von mia.winchester
Der Himmel war violett, von goldgelben Streifen durchzogen und dort, wo er auf den Schwarzen See traf, färbte er sich rosarot. Die untergehende Sonne war ein glühender Edelstein in der Ferne.
Um dem aufgeregten Gerede seiner in den Vorbereitungen für den Ball steckenden Mitschülern zu entkommen, war Severus früh genug aus dem Gemeinschaftsraum geflohen. Heute war es so weit. Das Schloss würde in der Großen Halle zusammenkommen und mit tränennassen Augen den Abschied der Siebtklässler feiern.
Früher hatte Severus sich stets gefragt, wie genau diese Bälle gefeiert wurden. Zusammen mit Lily hatte er sich in ihrem dritten Jahr bei Nacht auf den Fluren getroffen. Unter größter Furcht, erwischt zu werden, hatten sie sich zur Großen Halle geschlichen, um einmal in den Festsaal zu spähen. Damals war es nicht so heiß gewesen wie heute. Es hatte geregnet, auch in der Nacht, und alle Türen waren verriegelt. Sie hatten keinen Spalt gefunden, um hineinzublicken, aber aus dem Inneren der Halle drang laute Musik und noch lauteres Gelächter.
„Wenn wir beide so alt sind...“, hatte Lily ihm zugeflüstert. „Meine Güte, Sev, stell es dir vor! In nur vier Jahren ist es so weit! Dann feiern wir diesen Ball. Ich will so gerne mal sehen, wie es da drinnen ist!“
Sie war vollkommen aufgelöst gewesen. Severus hätte zu gerne einen Spalt in den Wänden für sie entdeckt, um ihr einen Blick ins Innere zu gewähren. Er hätte zu gerne dafür gesorgt, dass sie bekam, was sie wollte. Sie war tatsächlich sehr traurig gewesen, dass ihr der Einblick ins Fest verwehrt blieb.
„Sev, wenn wir zum Ball gehen,“, hatte sie gefragt, „tanzt du dann mit mir?“
„Nein.“, war Severus' Antwort gewesen. „Natürlich nicht.“
„Nur, weil du es nicht kannst.“ Lily hatte es geliebt, ihn zu necken. Noch heute hätte er es ihr als Einzige nicht übel genommen, wenn sie ihn beleidigt hätte. Sie hätte ihn mit allen Schimpfwörtern der Welt bedenken dürfen. Wenn sie doch nur ihr Wort an ihn richtete. Wenn sie ihn doch nur ansprach.
„Doch, ich kann tanzen.“, hatte Severus gelogen. „Sehr gut sogar. Aber ich mag es nicht. Wenn ich vor den Anderen tanze, dann fühlen sie sich vielleicht eingeschüchtert.“
Nie hatte er Lily so laut lachen hören. Er hatte sie ermahnen müssen, leise zu sein, damit sie nicht doch erwischt wurden.
„Beweis es!“, hatte sie dann gefordert. „Tanz mit mir. Musik haben wir ja.“
„Nein...“, hatte Severus gedehnt gesagt. Er konnte doch gar nicht tanzen. Aber Lily hatte schon seine Hände gegriffen und tippte von den Zehenspitzen auf die Fersen, nach vorne und hinten.
„Du hast gelogen!“, kicherte sie. „Du kannst gar nicht tanzen, du Lügner!“
„Doch!“, lachte Severus.
Er konnte sich nicht erklären, was ihn damals gepackt hatte, aber er schob es auf Lilys trauriges Gesicht und den Willen, sie wieder zum Lachen zu bringen, dass er schließlich ihre Arme an den Ellenbogen umfasste, wartete, dass sie es ihm gleich tat, und dann begann, sich mit ihr im Kreis zu drehen.
Als sähen die Musiker im Inneren der Großen Halle, dass die Kinder vor ihren Türen herumwirbelten wie ein verhexter Kreisel, wurde ihr Spiel plötzlich schneller. Es war ein fröhliches, lautes Lied mit hell klingenden Violinen und wilden Trommeln. Eine herrliche Melodie.
