von mia.winchester
Am vorletzten Tag im Schloss setzte plötzlich ein Gewitter ein.
Der Unterricht war zäh und trocken. Niemand wusste, wieso überhaupt noch unterrichtet wurde, nun, da die Prüfungen abgeschlossen, und größtenteils bestanden waren, nun, da sowieso alles endete. Es war, als hätte man vor dem großen Regen das Land bewässert. Absolut nicht nachzuvollziehen.
Lily saß neben Remus im Unterricht für Verwandlung. Professor McGonagall redete ohne Pause im selben ermatteten Ton, als plötzlich ein lautes Donnern die Gemäuer des Schlosses erschütterte.
„Was bei Merlins Bart war das?“, stieß Remus aus. Er sah kränklich aus, der Vollmond machte ihm stark zu schaffen.
„Gewitter!“, gelobte Sirius. „Die Regenzeit bricht an!“
Einige Schüler lachten und Sirius grinste in die Menge.
„Mr Black, würden Sie sich bitte wieder setzen?“ Professor McGonagall war froh, dass in zwei Tagen die Zeiten der Maßregelungen endlich ein Ende haben würden. Nie hatte sie solch übermütige, aufmüpfige und arrogante Schüler unterrichten müssen wie die Gruppe von übermäßig stolzen Gryffindors um Sirius Black und James Potter. Dass sie die Jungen stillheimlich gut leiden konnte, hätte Minerva McGonagall nie zugegeben.
Sirius, der im Ausruf aufgesprungen war, nickte. „Alles klar, Minerva, Schätzchen.“
„Ich muss doch sehr bitten.“, prustete die Professorin. „Nur, weil dies hier die letzte Unterrichtsstunde ist, die Sie mit mir haben, heißt das nicht, dass ich Ihnen für ihre Frechheit nicht noch Hauspunkte abziehen oder Sie zum Schulleiter schicken kann.“
„Tz.“, machte Sirius und schlug die Beine auf dem Tisch übereinander.
Die Mädchen in den hinteren Reihen stöhnten hingerissen auf, Lily verdrehte die Augen.
„Reiß dich zusammen, Tatze.“, zischte sie über die Schulter.
Sirius hob die Brauen. „Wieso so gereizt, Evans?“
Doch Lily gab ihm keine Antwort. Sie drückte den Federkiel so fest auf ihr Pergament, dass die Spitze abbrach.
„Lil, ist alles in Ordnung?“, hauchte ihr Remus sorgenvoll zu. In all den Jahren war er derjenige gewesen, der versucht hatte, seine Freunde vor den größeren ihrer Dummheiten zu bewahren, er war vernünftig gewesen, feinfühlig, sensibel. Dennoch hatte er sie nie abgehalten, Severus zu verspotten. Severus, der lebendiger denn je war in Lilys Erinnerungen. Severus, an den sie dachte, ob draußen die Sonne schien, oder wie jetzt, das Gewitter einsetzte.
Denn vor vielen Jahren, das Andenken stürmte durch Lily wie das Unwetter vor den Fenstern, noch bevor sie mit ihm nach Hogwarts gegangen war, da war sie mit ihm vor einem Gewitter über die Felder geflüchtet. Sie hatten sich, töricht und dumm wie sie waren, in der Nähe eines Baumes ins hohe Gras gehockt.
„Das ist das Ende!“, hatte Lily gewimmert, die Haare nass in ihrem ängstlichen Gesicht klebend.
„Ach was!“, hatte Severus gesagt, doch auch er sah, mit angezogenen Knien und gebeugtem Rücken aus, als erwarte er das Schlimmste.
Und dann war es geschehen. Der Blitz hatte mit voller Wucht den Baum getroffen, das Krachen schien die Trommelfelle der Kinder zum Bersten zu bringen. Das morsche Holz ging in Flammen auf. In einem Herzschlag nur hatte Severus Lily Arm gegriffen und hatte sie zur Seite geschmissen. Dort, wo sie noch eben gehockt hatte, fiel ein schwerer Ast zu Boden.
