von mia.winchester
James spürte, wie Lily neben ihm erkaltete. Als habe ein Windstoß eisiger Winterluft sie erfasst, gefror ihr Körper, ihre grünen Augen, die wie ein See waren, weiteten sich. Ihr Brustkorb hob sich, senkte sich jedoch nicht wieder. James wusste, was geschah. Er blickte vom Tisch auf und starrte direkt in das blasse, böse Gesicht von Severus Snape, der am anderen Ende der Großen Halle am Tisch der Slytherins saß und Lily unverhohlen beobachtete. Zwischen ihm und Lily schien sich ein Netz zu spinnen. Unbewegte Blicke woben eine Verbindung, die nie wieder gänzlich bestehen würde. James' Hände ballten sich zu Fäusten.
„Lily.“, sagte er, doch seine Freundin hörte ihn nicht. „Lily.“
In Momenten wie diesen war James hin und hergerissen zwischen dem Verlangen, zu wissen, was genau in ihrem Kopf vorging, ein Verlangen, das aus der selben Zuneigung resultierte wie die ewige Lust, ihre blasse, weiche Haut zu berühren und ihr das flammend rote Haar von den Schultern zu streichen, um ihren Nacken zu küssen, herrührte, und dem Ekel vor dem Wissen, dass sie in jenen Momenten ganz und gar Severus gehörte, wie sie es Jahre zuvor schon einmal getan, und dies, wie James es sich zu denken verbat und, kam jenes Bewusstsein doch einmal über ihn, mit aller Kraft verdrängte, in irgend einer Weise bis zu ihrem Tod tun würde.
Er hasste das Gefühl, sie mit den Erinnerungen an ihre Kindheit, welche von den Worten und Berührungen Snapes durchzogen waren wie von einer Spur ausgelaufener, schwarzer Tinte, teilen zu müssen. Jeder zweite Atemzug, den Lily tat, sog alte Luft ein. Jeder zweite Blick, den sie ihm schenkte, ging durch ihn hindurch, in eine Zeit zurück, die lang vergangen war. Lily glich einem Geist. Sie war nie wirklich da. Und nun, mit angehaltenem Atem und erstarrtem Leib, war sie vollkommen verloren.
„Lily.“, wiederholte James und packte sie schließlich bestimmt am Arm. Sie kniff die Augen zusammen, schluckte schwer und sah James an. Etwas verschwand aus dem grünen See, etwas verlor sich in dessen Tiefe. Erinnerungen, die ertranken, doch nicht für immer. Schon bald würden sie wieder hochgewirbelt werden, ausgespuckt und an das Ufer von Lilys Herzen gespült.
James starrte wütend in die schwarzen Augen Snapes', die nun erbittert auf ihm brannten. Er musste sich beherrschen, nicht über die Tische zu steigen, sich wie ein Raubtier auf ihn zu stürzen, und ihm die Gier nach dem, was ihm gehörte, aus dem Gesicht zu prügeln.
„Es tut mir Leid.“, sagte Lily und zeigte die kläglichste Kopie eines Lächelns, die James je gesehen hatte.
„Ist schon in Ordnung.“, grummelte er. „Hör zu, wenn er dich stört, dann-“
„James.“, herrschte sie ihn mit überraschend lauter Stimme an. „Lass gut sein.“
Sirius Black, James' bester Freund, hob den Kopf von seinem Teller und sah das offenbar in Streit geratene Paar fragend an. „Alles gut bei euch?“, fragte er mit noch vollem Mund. Bratensoße troff ihm aus dem Mundwinkel und James konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.
„Alles bestens.“, log Lily, legte ihr Besteck jedoch nieder, strich sich die Robe glatt und stand auf, um schnellen Schrittes aus der Großen Halle zu verschwinden.