Lily und Severus hielten sich an den Gelenken fest und wirbelten herum, so schnell es nur ging. Lily warf sich ganz in die Bewegung, legte ihr ganzes Gewicht in Severus' Hände. Er würde sie nicht loslassen. Täte er es, würde sie mit voller Wucht gegen die Steinwand krachen. Sie drehten sich so schnell, dass er seine eigenen Füße nicht mehr spürte. Er meinte, zu fliegen.
Die schwach beleuchtete Vorhalle um ihn herum verschwand, die Fackeln an den Wänden wurden Streifen von Licht, die um ihn und Lily zirkulierten, als sei es das Blut in ihren wild pulsierenden Adern.
Sie drehten sich und drehten sich und drehten sich und alles, was Severus noch klar vor sich sah, war Lilys Gesicht. Ihr Lachen, das die Musik übertönte, war das einzige, was er noch hörte.
„Ist gut, ist gut!“, lachte sie. „Ist gut, Sev, hören wir auf!“
Sie verlangsamten sich und Severus spürte den Schwindel über sich kommen. Er fühlte sich, als habe man ihm ins Gesicht geschlagen. Er hielt sich die Stirn und taumelte nach vorne, direkt in Lily hinein, die ebenfalls Schwierigkeiten hatte, sich aufrecht zu halten.
„Vorsicht, du Troll!“, prustete sie los und obwohl er beinahe hinfiel, konnte auch Severus nicht aufhören, zu lachen.
Doch dann verstummte Lily.
„Hast du das gehört?“, fragte sie. Severus spitzte die Ohren.
„Das ist nur der Regen von draußen.“, sagte er. Doch dann vernahm er ganz deutlich Schritte, die von den kühlen Wänden widerhallten.
„Flubberwurmdreck! Das ist der Hausmeister!“, stieß Lily aus. „Komm!“
Sie langte nach Severus' Arm und dann rannten sie, so schnell sie konnten, ohne zu wissen, wohin sie ihre Füße trugen, einfach zusammen weg. Und obwohl sie ganz außer Atem waren, hörten sie nicht auf zu lachen, bis sie im zweiten Stock Zuflucht gefunden hatten.
In eine Nische hinter der Tür eines offenen Klassenraums konnten sie sich endlich sicher fühlen.
„Weißt du was?“, flüsterte Lily dann. „Ich geb einen Mist auf diesen dummen Ball.“
Severus wusste nicht, ob sie das bloß sagte, damit sie nicht mehr traurig darüber war, nicht spioniert haben zu können, doch dann fügte Lily hinzu:
„Unser Ball war viel besser.“
Und er nickte und sagte: „Das war er.“
Nun, da er am Ufer des Schwarzen Sees saß, den herrlich bunten Abendhimmel ansah und erneut den Schwindel aus der Vergangenheit spürte, musste er sich hinlegen, um dass ihm nicht übel wurde. Nicht, weil das Gefühl des wilden Tanzes von damals ihn so mitriss, sondern weil er wusste, dass Lily unweit von ihm mit James tanzen würde, eng und langsam. Auf dem richtigen Ball. Auf dem richtigen, dummen Ball.
Er griff nach einem flachen, glatten Kieselstein und ließ ihn über die regungslose Oberfläche des Sees flippen. Er beobachtete, wie er auf dem Wasser sprang und schließlich lautlos darin versank. Weit oben am Horizont konnte er die blasse Silhouette des Vollmondes erkennen, der in dieser Nacht aufgehen sollte.