Ängstlich hatten sie das Gewitter überstanden.
Danach waren sie, als wäre nichts geschehen, einfach wieder auf den Spielplatz gegangen. Die Sonne war wieder aufgetaucht, ein Regenbogen hatte sich auf den grauen Horizont gemalt.
Sie hatten gespielt. Immerzu. Alles war ein leichtes, freies, aufregendes Spiel gewesen, leicht wie der Sommer. Sie waren Kinder und mochten ihre jungen Leben bereits damals schon von so manch unschönem Erlebnis geprägt gewesen sein, so waren sie doch unbeschwert und glücklich, wenn sie beieinander waren.
Just in dem Moment, in dem Lily sich den Blitzeinschlag von damals in den Sinn rief, donnerte es auch draußen ein zweites Mal, noch lauter als zuvor.
„Das ist ja grauenvoll.“, sagte Professor McGonagall. „Ein grauenvolles Unwetter.“
Trotzdem setzte sie danach unbekümmert ihren Unterricht fort.
Das Gewitter hörte nicht auf. Den ganzen Tag über ergoss sich der dunkle Himmel in einem Schwall warmen Regens über dem Land. Es war die Art von Regen, die einen sofort bis auf die Haut durchnässte, die darauf juckte und stank. Doch Lily mochte diesen Geruch. Weil er sie an ihre Kindheit erinnert. Weil sie sich im Regen frei fühlen konnte, wie sie es nur damals getan hatte.
„Komm mit raus.“, forderte sie James am Nachmittag auf.
„Bist du vollkommen übergeschnappt?“, fragte er sie.
„Dann du.“, meinte sie zu Remus, doch dieser hing über einem Buch und weigerte sich, es für einen Ausflug ins Unwetter liegen zu lassen.
„Und du?“, fragte Lily ein letztes Mal. Aber auch Peter wollte sie nicht begleiten und Sirius war ohnehin mit einem Ravenclaw-Mädchen in die Bibliothek gegangen. Dabei las er nicht einmal.
„Gut.“, meinte Lily. „Dann gehe ich alleine.“
„Und wenn du vom Blitz getroffen wirst?“, rief James ihr besorgt nach.
„Das werde ich nicht.“, bestimmte Lily. „Ganz sicher nicht.“
Sie schwang sich aus dem Porträtloch im Gemeinschaftsraum und stürmte die Treppen hinab. Alle Schüler, denen sie begegnete, liefen nach oben. Niemand schien den selben Weg wie sie zu wählen, hinaus, in den strömenden Regen, in das Wetter, das einem Weltuntergang glich.
An Eingangsportal traf sie auf Professor Flitwick.
„Miss Evans, Sie wollen doch nicht da raus?“, fragte er entgeistert.
„Oh doch.“, sagte Lily fest entschlossen.
Sie fürchtete sich. Nicht vor dem Gewitter, doch vor sich selbst. In jenem Augenblick war sie von einem so heiß brennenden Willen gepackt, dass ihr eigener Atem sich überschlug. Sie wartete nahezu auf ein Zischen, als sie, so hitzig, in den Regen trat. Sofort durchtränkte er ihre Kleider.
Ihr Haar wurde schwer, das Wasser tropfte von ihrer Nase auf ihre Lippen, von denen auf ihr Kinn und schließlich auf die Mulde ihres nackten Schlüsselbeines.
Sie streifte sich den lästigen Umhang von den Schultern, knotete ihn sich notgedrungen um die Hüften und lief über den Vorhof des Schlosses direkt auf den Verbotenen Wald zu. Sie trat ihn Pfützen, die ihre leichten Sommerschuhe durchnässten und bis in ihr Gesicht spritzten, sie rutschte aus und fiel beinahe.
Doch sie lachte.
Laut prustend legte sie den Kopf in den Nacken und öffnete den Mund, um von dem süßen Sommerregen zu kosten. Und da war er, der Duft, auf ihrer Haut, in ihrem Haar. Und sie wollte spielen. Ein letztes Mal Kind sein.