Severus sah ihr nach. In ihrer raschen Bewegung schien sie den altbekannten Duft nach Sommer aufzuwirbeln, der stets in ihrem Haar gewohnt hatte. Der Duft, der Severus für immer an die ersten Worte erinnern würde, die er vor einer Zeit wie ein Leben an sie gerichtet hatte. Und daran, wie sie zusammen im Gras gelegen hatten, wie sie zum Sommer geworden waren, weil sie ihn atmeten, schmeckten, fühlten. Severus wollte nun wieder der Sommer sein. Der Sommer, der draußen vorm Schloss wartete. Der Sommer in Lilys Haar.
Doch ihm war kalt, bitterkalt, sobald sie weg war, und kalt, weil er James' bittere Wut spürte. Kalt, weil er wusste, dass er es nie über sich bringen würde, aufzustehen und ihr zu folgen, ehe der blasierte Schulsprecher es tat.
Das Netz zwischen seinen und ihren Augen war zerrissen, eine schmerzliche Nachahmung des Endes ihrer Freundschaft. Wie das Netz, das einst zwischen ihren Herzen gewebt gewesen war. Er hatte es zerrissen, mit nur einem einzigen Wort. Schlammblut.
Er war Schuld. Und die Schuld war ebenso kalt. Kalt wie der Winter. Kein Sommer mehr, kein Licht mehr. Nur Eis und Dunkelheit und das trostlose Gefühl, im Strom der Zeit einfach hängen geblieben zu sein. Als würde es nie wieder hell werden. Und nie wieder schön.
„Warte!“, rief James aus brennender Kehle. „Warte auf mich!“
Doch Lily machte nicht kehrt. So war sie. Der ruhelose Geist, der durch die Mauern des Schlosses eilte, auf der Suche nach etwas, was er vor langer Zeit verloren hatte. Im Falle der wirklichen Geister war es das Leben. In Lilys Fall war es Vertrauen.
James spürte ihre Unsicherheit jedes Mal, wenn er sie berührte. Wenn er sie küsste, hielt er sie fest an den Schultern, aus Angst, sie könne sich seiner Nähe entziehen. Ihn von sich stoßen, davonrennen. Er litt, wenn er sie griff, weil er fürchtete, ihr wehzutun. Sie war ein so zerbrechliches Wesen, selbst, wenn sie mit aller Kraft versuchte, über ihre Verletzlichkeit hinwegzutäuschen. Mit frechen Worten, ihrem losen Mundwerk, ihrer Klugheit.
James schätzte all diese Züge an ihr. Doch erst als er über ihre Schönheit und ihr gespieltes Selbstbewussstsein hinweggesehen hatte, als er in den grünen See ihrer Augen geschaut und am Grunde dessen die Angst, die Enttäuschung und die Scherben eines einst heilen Herzens gesehen hatte, hatte er sich in sie verliebt.
„Aus Mitleid.“, hatte Peter, ebenfalls ein guter Freund von ihm, einmal gesagt. James hatte ihn daraufhin hart auf den Oberarm geschlagen. Sicherlich hatte er Lily schon immer begehrt. Er hatte in den letzten sieben Jahren alles daran gesetzt, sie zu erobern. Das bissige Gesicht, das sie zog, wenn sie ihn abwies, was sie so gut wie jede Woche getan hatte, hatte sich bis heute in James' Gedächtnis gebrannt. Und daran zurückzudenken, brachte ihn zum Lachen, jedes Mal, denn eines Tages, es war nicht allzu lange her, da hatte sie ihn nicht böse angestarrt und gesagt:
„Mach dich vom Acker, Potter, bevor ich dir den Mund zuhexe!“
Nein. Sie hatte gelächelt und gesagt:
„Na gut. Triff mich heute Abend in Hogsmeade.“
Im Siegestaumel hatte James sich den ganzen Abend über ihrer Nähe nicht einmal entzogen. Und er wollte es nie wieder tun. Nie wieder ihre heißen Küsse missen, nie wieder ohne sie sein. Aber es war schwer, etwas an sich zu drücken, was so zerbrechlich war, ohne es zu zerstören.