Vollmond. Remus Lupin, der melancholisch dreinblickende Freund von James Potter, verwandelte sich heute Nacht in einen Werwolf. Severus kam nicht umhin, voll Bitterkeit daran zu denken, wie Sirius einst versucht hatte, ihn ins Versteck des Wolfes zu locken. Er hätte sterben können, Remus hätte ihn töten können. Wenn er daran dachte, dass es James Potter gewesen war, der ihn schließlich gerettet und den Streich seines eigenen Freundes und zu diesem Zeitpunkt neu zugezogenen Mitbewohners verhindert hatte, wünschte er sich, von Stolz beirrt, stattdessen gestorben zu sein.
Dass er in dieser Form in James' Schuld stand, fühlte sich in etwa so an, als habe er sich seit Ewigkeiten nicht gewaschen.
Schmutzig. Klebrig. Widerwärtig.
Severus bezweifelte, dass James dies nicht nur getan hatte, um sich wieder als Held aufzuspielen. Und nicht von der Schule verwiesen zu werden, falls die Geschichte ans Licht kam. Dies allerdings war bis heute nicht der Fall gewesen, obgleich Severus ahnte, dass zumindest Lily von der heldenhaften Tat erfahren und aufgrund ihres letzten Fünkchens Zuneigung für ihn James als Retter ihres ehemals besten Freundes und somit guten Menschen erkannt hatte.
Es erfüllte Severus mit Genugtuung, dass zumindest einer der Rumtreiber sich heute Nacht nicht hemmungslos betrinken und etwas feiern konnte, das im Grunde genommen nur zu bedauern war.
Ein Rascheln und ein Knacken hinter ihm störten seine Ruhe. Er wirbelte herum und sah Hester MacFarlaine in einem blauen, ganz in der Farbe ihres Hauses gehaltenem Festkleid auf ihn zukommen.
„Severus?“ Zögerlich trat sie neben ihn. Sie wollte sich in ihrer edlen Robe nicht zu ihm ins trockene Gras setzen, was ihr allerdings genau so peinlich zu sein schien wie die Tatsache, nun tatsächlich mit Severus zu reden.
Verwundert blickte er sie aus tintenschwarzen Augen an. „Was?“, zischte er, gewappnet für jegliche Beleidigung.
„Gehst du nicht zum Ball?“, fragte sie. Was hatte sie vor? Ganz klar wollte sie ihn wieder verspotten. Severus überlegte, ob er allzu weit ging, sie aufgrund ihrer grässlichen Vergangenheit zu anzugreifen. Er hatte doch Möglichkeiten, ihr wehzutun, die weit über unüberlegte Schimpfworte hinausgingen! Wieso war sie so töricht, ihn dennoch aufzusuchen, hatte sie nichts aus dem Vorfall der letzten Woche gelernt?
„Nein.“, gab Severus zu, es war kaum mehr als ein Knurren.
„Wieso nicht?“, hakte Hester mit brüchiger Stimme nach.
„Wieso verziehst du dich nicht?“, war Severus' Gegenfrage. „Wenn du gekommen bist, um mich zu verspotten, dann geh. Andernfalls,-... Geh auch. Geh einfach.“
Hester schürzte die Lippen.
„Hör zu, Severus, es tut mir Leid.“, sagte sie.
„Ist schon gut.“, erwiderte er. Sich bei ihm entschuldigen und einschmeicheln zu wollen empfand er als noch schäbiger von ihr, als ihn doch zu verspotten. „Wirklich. Ist mir egal, was du gesagt hast.“
„Mhm.“, machte Hester.
„Und mir,“, rang Severus sich zu Sagen ab, „tut es Leid, dass ich... das gesehen habe. Weißt du ja. Ehrlich, das wollte ich nicht. Es ist einfach so passiert.“
„Ist auch in Ordnung.“, antwortete Hester. „Ich glaube dir.“
„Aber ich dir nicht.“, erwiderte Severus. „Ich glaube dir nicht, dass du mir glaubst.“
„Würdest du mir glauben, wenn...“ Die folgenden Worte kamen Hester nur schwer über die überschminkten Lippen. „Wenn ich dich frage, ob du mich zum Ball begleiten willst?“
Severus verschluckte sich beinahe an seinem eigenen Speichel. Was für eine grausame Art von Scherz war das? Oder meinte Hester es gar ernst? Ihr Gesicht war eine beschämte, doch flehende Maske. Was bildete sie sich nur ein? Dachte sie, nur, weil er in ihr Innerstes geblickt hatte, verbinde sie etwas mit Severus?