Sie nahm den Umhang von ihren Hüften in beide Hände, breitete ihn wie einen wehenden Schweif hinter sich aus und rannte los. Der Wind fing sich im dicken Stoff und wann immer Lily über eine kleine Erhebung im Boden lief, sprang sie, als könne sie mit dem Umhang im Rücken abheben und davonfliegen.
Im Sprung drehte sie den Kopf, hatte sie doch Gefühl gehabt, im Augenwinkel eine Gestalt hinter sich zu sehen, doch da war niemand. Also lief Lily unbeirrt weiter.
Das Leid der vorigen Tage konnte ihr nichts anhaben. Sie lachte und kicherte und hüpfte, tanzte und schließlich landete sie in einer großen, schlammigen Pfütze. Sie schluckte Dreck und für einen Moment kehrte die Vernunft in ihren Körper zurück, sie schämte sich und war dabei, sich aufzurappeln, den Schmutz von ihren Kleidern zu streifen und ins Schloss zurückzukehren, doch als ihre Hände im braunen Matsch versanken, sie die feuchte, kühle Erde zwischen ihren Fingern spürte, da überkam sie ein kindlicher Übermut, so wild, wie sie ihn selbst damals nur selten verspürt hatte, und statt sich die Hand am Kleid sauber zu wischen, fasste sie damit in ihr Gesicht, schmierte den Schmutz in Streifen auf ihre Wangen und prustete los.
Der Himmel über ihr schien davonzurennen, so schnell zogen die dunklen Wolken. Ein dunkles Grummeln verriet, dass das Gewitter nun genau über Hogwarts hing. Doch Lily kümmerte das nicht. Was sollte ihr schon passieren? Der Blitz konnte sie nicht treffen!
Doch hoffte sie, Severus würde erscheinen, würde sie in Sicherheit bringen, festhalten und bei ihr sein, bis es zu Ende war?
Dabei war es längst zu Ende. Alles war vorbei.
Lily verstummte. Sie lag noch immer in der Pfütze, vollkommen mit Schlamm und nasser Erde bedeckt. Sie faltete die Hände über ihrer Brust und ließ den Regen in ihr Gesicht preschen. Wieder öffnete sie den Mund und trank.
Wenn James sie so sehen würde. Er würde sie nicht wieder erkennen.
Wenn Severus sie so sähe, würde er sich freuen, endlich seine Lily wieder zu haben.
Er hatte sie gesehen. Es war ihm wie eine abstruse Fügung des Schicksals, an das er nicht glaubte, vorgekommen, dass sie ausgerechnet bei diesem Gewitter alleine auf die Länderein floh.
Es machte ihm Angst. Und umso mehr fürchtete er sich davor, was geschehen würde, wenn er ihr folgte. Genau deswegen tat er es. Er überlegte nicht lange. Nach der letzten Nacht, in welcher er wachgelegen und sich nach Lily verzehrt hatte, wie er es noch nie zuvor getan hatte, mit all seiner Seele und seinem ganzen Herzen, fühlte er sich, als stünde er unter dem Bann eines besonders starken Zaubertrankes. Der einen um den Verstand brachte, einem die Vernunft raubte.
Obgleich sie gerannt und gesprungen war, war er nur langsam gegangen. Bedachten Schrittes. Der Regen hatte seine dunklen Kleider noch dunkler gefärbt, zeichnete schwarze Ränder unter seine Augen, als liefe die Tinte darin aus.
Er hatte sie beobachtet.
Und als sie sich in die Pfütze geworfen hatte, da hatte er es gefühlt.
Er stand inmitten des hohen Grases, sah auf Lily hinab, ohne, dass wiederum sie ihn sehen konnte, und er fühlte es in sich.
Das Monster, Liebe. Das Ungeheuer.
Es kroch aus seinem Innersten und zerriss mit scharfen Fängen seine Brust.
Und er konnte nicht schreien, denn es war in seinen Lungen.
Und er konnte nicht rennen, denn es steckte in seinen Knochen.
