von mia.winchester
Lily war in James' Armen eingeschlafen, obgleich es ihr in dieser Nacht beinahe zuwider gewesen war. Sie hatte sich nicht an den Jungen schmiegen wollen, der bereit gewesen war, zuzusehen, wie ein anderer Junge an seinem Fluch verstarb. Noch dazu Severus Snape.
Doch sie war so erschöpft gewesen, vom Weinen, vom Bangen und Fürchten und sowieso, wo sie doch tatsächlich getanzt hatte, bis ihr die Füße schmerzten, dass sie sich nicht gegen ihn hatte wehren können. Er hatte sie ohne große Mühe hochgehoben und im Gemeinschaftsraum der Gryffindors neben sich auf einem der gemütlichen Sofas gebettet. Sie hatte ihm den Rücken zugewandt, doch er umschlang sie mit beiden Armen und hielt sie so fest er nur konnte. Als er sicher war, dass sie schlief, vergrub er das Gesicht in ihrem flammend roten Haar und wisperte eine Entschuldigung, welche er ihr persönlich zu sagen nie gewagt hätte. Sie galt auch Severus.
Dieser allerdings schlief nicht. Er saß aufrecht in seinem Bett, starrte in die Nachtgesichter seiner Mitschüler und biss sich auf die Unterlippe, bis es blutete.
Er hatte den ganzen Abend am See gesessen. Hatte Steine auf dem Wasser tanzen lassen, statt an die tanzende Lily zu denken. Doch dann, um Mitternacht, zur Geisterstunde, hatte er gefühlt, dass sie näher kam. Er hatte sich aufgerappelt und da hatte er sie gesehen. Mit James, auf dem Felsen.
Er hatte wegrennen wollen, doch da hatte Lily ihn schon entdeckt. Ihr Blick, als sei Severus selbst seinem Fluch, Sectumsempra, zum Opfer gefallen. James hatte ihn beschimpft und angegriffen und alles in Severus hatte danach geschrien, Rache zu nehmen. Doch er konnte nicht. Hätte er James wehgetan, hätte er Lily wehgetan. Und er wollte Lily nicht wehtun. Nie, nie wieder. Dennoch hatte sie geweint wegen ihm.
Und nun saß er einsam in einem Raum voll schlafender Jungen und konnte selbst nicht weinen. Er wünschte es sich so sehr, denn die Tränen, das kehlige Schluchzen seines geschundenen Herzens ruhte in seinem Inneren und wartete nur darauf, auszubrechen, doch nichts geschah. Er blieb stumm, schluckte die Tränen und fraß den Kummer, ließ sich schließlich in die warmen Kissen sinken und schloss die Augen. Nicht, weil er sich einbildete, doch noch Ruhe zu finden, doch weil seine Augen brannten. So sehr. Und keine Tränen kamen, um das Brennen zu lindern. Da war nichts, was den Schmerz betäuben konnte.
Er zog die Knie an, unter der Decke, sodass niemand es sehen konnte, umschlang sie mit den Armen und fühlte sich wie ein kleines Kind. Beinahe, wie Mulciber ihn beschrieben hatte.
Er wünschte sich Schlaf, er wünschte sich Betäubung. Für einen fiebrigen Moment überlegte er, ob er noch ein Fläschchen voll Trank der Lebenden Toten in seinem Koffer hatte. Er rollte sich aus dem Bett und öffnete behutsam die knarzende Klappe seines Zaubertränkekoffers. Doch alles, was er dort fand, war ein Vorrat an Vielsafttrank, einige Fläschchen mit Stärkungstränken, Murtlap-Essenz und eine von Slughorn gewonnene Phiole Felix Felicis, die er anzuwenden verweigerte.
Er wollte seine Sinne nicht täuschen mit einem eingebildeten Glück, das nach Wirkungsende des Trankes so schnell verschwand, wie es gekommen war. Selbst, wenn er alles für nur einen weiteren Tag mit Lily, am liebsten in der Art ihrer gemeinsamen Kindheit, gegeben hätte, so fürchtete er sich doch vor dem Ende jenes Tages, fürchtete sich davor, sie ein zweites Mal zu verlieren.