„Nein.“, sagte Severus knapp. „Frag jemand Anderen. Ich will nicht auf den Ball. Nicht mit dir und sowieso nicht.“
In diesem Augenblick sah er, dass etwas in Hesters Gesicht verschwand. Nein, es verschwand nicht nur. Es starb. Und das nicht nur in ihrem erschrockenen Antlitz, sondern in ihrem ganzen, von Gänsehaut überzogenem Körper. Es war die Hoffnung. Severus hatte sie ihr geraubt.
Er erwartete, dass Hester jeden Moment mit einer gemeinen Bemerkung ihren verletzten Stolz bekundete, doch es traf ihn ungemein, dass sie stattdessen zitternd nach Atem rang, als versuche sie tatsächlich angestrengt, nicht zu weinen.
„Du bist so kalt, Severus.“, wimmerte sie. „So eiskalt. Es ist egal,wie heiß es hier draußen ist, du wärst noch in der Hölle kalt.“
Da war sie, die erwartete Beleidiung. Obgleich diese wohl kaum als solche zählte, wo sie doch der bloßen Wahrheit entsprach.
„Ich mag dich eigentlich, Severus.“, brach es mit einem lauten Schluchzen aus Hester heraus.
„Seltsame Art, das zu zeigen!“, keifte Severus, der nicht wusste, wie er sonst auf den plötzlichen Anfall von weiblicher Sentimentalität reagieren sollte. Wieso auch sollte Hester ihn mögen?
Sie war furchtbar dumm. Trotzdem. Er kam sich schrecklich gemein vor. Doch er hätte auf keinen Fall Ja sagen und einfach mit ihr zum Ball gehen können. Er konnte doch nicht alles, was ihn all die Jahre lang am Leben erhalten hatte,- die Wut auf James und all die Schüler, die sich an diesem Abend um die Gesellschaft von ihm und seinen Freunden reißen würden, die Liebe zu Lily, welcher er fernbleiben musste, um nicht endgültig zu Grunde zu gehen und der Stolz, der ihn davon abhielt, solch kindischen Veranstaltungen wie dem Ball überhaupt beizuwohnen,- hinter sich lassen, und einfach mit dieser dümmlichen Person Hester MacFarlaine auf den Ball gehen. Irgendein Mädchen. Ein anderes Mädchen. Nicht Lily. Das ging nicht.
„Es gibt noch andere Mädchen als Lily Evans.“, zischte sie, als sei sie es diesmal gewesen, die in den Geist des Anderen eingedrungen war.
„Nein.“, gab Severus mit Bitterkeit in der Stimme zur Antwort. „Nicht für mich.“
Hester nickte. Sie verstand.
„Hab einen schönen Abend. Trotzdem.“, sagte er zu ihr, ehe sie sich umdrehte und davonlief.
Sie tat ihm Leid, schrecklich Leid. Severus erwischte sich dabei, wie er hoffte, dass sie einen anderen Jungen fand, der mit ihr zum Ball gehen würde. Der mit ihr tanzen würde. Der sie glücklich machte. Er wusste, dass er für alle Zeit nur mit einem einzigen Mädchen tanzen, nur ein einziges Mädchen glücklich machen wollte. Doch er konnte sie nicht mehr glücklich machen. Vielleicht hatte er es nie wirklich getan. Sonst hätte sie ihn nicht verlassen.
Was er nicht wusste, war, dass Lily Evans mit Sehnsucht im Herzen genau in diesem Moment an ihren Tanz mit ihm zurückdachte und sich fragte, ob sie je so glücklich gewesen war wie damals, im Moment des Schwindels. Ob sie je wieder so glücklich sein würde, wie damals, als ihre Lungen vom Lachen gebrannt und ihr Kopf geschwirrt hatte und Severus' Hände das einzige gewesen waren, was sie festhielt.