James war sich sicher, dass Lily seine Liebe erwiderte, doch diese Liebe schien gläsern. Hielt er sie zu sacht, konnte sie fallen und zerschellen, hielt er sie zu kräftig, zerdrückte er sie an seiner eigenen Brust. All das Blut, die im Fleisch steckenden Scherben. Nie wollte James mehr ohne Lily sein.
„So warte doch!“, rief er noch einmal und endlich, vorm großen Eingangsportal des Schlosses, blieb sie stehen.
Sie drehte sich nicht um. Mit bebenden Gliedern starrte sie zu Boden und wartete darauf, dass James sie erreichte. Dass er sie hielt. Sie war sich nicht sicher, ob sie ihn doch wegstoßen würde, wenn er sie berührte, aber ihr Körper verlangte nach seiner Nähe, nach seinem Schutz und seiner Liebe.
Und dann war seine Hand auf ihrer Schulter.
„Komm her.“, sagte er leise, drehte sie um und ließ sie, als wiege sie nichts, in seine Arme sinken. Er küsste sie auf die Stirn, murmelte etwas in ihr Haar, das sie nicht verstand und ließ sie weinen. Salzige Tränen rannen auf seinen Umhang, färbten ihn dunkler, als er ohnehin schon war. Lily schluchzte, wie sie es noch nie vor James getan hatte, doch er hörte sie nicht. Alles, was er in diesem Moment verspürte, war Angst. Er drückte sie umso fester an sich. Angst, wie Fesseln um seinen Hals, Angst wie Gift in seinen Adern.
Angst, dass er Lily wehtat. Angst, dass er sie nicht fest genug hielt.
Angst, dass sie in seinen Armen lag und heimlich darüber weinte, nicht in den Armen eines Anderen zu liegen. In den Armen von Severus Snape.
Als Snape mit Mulciber die Große Halle verließ und sich auf den Weg zum Gemeinschaftsraum der Slytherins machte, sah er im Augenwinkel zum Eingangsportal. Er erstarrte in seiner Bewegung, als er die ineinander verschlungenen Gestalten dort entdeckte. Hinter sich hörte er einige Mädchen, denen das Paar dort ebenfalls ins Auge gefallen war, verzückt seufzen.
„Lily und James sind das perfekte Paar.“, sagte Luana Rosevelt.
„Ich wünschte, ich hätte einen Freund wie James.“, fügte Miranda Trinket hinzu.
„Lily kann sich glücklich schätzen.“, pflichtete Evelyn Mimbles den Anderen bei. „Es wurde auch wirklich Zeit, dass sie endlich Ja gesagt hat.“
Severus widerstand dem Drang, sich die Handflächen auf die Ohren zu pressen, um nicht weiter bei dem Gespräch der Mädchen zuhören zu müssen. Doch Mulciber neben ihm schien mit ihm zu reden und Severus tat, als höre er ihm zu, obgleich er sich nicht dagegen wehren konnte, stattdessen Miranda zu lauschen, wie sie erzählte:
„Es muss so schön sein für James, nach all den Jahren. Er war die ganze Zeit über in Lily verliebt. Und jetzt hat er sie endlich da, wo er sie haben will.“
„Romantisch.“, seufzten die Mädchen wie aus einem Mund.
Snape spürte, wie ihm der Braten vom Mittagessen wieder die Speiseröhre hochzukriechen schien. Er schnappte nach Luft und entschuldigte sich bei Mulciber, ehe er Kehrt machte und statt zum Gemeinschaftsraum direkt auf das Eingangsportal zusteuerte.
Er konnte nicht anders, als Lily im Vorbeigehen anzustarren. Selbst, wenn sie das Gesicht an James' Hals vergraben hatte, hoffte er, dass sie mitbekam, wie er ihr diesen flehenden, in seinen eigenen Augen brennenden Blick zuwarf. James sah ins Leere und Severus wusste, dass der Rumtreiber sich bloß darauf konzentrierte, ihn nicht direkt anzugucken . Erst, als die großen Türen hinter ihm tonvoll zuknallten, schaute auch Lily auf.
