschte Durchgang und Hermine trat in die Winkelgasse ein.
Sie war hier noch nie in der Nacht gewesen und das machte die Sache spannender.
Die Winkelgasse war so leergefegt wie nie und der Wind blies ihr heftig um die Ohren.
Zum Glück war es nicht weit bis zum Postamt.
Wenn schon die Winkelgasse gruselig wirkte, wie würde ich mich wohl in der Nokturngasse fühlen?, fragte sie sich.
Vermutlich verfolgt, wie vorher.
Paranoia ist eine ernstzunehmende Erkrankung, redete sie sich ein und ging im Schnellschritt weiter und Hermine war heilfroh, als sie die hohe Tür aufmachte, die zum Postamt führte.
"Guten Abend", sagte sie und ging zu der einzigen Person im Raum.
Eine alte Dame, die schon sehr gebrechlich aussah, blickte von ihren Stricknadeln auf und wendete sich ihr zu.
"Ich möchte gerne diesen Brief abschicken."
"Inland oder Ausland", fragte die alte Frau.
"Inland", antwortete Hermine und sah auf die Uhr.
01:34
"Das macht 5 Sickel."
"Ist gut."
Sie kramte in den Taschen ihres Mantels herum und nahm ein paar Silbermünzen heraus.
"Bitteschön. Auf Wiedersehen."
Die Frau murmelte etwas Unverständliches und erleichtert verließ sie das Postamt.
Wenigstens war das nun geklärt.
Zurück im Tropfenden Kessel bestellte sich Hermine ein Butterbier und setzte sich geduldig an die Bar.
"Was treibt sie so spät denn noch hierher?", fragte Tom wieder.
"Ach, jetzt, da ich den Brief verschickt habe, will ich irgendwie nicht nach Hause gehen. Hier gibt es ein wenig Gesellschaft und es ist warm."
"Sie sind also öfters allein?"
"Nun... Ja. Das bin ich. Ich wohne alleine."
"War das schon immer so?", hakte der Wirt nach und polierte dabei ein Glas.
Er war Hermine noch nie ganz geheuer gewesen, aber immerhin konnte sie mit ihm reden.
"Nein", sagte sie und nahm einen Schluck. "Ich hatte einen Freund, für eine Weile. Aber dann hat er mich verlassen. Einfach so. Ich verstehe seine Gründe bis jetzt noch nicht und werde es vermutlich auch niemals."
"Verraten Sie mir, wer Ihr Freund ist?"
Sie schüttelte den Kopf und fuhr fort: "Lieber nicht. Wollen Sie noch mehr hören?"
Tom schmunzelte und sagte: "Wie geht es Ihnen dabei? Es ist hart, verlassen zu werden..."
"Nicht gut, gar nicht gut. Ich vermiss' ihn immer noch so. Obwohl ich ihn früher nicht mochte, lernte ich ihn zu lieben. Es ist kompliziert, besser gesagt, es war kompliziert, ja, es war. Ich habe ihn seit fast 2 Jahren nicht mehr gesehen. Er hat sich auch nicht gemeldet."
"Klingt nach keinem guten Kerl. Wer so etwas tut, dem sollten Sie gar nicht hinterher trauern, Miss. Vergessen Sie ihn."
"Das versuche ich, Tom. Glauben Sie mir, das versuche ich Tag und Nacht."
Mit einem letzten Zug trank sie ihr Butterbier aus und stand auf um zu gehen, vorher legte sie noch ein paar Münzen auf den Tresen.
"Danke für das Gespräch, gute Nacht, Tom. Und sollte ich ihn noch mal sehen, bring ich ihn um."
"Gute Nacht, Miss Granger", antwortete der Wirt lachend und sammelte die Münzen ein.
Gerade als Hermine die Tür schließen wollte, hörte sie ein Klirren und drehte sich nochmal um.
Offensichtlich war ein Glas auf den Boden gefallen.
Auf dem Platz, der am weitesten von der Tür entfernt war, saß ein blonder Mann, der sich runterbeugte und die Scherben aufsammelte.
Wie in Trance beobachtete sie ihn und natürlich, sie wusste wer er war.
Und dem Anschein nach hatte er alles mitgehört.
Sie war sich so verdammt sicher dass es er war.
Aber warum war er hier? Verfolgte er sie oder war es einfach nur Zufall?
Natürlich konnte es auch sein, dass sie sich getäuscht hatte.
Nach alldem was sie in den letzten Stunden durchgemacht hatte, war es leicht möglich, dass jeder blonde Zauberer für sie wie Draco Malfoy aussah.
Aber sie sollte doch eigentlich schlafen, um für morgen, pardon, heute fit zu sein.
Nun war es bereits halb 3 Uhr in der Nacht und Hermine hatte kein Auge zugemacht.
Zu Tom, dem Wirt vom Tropfenden Kessel, hatte sie gesagt, dass sie Draco umbringen würde.
Ihn umbringen...
Keine schlechte Idee.
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