von mia.winchester
Die letzte Woche im Schloss brach an. Wie der Schmerz, der Severus nun mehr als in den vergangenen Jahren gefangen hielt, bestand auch die Hitze, die wie ein loderndes Tuch über den vor allerlei Farben leuchtenden Länderein von Hogwarts lag.
Das gesamte Schloss war von einer Trägheit, einer sommerlichen Melancholie befallen.
Die Prüfungen waren geschrieben, man lag sich mit Abschied im Herzen in den Armen und feierte ein letztes Mal die gute Zeit, die man in sieben Jahren Zauberunterricht gemeinsam verbracht hatte. Die Rumtreiber betranken sich auf den Dächern des Gewächshauses, und die meisten Jungen am Schloss taten es ihnen gleich, während die Mädchen am Schloss all ihre von der gnadenlosen Hitze überbliebene Kraft darauf verschwendeten, sich Gedanken über ihre Festroben für den Abschlussball zu machen.
Diese alteingesessene Feierlichkeit in der Mitte der Abschlusswoche versetzte die Schüler des Schlosses seit jeher in wohlige Unruhe. Ein letztes Mal in der festlich geschmückten Großen Halle zusammenzukommen, Bande zu knüpfen, auf welche man vielleicht alle sieben Jahre lang gehofft hatte, das schien wie das herrliche Finale eines magischen Feuerwerks, auf das sich sogar die Lehrer freuten.
In den letzten Wochen hatte man sich nach Begleitung umgesehen, hatte Kleider genäht und Feuerwhiskey gehortet. Und nun stand das Fest unmittelbar bevor.
„Wir werden tanzen, bis dir die Füße wehtun. Abfallen werden sie dir!“, lachte James, als er am Tage vor dem Ball mit Lily über die Wiese am Schwarzen See schlenderte. Er hatte sein Hemd aufgeknöpft und die vorbeigehenden Mädchen kamen nicht umhin, sich an dem umwerfenden Anblick seines kräftigen Oberkörpers zu weiden.
Doch Lily scherte sich nicht um die äußerlichen Vorzüge ihres Freundes. Viel mehr zählte für sie in diesem Moment, dass er einfach nur ihre Hand hielt, schlichtweg da war. In den letzten Tagen hatten die Gedanken an Severus sie vollends zu verzehren gedroht.
Seitdem er aus dem Schloss an ihr vorbei gestürmt war, hatte sie ihn nicht mehr gesehen. Als sie danach die Stufen hinauf zum Turm der Gryffindors geschritten war, an einem gekippten Fenster im Mauerwerk inne hielt, um ihre Tränen wegzuwischen, ehe sie noch ihren Freundinnen begegnete, da hatte sie etwas gehört. Draußen, am See. Einen markerschütternden, aus den Tiefen einer verwundeten Seele stammenden Schrei. Und sie hatte diesen Schrei erkannt. Er hätte ebenso ihren Namen schreien können. In gewisser Weise war der Klang dieses Schreis für den Moment zu Lilys Namen geworden. Wie alles, was Severus sagte. Wie alles, was er hören wollte.
Seit dem Wochenende erzählte man sich im Schloss von einem Vorfall in den Kerkern, bei welchem Severus Snape Hester MacFarlaine für eine Ewigkeit in die Augen gestarrt, sie mit Blicken verhext hatte.
„Er wollte ihr die Seele aussaugen, wie ein Dementor!“, hatte Peter am Mittagstisch berichtet.
„Vielleicht war das nur seine Art, zu flirten.“, hatte Ethel Malkins im Unterricht für Verwandlung gekichert. „Vielleicht wollte er Hester fragen, ob sie mit ihm zum Ball geht.“
Nur wenige wussten, was wirklich geschehen war. „Es war Leglimentik.“, hatte Sirius schließlich festgestellt, als er mit Lily am Vortag nach Hogsmeade gegangen war. „Er ist in ihren Geist eingedrungen. Dieser widerliche Sonderling.“
„Nenn ihn nicht so.“, hatte Lily kaum hörbar gesagt, nicht ohne es rasch zu bereuen.
„Sag mir bitte nicht, dass du ihn verteidigst.“, hatte Sirius gemahnt, während er auf den Honigtopf zusteuerte. „Du hängst doch nicht immer noch an ihm, Lil? Nicht immer noch.“
„Nein, nein.“, hatte Lily gelogen.
Seitdem hatte sie wirklich versucht, die Gedanken an ihn zu vertreiben. Sie hatte es in den letzten Jahren doch auch gut hinbekommen. Allein ein Blick in James' herrliches Gesicht hatte immer gereicht.