Sie trug ein weißes Kleid aus fließendem Stoff. Sie war sein Geist. James lächelte, als er Lily in der Menge entdeckte.
„Da bist du!“, rief er und bahnte sich seinen Weg durch die aufgeregt gackernde Schülerschaft. „Du bist wunderschön!“
Lily errötete und James freute sich über den Hauch von Farbe in ihrem bleichen Gesicht.
„Du auch.“, sagte sie leise und strich über James' schicke weiße Fliege, die hervorragend zu ihrer Robe passte.
„Oh ja, ihr seht umwerfend aus! Ich habe mich in euch verliebt!“ Sirius tauchte hinter den Beiden auf, schlang seinen in einen fast übertrieben schmuckvollen Umhang steckenden Arm um Lilys und James' Schultern und küsste beide auf die Wangen.
„Jetzt schon betrunken?“, fragte Lily besorgt.
„Heute ist ein besonderer Tag, meine Hübsche!“, säuselte er und küsste sie erneut.
„Hey, hey!“, mahnte James.
Peter tauchte auf und stimmte ins allgemeine Gelächter mit ein.
„Du kommst auch dran!“, lachte Sirius und drückte seinem besten Freund einen nassen Kuss auf die Wange. „Und du bekommst auch noch einen!“ Sirius küsste James erneut.
„Da kommt der Hund in dir durch, Tatze.“, witzelte dieser und wischte sich übers Gesicht.
„Schade, dass Moony das nicht miterleben kann.“, seufzte Sirius. „Der feiert seinen eigenen Ball in der Heulenden Hütte.“
Es mit Humor zu nehmen hatte den Animagi das Hüten des Geheimnisses ihres besten Freundes schon immer erleichtert.
„Tut mir Leid, dass der Wolfsbanntrank nicht rechtzeitig-“, setzte Lily an, doch James legte ihr den Zeigefinger auf die Lippen und brachte sie zum Verstummen.
„Ist gut, Evans.“, sagte er. „Wir sind dir nicht böse.“
Lily schluckte. Sie hasste es, wenn James sie bei ihrem Nachnamen nannte, was stets der Fall war, wenn seine Freunde ihn umringten. Wie der stolze Hirsch, den er als Animagus verkörperte, musste er sich dann auf der Anführer der Gruppe aufspielen, der so lässig war, dass er selbst seine eigene Freundin beim Nachnamen nannte. So, wie er es früher immer getan hatte.
Geh mit mir aus, Evans. Komm schon... Geh mit mir aus und ich richte nie wieder den Stab auf den ollen Schniefelus, schoss es Lily durch den Kopf. Diese Worte hatte James an sie gerichtet, kurz bevor Severus mit jenem bösartigen Wort, das für sie nach wie vor als die schlimmste aller Beleidigungen galt, endgültig zerstört hatte, was ohnehin zum Scheitern verurteilt gewesen war. Die Worte, mit denen er es ein für alle Mal kaputt gemacht hatte. Zerrissen hatte. Ersäuft hatte, in einem Meer aus Wut, Trauer und unerfüllter Sehnsucht.
Sie hatte ihn daraufhin bei seinem unliebsamen Spitznamen genannt und stehen lassen. Ein für alle Mal. Und James hatte sie geschworen, niemals mit ihm auszugehen. Beide Taten waren ihr damals endgültig vorgekommen.
Doch nun war sie verliebt. In James. Und alles war anders. Sie hatte sich ihm ergeben, hatte sich gegen ihre ursprünglichen Gefühle gestellt und zugelassen, dass in Zukunft er derjenige war, der sie hielt. Nicht Severus. Die endgültige Entscheidung von damals war keine gewesen.