Und er konnte nicht nachgeben und aufhören, zu atmen, denn das Leid, diese unerbittliche Qual, die Sehnsucht und die Gier, waren alles, was ihn am Leben erhielt.
Und dann hörte er seine eigene Stimme weit, weg weg rufen. „Lily!“
Ein verzweifelter, kläglicher Ruf. Das Mädchen, das Kind, in der Pfütze, war seine Lily. Und sie hörte auf, als er sie rief. Richtete sich auf, sah ihn an.
„Severus.“, sagte sie, als verwundere es sie in keinster Weise, dass er dort stand und Severus fragte sich, ob sie die ganze Zeit über gewusst hatte, dass er ihr folgte. Ob sie gehofft hatte, dass er es tat. Ob sie nur in den Regen gerannt war, weil sie wusste, dass er der Einzige sein würde, der ihr es gleich tat. Vielleicht hatte sie riskieren wollen, vom Blitz getroffen zu werden, damit er sie rettete. Aber nein, so dumm war sie nicht. Lily war ein kluges, starkes Mädchen und als er genauer in ihr Gesicht blickte, war er sich doch sicher, dass sie von seinem Erscheinen überwältigt war.
Er sah das Zucken ihrer Mundwinkel.
Er hörte ihr Herz schlagen.
Und dann geschah es. Er wollte sich wehren, er wollte es ihr nicht antun. Nicht ihr, nicht seiner Lily. Doch er fiel, kopfüber, in den See ihrer grünen Augen, ließ den Regen verschwinden und kam wie nach einem sanften Flug auf dem Steinboden des dritten Stocks auf. Warmer, zittriger Atem. Der Geschmack von Blütenhonig. Hier war sie, die Erinnerung, die er trotz seiner Ergebenheit nicht in seinen Sinn zurückkehren hatte lassen wollen.
Vielleicht war es die Schönste, die er hatte.
Und darum tat sie so weh.
Instinktiv griff er sich ans Herz, als könne er damit den Schmerz darin beenden. Doch kaum legte sich seine Hand auf seinen Brustkorb, trat er aus sich selbst hinaus. Severus beobachtete sein Vierzehnjähriges Selbst aus seiner Mitte treten, neben ihm die jüngere Lily Potter, wunderschön, mit frisch geschnittenem Feuerhaar.
Severus wusste, dass Lily und er in dieser Zeit bereits begannen, sich voneinander zu entfernen. Er hatte sich mit Mulciber und Avery angefreundet, während Lily einige Freundinnen in Gryffindor und Ravenclaw gefunden hatte. Lily mochte die Todesser nicht, sie warnte Severus vor ihrem schlechten Einfluss, aber natürlich hörte er nicht auf sie. Nicht in diesem Fall, obgleich er sonst alles getan hätte, was sie von ihm verlangte.
Immer seltener waren Momente wie dieser geworden, in dem sie unbeschwert wie in Kindertagen nebeneinander durch die Flure des Schlosses schlenderten. Umso mehr hatte Severus gelernt, sie zu schätzen, zu genießen und sie, wenn er von Lily getrennt war, zu ersehnen.
Seine Liebe zu ihr hatte in diesem Frühling an einer neuen Art der Innigkeit gewonnen. Anflüge rein körperlichen Verlangens überkamen ihn immer öfter und als Severus nun sein vergangenes Ich sah, wie es mit unverhohlener Gier die dunklen Augen über Lilys mit einem hellblauen Freizeitkleid geschmückten Körper gleiten ließ, wusste er, dass er sich vorstellte, wie dieser unter dem weichen Stoff aussah.
Er tat es wieder, als er nun als stummer Beobachter in Lilys Erinnerung stand.
„Er hat schon wieder gefragt.“, hörte er Lily seufzen, als sie stehen blieb, um ihre Schuhe zu binden.
„James?“, hakte der vierzehnjährige Severus nach.
„Ja.“, stöhnte Lily. „Wer sonst.“
„Sag ihm endlich, dass er dich in Ruhe lassen soll. Ich halte das nicht mehr aus.“ Ein bisschen zu kühl hatten diese Worte geklungen, ein bisschen zu ehrlich war er gewesen.