Also hatte er beschlossen, Felix Felicis aufzubewahren, ehe er das Gebräu an jemanden geben konnte, der besseres damit zu erwarten hatte als er.
Doch einen Schlaftrunk konnte Severus nicht finden. Bloß ein verschmutztes Fläschen mit Trunk des Friedens. Mit zitternden Händen nahm er es aus seiner Vorrichtung.
Er spielte mit dem Gedanken, es in einem Zug zu leeren, doch er konnte sich nicht entsinnen, wann genau er diesen Zaubertrank gebraut hatte, obgleich sofort eine dunkle Ahnung über ihn kam. Er verdrängte sie, doch trank trotzdem nicht. Denn er wusste, dass nur eine kleine Abweichung vom vorgesehenen Rezept dieses Trankes zu verheerenden Folgen führen konnte und er wagte es nicht, das Risiko einzugehen.
Leise fluchend klappte er den Koffer wieder zu und kehrte in sein Bett zurück. Der nachtschwarze See vorm Fenster, das geisterhafte weiße Licht des Vollmonds über ihm. Severus seufzte. Es war ein schöner Anblick. Sein Bett stand genau am Glas, er streckte die Hand aus und fuhr mit den Fingerspitzen über die glatte Oberfläche, in Erwartung, das Wasser dahinter zu spüren. Doch seine Hände blieben trocken, das Fenster trennte ihm vom See.
Dann wurde ihm klar, dass seine Ahnung, wann er den Trank gebraut hatte, der Wahrheit entsprach. Und weil es nun, da alles verloren war, auch nicht mehr zählte, ob er sich seinem Schmerz endgültig hingab, beschloss Severus nicht mehr gegen die Erinnerungen anzukämpfen. Nicht bis zum letzten Tag der Woche. Nicht bis zum letzten Tag, an dem er Lily sehen würde, ehe James sie ihm vollends wegnahm, mit ihr davonzog und ein Leben begann, in dem er nichts als der dunkelste Teil einer unschönen Vergangenheit sein würde. Nicht bis zum letzten Tag des Sommers.
Er war vierzehn, es war der Sommer zwischen dem dritten und vierten Schuljahr. Nachmittags hatte er sich aus seinem Elternhaus geschlichen. Seine Mutter war in einen heftigen Streit mit seinem Vater geraten. Severus wusste nicht einmal, worum es ging, aber Tobias hatte seine Frau erneut als unreine Hexe beschimpft und für den Jungen hatte dies als Grund gereicht, davonzulaufen. Er hatte seinen Zaubertränkekoffer genommen und war gegangen. Er wusste, wohin.
„Komm rein!“, rief Lily, nachdem sie den Kopf aus ihrem Zimmerfinster gesteckt hatte. Ihr flammend rotes Haar, damals ungeschnitten noch hüftlang, fiel wie flüssige Lava aus dem Rahmen und Severus erinnerte sich an ein Muggelmärchen, das Mrs Evans ihm und Lily vor langer Zeit bei einem großen Glas kalter Milch vorgelesen hatte. Darin erklomm ein mutiger Muggelprinz den verwunschenen Turm einer einsamen Prinzessin, indem er sich an ihrem ewig langem, geflochteten Haar hochzog.
Das Haus der Familie Evans stand am Rande des Ortes Cokeworth, in dem die meisten Heime kastige Reihengebäude aus dunklen Steinen waren, dicht aneinander gereiht und ohne jeglichen Charme. Wie das Haus, in dem Severus mit seinen Eltern lebte. Doch abseits der Innenstadt gab es einige hübsche Gebäude, und eines davon nannte Lily ihr Zuhause.
An warmen Tagen wie diesen stand die Haustür der Evans' offen. Außerdem befand sich Mr Evans ohnehin die ganze Zeit über in seinem Vorgarten, wo er den fein gestutzten Rasen bewässerte und sich um die Pflege seines Blumenbeetes kümmerte.