Als Sirius lallend durch ihr Haar wuschelte, James sie auf die Schläfe küsste und schließlich aus der Menschenmenge auf die Tanzfläche zog, als sie sich in der Festhalle umsah und all die herrlichen Dekorationen und den Schmuck, die bunten Fahnen und die in Feuerwerk gehüllte Decke ins Auge fasste, fragte sie sich, ob die Entscheidung, sich von Severus zu trennen, ihn allein zu lassen, ebenso wenig endgültig gewesen war. Ob sie sich doch noch gegen die Vergangenheit stellen konnte.
„So sieht es hier also aus.“, seufzte sie. „Das ist der Ball.“
Es war schön hier, ja, aber nicht so schön, wie sie es sich vor langer Zeit vorgestellt hatte.
Es wurde doch ein gelungener Abend. Lily amüsierte sich entgegen ihrer Erwartung prächtig und sie hatte sogar Spaß dabei, mit James zu tanzen. Wann immer Luana oder Miranda auftauchten, zog James sie lachend von ihnen weg. Er tat ihr einen Gefallen nach dem Anderen.
Er forderte bei Professor Vektor, die sich bereiterklärt hatte, sich mit den Hauselfen um die Bewirtung der Ballgäste zu kümmern, sogar die Herstellung von Kiwipunsch, weil er wusste, dass die exotische Frucht seiner Freundin am Besten schmeckte und der bereitstehende Erdbeerpunsch ohnehin viel zu süß war. Und im Laufe des Abends erschien dann tatsächlich eine große Schale leuchtend grünen Punsches auf dem Buffettisch.
„Die Hauselfen sind so fleißig.“, lobte Lily, als James ihr ein volles Glas brachte. „Sie werden wirklich unterschätzt.“
„Oh, ja, sicher.“, witzelte James. „Gründe doch eine Hauselfenschutzorganisation.“
„Das ist gar keine so schlechte Idee!“, kicherte Lily und lehnte sich an seine Schulter. Sie beobachteten Sirius, wie er die Tanzpartnerinnen im Sekundentakt wechselte und Peter, der unbeholfen mit einer Hufflepuff herumwirbelte, die gut zwei Köpfe größer war als er.
Um kurz vor Zwölf rieselten Blütenblätter von der Decke des Schlosses und die Band, eine im Radio ganz populäre Gruppe dreier Hexen mit buntgefärbten Haaren, die auf einer in goldene Tücher gehüllten Bühne stand, stimmte ein langsames Lied an.
„Komm.“, forderte James seine Freundin auf.
„Das ist viel zu kitschig.“, maulte Lily und regte sich nicht.
„Ach wo, komm einfach.“ James nahm Lily bei der Hand, doch statt sie wieder auf die Tanzfläche zu führen, zog er sie zum Ausgang.
„James, wo gehen wir hin?“, verlangte Lily zu wissen, doch James schüttelte nur den Kopf, lachte und zog sie hinaus in die Dunkelheit der Eingangshalle.
„Ich weiß doch, dass dir das zu kitschig ist.“, erklärte James. „Wir gehen woanders hin.“
„Ich möchte hier nicht sein.“, flüsterte Lily, als die Tür zum Ballsaal sich schloss. Sie wollte nicht da stehen, wo sie mit Severus getanzt hatte, am Abend des Balls, nur viele, viele Jahre zuvor. James nickte.
„Ich will hier auch gar nicht bleiben.“, meinte er und zog sie einfach weiter. „Los, komm!“
Lily gehorchte und ließ sich von ihm auf das Schulgelände entführen. Sie liefen über die nachtschwarzen Länderein. Der Vollmond stand gleißend hell über ihnen am Himmel.
„Sieh nur, wie schön!“, hauchte Lily und deutete auf die kristallene Kugel am Horizont.
„Nicht für Moony.“, stellte James fest und zuckte mit den Schultern.