Lily sah auf. Sie hatte immer geahnt, dass Severus in ihr mehr als die beste Freundin seiner Kindheit sah. Obgleich für beide eines feststand:
Liebe, in der Art, wie Severus sie für Lily und diese sie später für James empfand, war keinesfalls die Steigerung von Freundschaft, sondern ein vollkommen anderes Gefühl. Nicht selten hatte Severus sich gefragt, warum er Lily nicht auf die reine, brüderliche Art hatte lieben können, wie sich beste Freunde nun einmal liebten. Andererseits wollte er die Sehnsucht und das Verlangen in seiner Zuneigung zu ihr nicht missen.
„Ich gebe nicht nach.“, versprach sie Severus, obwohl dies nicht bedeutete, dass sie auch keinem anderen Jungen, der nicht Severus war, nicht nachgeben würde. Zumal sie das Versprechen nur drei Jahre später wahnsinnig vor Liebe brach.
Ja, sie hatte es immer geahnt, und gleich würde sich ihre Ahnung bestätigen.
„Gut.“, hörte Severus sein junges Selbst sagen. „Hoffentlich.“
Wie töricht er gewesen war, immer wieder zu hoffen. Hoffnung war eine so gefährliche Sache. Er wollte sich umdrehen, wollte wegsehen. Er wusste doch, was geschehen würde, kannte jedes Wort. Er war sich nicht sicher, ob er es ertrug, daneben zu stehen und zuzusehen. Einmal, weil er sein vergangenes Selbst darum beneidete, was es gleich fühlen würde, dann wiederum, weil er sich fürchtete, durch die Lebhaftigkeit des Vergangenen plötzlich doch genau das zu spüren, was er damals empfunden hatte.
„Sev, ist alles in Ordnung?“, fragte Lily. „Du bist so blass.“
Severus, der stets kalkweiß war, errötete augenblicklich. „Das bin ich immer.“
„Jetzt nicht mehr.“ Lily schenkte ihm ein herrliches Lächeln. „Jetzt bist du rosa.“
„Lil...“, maulte er. „Sag mir noch einmal, was er gesagt hat.“
Masochist, schimpfte Severus sich selbst.
„Wer? James?“
„Ja.“ Severus sah, wie er selbst vorsichtig die Hand ausstreckte und Lily eine Tannennadel aus dem Haar zog, die noch von Pflege magischer Geschöpfe überblieben war. Er wusste, dass ihn diese Geste große Überwindung gekostet hatte.
Lily war irritiert, doch dann erzählte sie: „Wir hatten zusammen Verteidigung gegen die Dunklen Künste und er ist mir aus dem Klassenraum gefolgt, zusammen mit Sirius Black und-“
„Ich hasse Sirius Black.“, warf Severus ein. „Dieser arrogante, widerliche Verräter. Hat sich gegen seine eigene Familie gestellt.“
„Seine Familie besteht aus schwarzmagischen Rassisten!“, schimpfte Lily empört. „Verständlicherweise hat er sich gegen sie gestellt!“
„Ach, nimmst du diesen Widerling mit seinem so tollen Haar jetzt in Schutz? Dieser gleichgültige, arrogante Blick, den er immer drauf hat. Als könnte er alles, was er begehrt, mit nur einem Fingerschnipsen bekommen. Nur Potter ist schlimmer. Gefällt dir das etwa?“
Severus' Brustkorb bebte.
„Nein!“, zischte Lily rasch. „Nein, Severus, das gefällt mir nicht, aber genau so wenig gefällt mir, wie du ständig... All diese Schwarze Magie und...“
„Das tut jetzt nicht zur Sache.“, maßregelte Severus seine beste Freundin.