Ihr Gesicht war gerötet, die Lippen bebten. Sie drehte den Kopf in Richtung des lauten Geräusches und obgleich sie nicht sehen konnte, wer soeben das Schloss verlassen hatte, spürte sie an der plötzlich wiederkehrenden Kälte, welcher sie in James Umklammerung für einen Augenblick nur hatte entkommen können, dass es nur einer gewesen sein konnte.
„Mach dir keine Gedanken.“, tröstete James sie. „Ich bin da.“
Aber er ist weg, dachte Lily. Aus dem Schloss nur, und er kommt bald zurück, aber er wird nie wieder wirklich da sein.
Er ist weg, ich bin weg. Wir sind weg.
Sobald er sich sicher war, dass niemand ihn vom Schloss aus sehen konnte, rannte Severus. Er rannte, wie er in seinem ganzen Leben zuvor noch nie gerannt war. Er entledigte sich seines störenden Umhangs, ließ ihn achtlos hinter sich ins Gras fallen, er riss sich die Schuhe von den Füßen und dann rannte er.
Das von der Hitze trockene Gras stach in seine nackten Fersen, die unerbitterlich drückende Luft kam ihm wie eine undurchdringliche Wand vor, doch er kämpfte. Seine Lungen schienen in Flammen zu stehen und die Übelkeit, die zuvor in ihm hochgekrochen war, war noch immer nicht verflogen.
Er wusste nicht, wohin er rannte, aber als er an den lauernden Saum des Verbotenen Waldes kam, machte er doch kehrt, stürzte sich stattdessen den Hang zum Schwarzen See hinab und rannte einfach hinein, bis es ihm das ansteigende Wasser unmöglich machte, voranzukommen.
Die Oberfläche des Sees war unbewegt. Severus fühlte sich, als stünde er in einem Spiegel. Er sah seine eigene Reflektion an. Blass, hakennasig, hässlich. Verabscheungswürdig. Er mied es, sich selbst zu betrachten, so gut es ging. Sein Spiegelbild lachte ihm hämisch entgegen. Dann sah er, wie es eine Hand hob und sich selbst zerstörte. Ehe es sich aus den tobenden Wasserringen neu formen konnte, blickte Severus auf, in den gnadenlos blauen Himmel.
Er hasste es, wenn keine Wolken am Himmel waren. Dann fühlte er sich, als könne ihm die hellblaue Decke jeden Moment auf den Kopf fallen. Er fühlte sich eingesperrt, erstickt. Gefangen.
Erneut schlug er die Wasseroberfläche. Und noch einmal. Wieder und wieder, bis seine Hand schmerzte.
Und als er spürte, das kein körperlicher Schmerz der Welt die Qualen, denen sein wild schlagendes Herz und seine verlorene Seele ausgesetzt waren, ausgleichen konnten, brach er in Tränen aus. Er weinte. Es fühlte sich an, als weine er zum ersten Mal überhaupt.
Selbst vor zwei Jahren, als er Lily Schlammblut genannt und alles zerstört hatte, hatte er nicht geweint. Er war zu wütend gewesen. Auf sich. Auf Lily, dass sie ihm nicht verzieh. Auf James, der ihm Lily wegnehmen würde.
Doch nun, da James Lily hatte. Nun, da er selbst nichts mehr hatte. Nicht einmal mehr Hoffnung. Da machte es keinen Sinn mehr, wütend zu sein. Alles, was von der einstigen Wut blieb, war eine Trauer, so tief, dunkel und schmerzlich, dass Severus sich wünschte, er könnte für immer in den Flammen der Wut stehen, als selbst hier, unter der erbarmungslosen Junisonne, diese verfluchte Kälte zu spüren.
Severus schrie.
Er schrie mit all seiner überbliebender Kraft.
Und dann fiel er auf die Knie, fiel nach vorne, hinein ins Wasser, hinein in die Kälte.
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