Sirius hatte ihr eine große, rosafarbene Eistorte gekauft, die sie gemeinsam auf einer schattigen Bank verspeist hatten.
Während sie in James ihre wahre Liebe gefunden hatte, so hatte sie in Sirius einen besten Freund, auf den sie stets zählen konnte. Auch mit Remus und Peter verstand sich Lily mittlerweile hervorragend. Sie war es, die Remus in den letzten Monaten mit dem gerade erst neu erfundenen Wolfsbanntrank versorgt hatte. Dennoch teilte sie mit Sirius eine außergewöhnliche Freundschaft. Sie rechnete es ihm hoch an, dass sie das einzige Mädchen war, welches Sirius mit vollem Respekt und Ehrfurcht gleichender Zuneigung behandelte.
„Ich habe eigentlich keine Lust auf den Ball.“, gab Lily zu, streifte sich die engen Träger ihres leichten Kleides von den Schultern und ließ sich ins hohe Gras fallen. James, der noch immer an ihrem Arm hing, stolperte und sank ebenfalls zu Boden.
„Wieso nicht?“, murmelte er, während er seinen Kopf an die Rundung ihrer Hüfte legte. „Deine Mutter hat dir so ein schönes Kleid geschickt. Du wirst fabelhaft aussehen. Es wird tolle Musik geben. Und denk dran, es ist das letzte Mal, dass wir alle auf diese Art zusammenkommen.“
„Ist mir doch egal.“, grummelte Lily und rupfte einige Blumenstengel neben sich aus. „Du und ich. Wir bleiben doch zusammen. Und durch dich werde ich auch Sirius nicht verlieren. Oder Remus, oder Peter.“
„Das stimmt.“, pflichtete James ihr bei. „Auf die drei kann ich zählen.“
„Siehst du. Wozu dann so ein dummer Ball? Ich bin froh, wenn ich Tiara Johnsons blödes Gekichere und das dämliche Gehabe von Luana und Miranda nicht mehr ertragen muss. Sie werden den ganzen Abend nur von Sirius schwärmen. Und wenn er dann zu mir kommt und mir ein Glas Punsch bringt, verstummen sie, nein, erstarren sie, als hätte man sie mit der Ganzkörperklammer belegt.“
James lachte laut auf. „Halt dich einfach von ihnen fern. Man sollte sich von allem fernhalten, was einem nicht gut tut.“
„Du sagst das, als ob das einfach wäre.“ Lily seufzte.
Wenn Severus Leglimentik beherrschte, wieso konnte sie nicht Herrin der Gegenkraft, Okklumentik sein? Sie würde alles dafür geben, sich in Momenten wie diesen vor den aufflammenden Erinnerung wappnen und ihren Geist schützen zu können. Obwohl sie sich da plötzlich nicht mehr so sicher war.
In all dem Schmerz, all dem Groll, da lag ein süßes Brennen, als tauche sie, wie ein kleines Kind, ihre Finger in heißen Wachs, um mit dann mit den weichen Kuppen zu spielen. Als fingere sie Süßigkeiten aus einer scharfkantigen Box. Zuckersüß, doch blutig.
„Severus.“, brummte James. Er hatte keine Lust mehr, seinen Groll auf den hakennasigen Versager zu verbergen. Trotzdem lachte er, als er sagte: „Lily, würde es dir irgendwie helfen, wenn ich ihm die Kehle mit einem ordentlichen Diffindo durchtrenne?“
„James!“ Lily sog erschrocken die Luft ein. „Nein, das würde es nicht. Es würde mir nicht helfen. Es würde mir helfen, wenn du aufhörst, über ihn zu sprechen und stattdessen einfach...“
Ehe sie zu Ende sprechen konnte, hatte James sich schon hochgerappelt, mit den Ellenbogen auf ihre Kopfhöhe gezogen und seine Lippen auf die ihren gelegt. Seine Küsse waren sanft wie die Brise, die Lily und ihn in diesem Moment umspielte, eine erleichternde Wohltat in der stehenden Luft, und Lily ließ ihn von Glück erfüllt gewähren.
„Genau das habe ich gemeint.“, lachte sie, als er sich von ihr löste. „Mehr.“, verlangte sie dann. Und James gehorchte. Von den Blicken der ebenfalls auf den Wiesen herumstreunenden Schülern geschützt, ließ er seine Hände über Lilys in dem dünnen Stoff so gut erkennbaren Körper wandern, über den Bogen ihrer Rippen bis zu den Knien. Als er sie dort berührte, wo ihre warmen Schenkel zusammenliefen, stöhnte sie leise auf und James wusste, dass sie für diesen Moment ganz die Seine war. Kein Geist, keine Kälte. Nur ihre heiße, blasse Haut, ihr flammendes Haar und die Brandwunden, die ihre Küsse auf seinem Körper hinterließen.