Sie schluckte die zurechtgelegten Worte der Mahnung und fuhr mit der ursprünglichen Erzählung fort. „Er hat mich gerufen, du weißt schon. Evans, hey, Evans. Ich hab ihm gesagt, er soll Leine ziehen, aber natürlich hat er nicht aufgehört, zu grinsen. Er hatte einen frische Birne dabei, die er mir anbot.“
„Ich kann Birnen nicht ausstehen, die schmecken grässlich.“, sagte Severus, obwohl er Birnen in Wirklichkeit nicht so schlecht fand. „Hast du sie genommen?“
„Nein, natürlich nicht.“, lachte Lily. „Du bist blöd, Severus. Als ob ich Obst von James Potter annehme. Da muss ich doch befürchten, dass er es mit Amortentia getränkt hat.“
„Obwohl ich bezweifele, dass er weiß, wie man Amortentia macht.“, bemerkte Severus mit einem überheblichen Grinsen auf den Lippen, dass ihn, nun da er am Rande des Geschehens stand und sich selbst beobachtete, auf schreckliche Art und Weise an Sirius Black erinnerte.
„Jedenfalls sagte ich ihm“- Lily biss sich auf die Unterlippe - „Ich sagte ihm, er soll sich seine dämliche Birne sonst wohin schieben.“
Severus lachte laut auf, ein kehliges, hohles Lachen, das beinahe böse klang.
„Er wirkte schockiert.“, grinste Lily. „Für den Moment. Aber dann sagte er, er hätte zu gerne gehabt, dass ich die Birne esse, denn Birnen seien sein Lieblingsobst und er würde gerne wissen, wie sie von meinen Lippen schmecken.“
Severus' Gesicht nahm die Farbe von überreifen Tomaten an. „Was?“, donnerte er. „Er erdreistet sich, dich auf diese Art und Weise anzusprechen? Oh, Lily, lass mich ihn verhexen!“
„Nein, Severus, das bringt dich nur in unnötige Schwierigkeiten.“, warnte Lily ihren besten Freund. Sie hatte gewusst, dass er ohnehin keine Chance gegen die Rumtreiber haben würde.
„Aber...“, setzte Severus an, doch dann verstummte er. Lily sah ihm in die Augen, viel zu lang, und er fragte sich, wie er dies damals hatte ertragen können.
Dann, er hätte beinahe die Sekunden zählen können, bis es geschah, so genau war ihm diese Szene trotz Widerwillens im Gedächtnis geblieben, flüsterte Lily:
„Hast du schon mal ein Mädchen geküsst, Severus?“
Gelähmt von der Intimität dieser Frage starrte Severus auf seine Hände. Er zögerte. Überlegte, ob er sie belügen sollte. Aber dann schüttelte er langsam den Kopf.
„Nein.“, gab er zu. „Noch nie.“
„Möchtest du ein Mädchen küssen?“ Lily lachte ein unbeschwertes Lachen.
Für sie war das alles ein Spiel gewesen. Und nun, da Severus das Geschehen von außen betrachtete, wurde ihm abermals bewusst, dass Lily bis zu diesem Zeitpunkt, in dem er eben in ihre Augen getaucht war, um ihre Gedanken zu begreifen, vielleicht nicht ein einziges Mal an diesen Moment zurückgedacht hatte. Für sie hatte er schlichtweg nicht gezählt. Nicht so, wie er für ihn gezählt hatte.
Das Feuer ihrer Haare schien in ihre Augen überzugehen, als sie, noch bevor Severus antworten konnte, obgleich er nicht gewusst hätte, was er denn sagen sollte, ihren Kopf nach vorne beugte und ihre Lippen auf seine legte.
Ganz sanft und vorsichtig, als sei sein Mund von Gift benetzt.
Er konnte sich nicht bewegen, konnte das leichte Drücken ihrer Lippen nicht erwidern. Er stand nur da, die Hände starr neben dem Körper und ließ sie gewähren, während er das Gefühl hatte, die Knochen in seinen Beinen wären verschwunden. Er zitterte. Sein Herz drohte, in seiner Brust zu zerbersten.