Mr Evans war ein rundlicher, liebenswerter Mann mit mausgrauen Haaren, der sich stets freute, Severus zu sehen. War ihm sein eigener Vater nie wirklich einer gewesen, so fühlte er sich Lilys Vater doch sehr zugetan. Obgleich Mr Evans seine Tochter stets ermahnte, dass ihn etwas an dunklen Augen des Snape-Jungens beunruhigte, war er, in Severus' Anwesenheit stets freundlich.
Severus trat in das Haus der Familie seiner besten Freundin und sofort hüllte ihn der Duft von frisch gebackenem Kuchen und wohliger, ruhiger Liebe ein. Wenn er aus seinem Zuhause direkt in das Heim der Evans-Familie kam, hatte er stets das Gefühl, in eine ganz andere Welt appariert zu sein.
Leider wurde der Friede im Haus durch das unliebsame Familienmitglied Petunia gestört. Obwohl sie mittlerweile akzeptiert zu haben schien, sich das Haus mit einer begabten Hexe zu teilen, schien der Groll über ihre eigene Banalität sie noch immer gefangen zu halten. Waren sie früher eng verbunden gewesen, so hatte die Schwesternliebe zwischen Tunia und Lily zu schwinden begonnen, als die Jüngere sich mit Severus angefreundet hatte. Den endgültigen Bruch hatte ihre Verbindung erlebt, als der Brief von Hogwarts eingetroffen war, sich Mr und Mrs Evans vor Stolz überschlagen und Petunia erkannt hatte, dass sie selbst es nie so weit bringen würde, wie Lily es bereits in ihrem ersten Schuljahr geschafft hatte.
Lily litt unter der Abneigung ihrer Schwester und war nicht mehr gern Zuhause. Severus verstand sie, trotzdem hätte er nichts lieber gehabt, als in ihrem Haus zu leben. Er würde die maulende, meckernde, pferdegesichtige Petunia rund um die Uhr ertragen, könnte er doch nur Teil dieser Familie sein.
Ohne zu klopfen trat er in Lilys Zimmer. Sie saß auf ihrem Bett und lächelte ihn an, doch Severus merkte sofort, dass dies Lächeln eine Lüge war.
„Was ist los, Lil?“, fragte er und warf sich neben sie auf den weichen Berg von Kissen.
„Nichts.“ Lily wollte stark sein. Immer.
„Lüg mich nicht an. Es hat keinen Sinn. Das solltest du nach all den Jahren eigentlich wissen.“, flüsterte Severus. „Also. Was ist los? Petunia?“
Lily nickte. Doch dann schüttelte sie umso den Kopf. „Ja und nein.“
Plötzlich, ganz unerwartet, brach sie in Tränen aus. Severus erschrak. Ihr Leid lähmte ihn, als sei es sein eigenes, doch als sie sich gegen seinen Brustkorb warf und ihre Tränen sein zerflicktes Hemd durchnässten, kam er nicht umhin, Glück zu fühlen. Er drückte sie an sich und ließ sie weinen, während er in ihr Haar flüsterte, dass alles gut werden würde. Es war seltsam, Lily weinen zu sehen. Seine starke, mutige Lily. So schwach. Als ihr Schluchzen abebbte, fragte er noch einmal:
„Was ist los?“
„Rumy ist tot.“, sagte Lily leise. „Sie wurde überfahren.“
Severus schluckte schwer. Der Verlust ihrer rotgetigerten Katze, welche Lily von ihren Eltern zum ersten Schultag in Hogwarts bekommen hatte, traf auch ihn. Er hatte es gemocht, die Finger in ihrem dichten Pelz zu vergraben und wenn er mit Lily einen seltenen Muggelabend gemacht und sich Filme in ihrem kleinen, rauschenden Fernseher angesehen hatte, hatte sich Rumy stets auf seinem Schoß zusammengerollt.
„Das tut mir Leid.“, sagte er ganz ehrlich und strich Lily über ihr gesenktes Haupt.