Sie waren stehen geblieben, auf einer Anhöhe oberhalb des Schwarzen Sees. Ein Felsen bot Schutz und Sitzmöglichkeit zugleich. James ließ sich auf dem kühlen Stein nieder und zog Lily zu sich hinab, auf seinen Schoß. Sofort trafen ihre Münder aufeinander, ihre Körper vereinten sich in einem innigen, eng umschlungenen Kuss.
„Der langsame Tanz ist zu kitschig, und du entführst mich bei Vollmond zum See?“, flüsterte Lily sarkastisch in James' Ohr.
Er lachte und biss sie im Kuss in die Unterlippe. Lily durchflutete freudige Überraschung und Erregung zugleich. An solche Rauheit in seinen Berührungen war sie nicht gewohnt. Dabei war es doch gerade eine bestimmende Härte in Küssen und Griffen, die ihr gefiel.
Sie schlang ihre Beine enger um James' Mitte und erwiderte seine Geste. Er wich zurück, vollkommen entgeistert von Lilys plötzlich entfesselter Wildheit.
„Evans...“, keuchte er und lachte.
Lily war gerade dabei, den Verschluss ihres Kleides zu öffnen, als sie ein Rascheln hinter sich vernahm. Sie wirbelte herum.
Der Vollmond fing sich in seinen schwarzen Augen, blendete sie. Sein Mund leicht geöffnet, war wie von körperlichem Schmerz verzogen.
„Nein...“, wisperte sie.
James, der durch nicht sehen konnte, wen sie dort hinter sich erblickt hatte, reckte den Hals.
„Nein.“, wisperte Lily wieder.
Und dann war alles kalt. Auf James' Schoß saß ein Geist, ein trauriger, ängstlicher Geist. Er berührte Lilys Brüste, doch in ihnen war nichts mehr von dem Feuer zu fühlen, mit dem sie ihn eben noch gebissen hatte.
Und dann wusste er, wer dort stand. Er warf Lily von sich und griff nach seinem Zauberstab.
„James, nein!“, rief Lily.
„Stu-“, setzte James an, doch Severus kam ihm zuvor.
„Expelliarmus!“
James' Zauberstab flog ihm aus den Händen und kam mit einem hölzernen Klirren auf einem weiter entfernten Felsen auf.
„Du dreckiger, mieser Spanner!“, schimpfte James. „Verschwinde von hier, bevor ich dich in die Finger kriege!“
Doch Severus rührte sich nicht.
„Severus, geh!“, rief Lily.
Er riss die Tintenaugen auf und starrte sie an. Sie hatte seinen Namen gesagt. Es hatte wie eine Warnung geklungen, als wolle sie ihn vor dem drohenden Groll ihres Freundes schützen.
„Severus!“, brüllte sie, während James nach davon eilte, um seinen Zauberstab aufzuheben.
Severus rührte sich nicht. Er wollte, dass Lily noch einmal seinen Namen sagte. Noch einmal nur, dann würde er gehen.
Doch als sie ihn dann zum Dritten mal rief, war es zu spät.
Enge Fesseln schlangen sich um seinen Hals, zwängten ihn zu Boden. Er erstickte. Er war dabei, zu ersticken.
„Incarcerus!“, noch einmal. James erschien über ihm, den Zauberstab auf sein Gesicht gerichtet. „Wie gefällt dir das?“
„James, lass ihn!“, flehte Lily und fiel neben dem sich in seinen Fesseln windenden Severus zu Boden. Als sie die Finger unter die engen Seile schob, war es das erste Mal seit zwei Jahren, dass sie ihn berührte. Trotz der allesüberlagernden Atemnot nahm Severus ihre Finger auf seiner Haut so deutlich war, dass er sofort von einem sanften Kribbeln erfüllt wurde. Es bot Erleichterung in diesem Moment der größten Not.
„Lass ihn frei, James!“, kreischte Lily. „Sofort!“
James gehorchte. „Finite incantatem.“, seufzte er resignierend.