Am Rande des Flurs zu stehen und zu beobachten, wie unbeholfen sein jüngeres Ich dort stand, gab Severus das Gefühl, als habe man ihn ins Gesicht geschlagen. Trotzdem wünschte er sich zurück, wünschte sich, er würde nicht fernab stehen, sondern genau dort, wo er vor drei Jahren stand.
Es war ihm damals wie eine Ewigkeit vorgekommen, aber in Wirklichkeit ließ Lily schon nach einigen wenigen Sekunden von ihm ab, starrte ihm in die Augen und sagte:
„Das hätte nicht passieren dürfen.“
Obwohl er nicht übereinstimmte mit dem, was sie sagte, nickte er eifrig und wiederholte ihre Worte: „Das hätte nicht passieren dürfen.“
„Es tut mir Leid.“, sagte Lily, strich sich die Haare hinter die Ohren und drehte Severus den Rücken zu. „Ich wollte nicht... Bitte glaub jetzt nicht, dass... Ich gehe besser.“
„Ja.“, keuchte Severus. „Geh besser.“
Lily lief davon, auf den wirklichen Severus zu, doch er wusste, dass er nicht in den Genuss kommen würde, zu spüren, wie sie durch ihn hindurch lief. Denn kaum hatte sie zwei Schritte getan, passierte es.
Der vierzehnjährige Severus streckte den blassen Arm aus, griff Lily an der Schulter. Ungezügelte Gier stand in seinen schwarzen Augen. Er schubste Lily grob gegen die Wand, drückte sie mit hartem Griff an die kühlen Steine und presste seinen Mund auf ihren.
Sie wehrte sich nicht. Er hielt sie, so fest er nur konnte, er wusste, dass er ihr wehtat, doch für diesen Augenblick war es ihm seltsamerweise vollends gleichgültig.
Er drängte seinen Körper an ihren, die Finger unbewegt um ihre spitzen Schultern geschlossen, so eng, dass sie rote Spuren hinterließen. Und seine Lippen lagen weiterhin auf ihren. Er stahl die Luft aus ihren Lungen, er wurde die Luft in ihren Lungen. Und er wusste, dass sie sich in diesem Augenblick unbändigen Verlangens von seinem heißen, zittrigen Atem nährte.
Sie schmeckte nach Blütenhonig.
Nach Sommer und Freiheit, nach Kindheit und Liebe.
Schließlich ließ Severus von ihr ab. Erschöpft keuchend blieb er so nahe vor ihr, wie es nur ging, ohne, dass sich ihre Münder berührten.
„Lily, ich...“, setzte er an.
Er hatte ihr sagen wollen, dass er sie liebte. Doch sie kam ihm zuvor.
„Ich hatte Unrecht.“, sagte sie und lachte. „Das hätte nicht passieren dürfen.“
Wie selbstverständlich wand sie sich aus seiner Umklammerung, lächelte ihn an, als wäre nichts geschehen, und forderte ihn auf, mit ihr zum Arithmantik-Unterricht zu kommen, in welchen sie sich für dieses Jahr gemeinsam eingewählt hatten.
Damals hatte er sich gefühlt, als hätte sie ihm mit diesen Worten das Herz aus der Brust gerissen, es in der Luft zerfetzt und die übrigen, blutigen Teile mit dem Sommerwind vor den Fenstern ziehen lassen.
Doch nun, da er, Jahre später, unweit von ihr stand und in ihre Augen sah, dorthin, wo er sich damals nicht zu hinzublicken gewagt hatte, erkannte er darin etwas, das ein Feuer in seinem sehnsüchtigen Herzen entzündete und ihn erstaunt aufstöhnen ließ.
Für einen Moment fürchtete er, die Erinnerungen könnten ihn hören, doch natürlich bemerkten sie ihn nicht.
Die Seen in Lilys Augen fluteten über. Tränen standen darin. Und da war noch etwas. Etwas, was Severus nie zuvor, und nie mehr danach darin gesehen hatte. Etwas, das der Kuss in ihr ausgelöst und nur Willenskraft, Vernunft und die bösen Worte in den Jahren danach hatten vertreiben können: Liebe.
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