„Petunia hat sie heute Morgen gefunden.“, fuhr Lily fort. „Sie hat gelacht. Hat gesagt, endlich ist das stinkende Vieh tot.“
„Petunia ist selbst ein stinkendes Vieh.“, knurrte Severus. Am liebsten wäre er in das Zimmer der großen Schwester marschiert und hätte ihr das lange Gesicht eingetreten. „Diese blöde Schnepfe hat doch keine Ahnung.“
Lily nickte nur. Trotz allem gab sie ihm selten das Recht, böse über ihre Schwester zu reden, doch heute war sie so aufgebracht, dass sie ihn gewähren ließ. Wieder brach sie in lautes Schluchzen aus.
„Lily, du musst dich beruhigen.“, ermahnte Severus sie. „Sonst bekommst du Kopfschmerzen und wirst krank und-“
„Ich kann mich nicht beruhigen.“, weinte Lily.
Da fiel Severus etwas ein. „Ich braue dir einen Trunk des Friedens. Nur ein kleines bisschen, damit du zur Ruhe kommst. Ich hab meinen Koffer mit, ich dachte, wir könnten an unserem Vielsafttrank weiterarbeiten. Aber der Trunk des Friedens ist kompliziert, doch schnell gebraut.“
„Du willst mich unter Drogen setzen?“, maulte Lily, doch ihr gefiel der Gedanke. Sie wusste, was für ein außerordentlich guter Braumeister ihr bester Freund war. „Gut.“
Severus rutschte von der Matratze, nicht ehe er ihren Kopf auf zwei weiche Kissen gebettet hatte. Dann machte er sich ans Werk. Er hatte alle Zutaten dabei.
Es dauerte zwei Stunden, in denen Lily immer wieder zu Weinen begann, dann war der Zaubertrank fertig. Severus vergewisserte sich, dass er alles richtig gemacht hatte und war dankbar dafür, dass das Herstellen von Zaubertränken nicht unter die Richtlinien vom in den Ferien auferlegten Zauberverbot für minderjährige Schüler lag. Dann verabreichte er Lily einen kleinen Löffel des Gebräus. Ihre Augen weiteten sich, ihre Tränen schienen jäh zu trocknen.
„Danke.“, hauchte sie und sank zurück in die Kissen. Sie schloss die Augen und schlief mit einem ruhigen Lächeln auf den zarten Lippen ein, als habe sie stattdessen den Trank der Lebenden Toten getrunken. Severus stand eine Weile da und beobachtete sie. Er fragte sich, wie es wäre, wenn er ebenfalls etwas vom Trunk des Friedens nehmen und sich neben sie legen würde. Die Sinne von falscher Ruhe betäubt würde er mutig genug sein, ihre Hand in seine zu nehmen.
Er dachte an ein weiteres Muggelmärchen, eines, in dem ein Prinz eine Prinzessin, die für viele Jahre geschlafen hatte, durch den Kuss der wahren Liebe weckte. Severus schmunzelte. Er wagte es nicht, die schlafende Lily zu küssen. Und wenn er sie schon küsste, wenn er schon das tat, was er tun wollte, seitdem er sie zum ersten Mal gesehen hatte, seitdem sein Blick zum ersten Mal auf ihre rosigen Lippen gefallen war, dann wollte er, dass sie es auch spürte, dass sie es mochte, dass sie seinen Kuss erwiderte. Dass es vollkommen war.
Und weil er wusste, dass dies nie geschehen würde, wollte er auch nun darauf verzichten, sich einen falschen Kuss zu erschleichen.
Trotzdem wünschte er sich, der Prinz aus dem Märchen sein zu können. Er wollte ein Prinz sein, ja. Severus Snape, der Prinz. Der Halbblutprinz.
Plötzlich kam ihm eine Idee. Er stürmte aus dem Zimmer hinunter in die Küche, wo Mrs Evans gerade den Kuchen in Stücke schnitt. Es war bereits Abend, aber das süße Gebäck schien der Familie als Abendbrot dienen zu sollen.