Die Vorstellung, wie er sie berührte. Der Gedanke an seine Lippen auf ihren. Wie er die Luft aus ihren Lungen atmete. Die Luft, die einst Severus gewesen war. Hoffentlich, dachte er, erstickt James daran.
Severus saß stumm auf dem viel zu weichen Sofa im Gemeinschaftsraum der Slytherins, die Knie angezogen wie die junge Hester.
Die Mittagssonne brach sich im Schwarzen See vor den hohen Fenstern, grüne Lichtschwaden tanzten auf seinem blassen, bitterem Gesicht. Er hatte sich das Wochenende über hier verkrochen, hatte gelesen und gelernt. Dumbledores Worte bezüglich seiner Chancen auf einer Karriere als Lehrer hatten ihn ermutigt. Seinen Freunden Avery und Mulciber hatte er gesagt, dass er sich nach dem Vorfall im Zaubertrankunterricht nicht wohl gefühlt hatte und in den Krankenflügel gegangen war. Glücklicherweise glaubten sie ihm.
Doch nun, da alles, was er sich vorgenommen hatte, erledigt war, nun, da es nichts mehr zu tun gab, außer sich vielleicht in die angeregten Gespräche über den bevorstehenden Ball einzuklinken, was Severus allerdings keinesfalls in Betracht zog, zumal er nicht im Traum daran dachte, dieser dämlichen Festlichkeit beizuwohnen, versank er in Langeweile und daraus entstehenden unliebsamen Gedanken.
Langeweile, wie sie in Büchern beschrieben und im ursprünglichen Sinn bezeichnet war, kannte Severus nicht. Und er bezweifelte, dass irgendjemand sonst sie kannte. Ein Gefühl von absoluter Leere und der Abstinenz jeglicher Beschäftigungen und Gedanken, das konnte es nicht geben.
In Wirklichkeit war die Langeweile nur die stets zu vermeidende Zeit, in der man sich durch nichts von den in der Dunkelheit seines Kopfes lauernden bösen Gedanken, vor denen man in Alltagsbeschäftigungen und Zerstreuung zu fliehen versuchte, wann immer nur möglich, ablenken konnte.
Langeweile war die schutzlose Auslieferung an den eigenen Verstand, der, sobald er nicht beschäftigt wurde, anfing, Besitz von einem zu ergreifen. Langeweile, wie Worte, aus denen sie zusammengesetzt war: Eine viel zu lange Weile. Quälend lang.
„Komm doch mit raus!“, schlug Mulciber vor, als er aus dem Schlafsaal von seiner Mittagsruhe zurückkehrte und Severus alleine im Gemeinschaftsraum vorfand.
„Nein.“, antwortete dieser. „Viel zu heiß.“
„Hast wohl Recht.“, meinte Mulciber. „Dann tu mir aber einen Gefallen und setz dich wenigstens anders hin.“
Severus sah ihn entgeistert an, doch sofort streckte er die Beine aus und lehnte sich zurück.
„Danke.“, bellte Mulciber. „Du sahst aus wie ein kleines, heulendes Kind.“
„Ich hab zu danken.“, zischte Snape mit sarkastischem Unterton.
„Sei nicht immer so wehleidig.“, war Mulcibers letzter Kommentar, ehe er sich dazu entschied, noch eine Stunde an seinen Mittagsschlaf zu hängen und wieder in den Gemächern der Jungen verschwand.
Sobald er weg war, zog Severus die Knie wieder an, umschlang sie mit seinen dünnen Armen und hielt sich selbst fest, denn die Langeweile kam wieder, die bitterböse, grausame Langeweile, und er fürchtete, sich diesmal vollkommen in ihr zu verlieren.
Severus wusste, dass er nicht wehleidig war. Er war bloß verletzt. Wehleidig war, war über Schmerzen klagte, die so schlimm nicht waren. Während Severus nie auch nur ein Wort über die Qualen verlor, denen er Tag für Tag, in jeder Minute, ausgeliefert war. Er litt heimlich. Und ganz allein. Wie er es mochte. Allein. Obgleich er sich sicher war, dass sein Leid halb so furchtbar wäre, müsste er es eben nicht in Einsamkeit ertragen.
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