Die Fesseln lösten sich, Severus schnappte nach Luft. Er wollte sich aufrappeln, wollte Lily in die Arme schließen. Noch immer lagen ihre Hände an der Stelle seines Halses, an der sie versucht hatte, ihn von dem Fesselzauber zu befreien.
„Wie konntest du nur?“, weinte Lily. „James, du hättest ihn umbringen können!“
„Es tut mir Leid!“, wisperte James. „Lil, es tut mir Leid. Und Severus, bitte, entschuldige-“
Dass James Reue zeigte, ließ Severus mit einem Mal eine ungeahnte Macht verspüren. Er stand mit einer raschen Bewegung auf, selbst, wenn er dafür die Berührung Lilys unterbrechen musste.
„Nein!“, donnerte er. „Das ist nicht zu entschuldigen. Halt dein dreckiges Maul, Potter!“
In seiner Stimme lag eine Bitterkeit, wie Lily sie noch nie bei ihm gehört hatte. Ohnehin erschütterte es sie, nach so langer Zeit so nahe bei ihm zu stehen, ihn laut und deutlich sprechen zu hören. Bei ihm zu sein. Sie konnte sich nicht beherrschen. Tränen stiegen in ihre Augen, flossen über ihr Gesicht. Weder James noch Severus bemerkten es.
„Potter.“, spie Severus aus. „Du arroganter, widerlicher, dreckiger Mistkerl!“
James öffnete den Mund, doch er wagte es nicht, Severus in Lilys Beisein zu beleidigen. Er wusste, wie sehr die Erinnerungen an ihn sie quälten, besonders in letzter Zeit.
„Sei leise, Severus.“, knurrte er stattdessen. „Tu uns einen Gefallen und verzieh dich.“
„Potter.“, würgte Severus noch einmal hervor. „Ich hoffe, du weißt, dass es nur einen einzigen Grund gibt, weswegen ich dich nicht aufschneide. Glaub mir, ich könnte.“
Lily schluchzte laut auf. Sie wusste, sie war dieser Grund.
Severus sah ihr in die Augen. Und sie sah ihn an. Und so nah, wie sie sich waren, war dieser Blick anders als die zahlreichen kühlen Blicke, die sie einander in der Großen Halle zuwarfen. Diese waren wie ein Zwang, eine unliebsame Gewohnheit. Aber das Zusammentreffen des grünen Sees und der schwarzen Tinte, das Zerfließen Beider, war in jenem Moment ganz freiwillig und alles, was sie wollten. Ein so inniger, sehnsüchtiger Moment, in dem sich Beide wünschten, in den Augen des jeweils anderen ertrinken zu können. Damit die Schmerzen aufhören. Damit es endlich vorbei war.
Severus wünschte sich zurück in die Zeit, in der er von sommerlicher Trägheit erfasst in den trockenen Wiesen am Stadtrand von Cokeworth hatte liegen können, mit geschlossenen Augen sicher, dass Lily neben ihm ihn nicht verlassen würde.
Er wünschte sich zurück in die Kronen der Bäume, die sie zu zweit erklommen hatten, wo er ihr leichte Zauber beigebracht und sie in seine Welt entführt hatte.
Und weil er nicht zurück konnte, zurück zum Anfang der Geschichte, wollte er doch, dass sie endlich endete. Dass es endlich vorbei war.
Aber es war nicht vorbei.
Es endete nicht.
Nicht, als Severus sich schließlich doch umdrehte und davonlief.
Nicht, als seine Silhouette mit der dunklen Nacht verschmolz und er nicht mehr zu sehen war.
Nicht, als James die weinende Lily in die Arme schloss und sich abermals entschuldigte.
Nicht einmal, als am nächsten Morgen die Sonne aufging, heiß wie eh und je, und das Schloss in eine unschuldige Wärme tauchte, die nach Abschied und Alkohol roch.
Es endete nie.
Nicht bis zum grünen Blitz, nicht bis zum Schlangenbiss.
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