„Hallo, Severus!“, begrüßte sie ihn zögerlich. „Ich habe gar nicht mitbekommen, dass du hier bist.“
„Guten Tag, Mrs Evans.“, grüßte Severus die hübsche Frau in der Kittelschürze.
„Sicherlich hast du schon mitbekommen, was geschehen ist.“, hauchte sie mit bedauernder Stimme. „Arme Lily. Wo ist sie?“
„Sie schläft.“, sagte Severus. Den Zaubertrank erwähnte er nicht. Sicherlich wusste Mrs Evans nicht einmal, dass solche Tränke existierten.
„Das mit Rumy ist wirklich eine schlimme Sache.“, sagte Mrs Evans kopfschüttelnd.
„Genau darüber wollte ich mit Ihnen reden.“, gab Severus dann zu.
„Was möchtest du denn?“, fragte Mrs Evans und lud ein großes, saftiges Stück Obstkuchen auf einen Teller, den sie dann Severus in die Hand drückte. Ganz selbstverständlich, weil sie wusste, dass er Obstkuchen liebte und Zuhause nie solch feine Speisen zu Essen bekam.
„Wo ist Rumy?“, fragte Severus.
Mrs Evans machte ein erschrockenes Gesicht. „Ihre Leiche?“, fragte sie vorsichtig.
„Ja.“, gab Severus zur Antwort.
„Petunia hat sie heute Morgen gefunden, ich glaube, sie ist auf der Terrasse.“, antwortete Mrs Evans.
„Wollen Sie sie begraben?“, fragte Severus.
„Hör zu, Severus, wenn du... Wenn du irgendeinen Zauber anwenden willst, um sie wieder lebendig zu machen, ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist.“, stammelte Mrs Evans mit unverkennbarer Angst in den blauen Augen.
„Nein, nein.“, lachte Severus. „Kein Zauber kann die Toten wieder lebendig machen. Aber ich dachte, es wäre schön, Rumy ein ordentliches Begräbnis zu bieten. Mit Trauerfeier. Und allem.“
„Meinst du nicht, das ist ein bisschen übertrieben?“, hakte Mrs Evans nach.
Severus spürte Wut in sich aufkochen. „Nein.“, war seine scharfe Antwort. „Das ist genau richtig.“
„Also gut, dann...“ Mrs Evans wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Soll Rumy eine angemessene Beerdigung bekommen.“
„Fein.“ Severus lächelte. „Wo haben Sie einen Spaten?“
Eine gute Stunde später hatte Severus ein Loch im schicken Vorgarten der Familie Evans ausgehoben. Er hatte den zerschundenen Körper der toten Katze in einen mit Seide ausgelegten Pappkarton gebettet. Das Blut klebte ihm an den Fingern und er beschloss, den Sarg zu schließen, damit Lily den Anblick der grässlichen Überreste ihrer einstigen Freundin nicht noch einmal ertragen musste.
Dann weckte er sie. Lily schlug langsam die Augen auf, lächelte ihn an. Der Trunk des Friedens wirkte noch.
„Komm.“, sagte er leise und half ihr auf die Beine. Gewillt, ihm überallhin zu folgen, ergriff Lily seinen Arm und ließ sich von ihm in den Garten führen. Als sie sah, was Severus dort getan hatte, weinte sie wieder, aber weil sie so ruhig war, so selig, waren es bloß leise und silbern schimmernde Tränen der Rührung.
In einem Steinkreis unter der Eiche war ein Häufchen Erde aufgehoben worden, auf dem umgepflanzte Hortensien wucherten. Ein schiefes Holzkreuz, auf welchem in Severus' Handschrift Rumy stand, und eine sanft flackernde Kerze standen in den Blüten.
„Danke.“, hauchte Lily. „Du bist der Beste, Sev.“
Severus wusste kaum, wie ihm geschah, als Lily ihre Lippen auf seine glühende Wange drückte.
„Das ist das liebste, was jemals jemand für mich getan hat.“, flüsterte sie.
„Es war ganz allein Severus' Idee.“, sagte Mrs Evans, die soeben aus dem Haus getreten war.
„Meine schönen Hortensien.“, seufzte Mr Evans. „Aber es ist wirklich sehr hübsch geworden.“
„Danke.“, sagte Lily noch einmal. „Danke, Sev.“
Keiner von ihnen achtete auf Petunia, die naserümpfend im Türrahmen stand und argwöhnisch auf das Grab der Katze starrte.
Lilys Eltern gingen ins Haus zurück, doch sie und Severus blieben noch eine Weile an Rumys Ruhestätte stehen.
„Severus, was glaubst du, wie es im Himmel ist?“, fragte Lily plötzlich. Es war eine unfassbar kindisch klingende Frage aus dem Mund der Vierzehnjährigen Lily, doch Severus nahm sie vollkommen ernst. Genau darum sagte er:
„Es gibt keinen Himmel, Lily.“
„Aber wo fliegen dann die Seelen der Toten hin?“, hakte sie mit brüchiger Stimme nach.
„Na ja. Entweder, sie werden zu Geistern. Oder sie verschwinden.“, meinte Severus trocken. „Und alles, was bleibt, ist die Erinnerung an sie. Wenn überhaupt."
„Nein, Severus.“, sagte Lily fest entschlossen. „Das glaube ich nicht.“
„Was glaubst du dann?“, fragte er interessiert.
Lily ging auf die Knie, fuhr mit den Fingerspitzen über die violetten Blüten der Hortensie, drehte sich dann zu Severus um und sagte: „Ich glaube, unsere Seelen wandern nach dem Tod an einen Ort, der überall dort ist, wo die Herzen dener schlagen, die an uns zurückdenken."
„Das habe ich doch gesagt.“, erwiderte Severus.
„Nein. Du sagst das, als würde die Erinnerung nur ein blasser Gedanke sein. Aber ich glaube, dass wir in diesen Erinnerungen wieder genau so lebendig sind, wie wir es einst waren. Und für uns ist es, als kämen wir an den Ort, nach dem wir uns schon unser ganzes Leben lang gesehnt haben. Und da können wir machen, was wir wollen, sein, wer wir wollen, und einfach nur glücklich sein.“ Lily schien fest überzeugt von ihrer These. Doch Severus konnte ihr nicht glauben. Ihr zuliebe lächelte und nickte er dennoch.
Er sagte: „Wenn du meinst.“
Und gab auf. Ergab sich ihrer.
„Irgendwann werden wir es sehen.“, seufzte Lily. „Aber bis dahin ist hoffentlich noch genug Zeit.“
„Zeit, die wir nutzen müssen.“, sagte Severus.
„Zeit, die schön wird.“, versprach Lily.
„Hoffentlich.“ Dieses letzte Wort, an welches Snape sich von diesem Abend erinnern konnte, hallte in seinen Ohren nach, als er, drei Jahre später, den Kopf in seine Kissen drückte und sich wünschte, zu ersticken.
Seine Hoffnungen hatten nichts genützt. Sie hatten über den Tod gesprochen und nun wünschte er sich ihn herbei. Doch er würde nicht sterben. Er würde die ganze Nacht über wach liegen, im Silberschimmer des Mondsees, würde an Lily denken und sich wünschen, sie mit einem Trunk des Friedens betäuben, mit sich zu ziehen und neben sich betten zu können.
Sie anzusehen, sie zu berühren. Und im Schlaf zu küssen, wie er es damals nicht getan hatte. Der Prinz sein, der wirkliche Prinz, und nicht der Halbblutprinz, zu dem er inzwischen wirklich geworden war.
Derjenige zu sein, nach dem sie sich sehnte, von dem sie träumte.
Derjenige, der ihre Worte und Märchen glauben konnte und sie gleichermaßen in den seinen einspinnen konnte. Derjenige, der ihren Geschichten lauschte.
Und seine eigene mit ihr schrieb.
Die Geschichte des Prinzen.
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