von mia.winchester
Severus spürte den Regen, doch er war schwächer geworden.
Er hörte das Gewitter, doch es hatte sich entfernt, war davongezogen, verflogen.
Er sah in Lilys Augen, doch zurück in der Wirklichkeit lag darin nichts mehr von der Liebe, die sie einst innegehalten hatten. Stattdessen stand darin pure Erschütterung, Angst und eine Qual, von welcher Severus sie nur allzu gerne befreit hätte. Doch er wusste, dass der einzige Weg, sie von jenem Leid zu kuren war, dass er aus all ihren Erinnerungen, aus ihrer Vergangenheit und ihrer Zukunft verschwand.
Ein seltsamer Gedanke erfasste ihn. Was, wenn er seinen Zauberstab zücken und ihr mit einem leisen Fluch das Gedächtnis rauben würde? Dann gehen würde, um nie wieder in ihr Leben zurückzukehren? Sie würde ihren Frieden mit James finden, einen Frieden, der keinem Zaubertrank bedurfte. Doch kaum berührten seine nassen Hände das dunkle Holz des Stabes, wusste er, dass er nicht im Stande war, dies zu tun. Er wollte doch, dass sie an ihn dachte. Er wollte doch in ihrem Herzen sein.
Sie stand da, durchnässt und schmutzig, und sah ihn immer noch an.
„Was hast du getan?“, fragte sie. Regen tropfte von ihrer Unterlippe.
„Ich wollte es nicht.“, erwiderte Severus trocken. „Ich wollte es nicht, du musst mir glauben. Bitte, Lily.“
„Leglimentik.“, stellte Lily fest. „Ich hoffe, dir hat gefallen, was du gesehen hast.“
Severus rang nach Atem. Wieso war sie so kühl, so böse? Es war doch ihre Erinnerung gewesen. Sie hatte an jenen Kuss gedacht, an dieses in Vergessenheit geratene Kapitel einer zum Scheitern verurteilten Geschichte. Sie sollte nicht wütend sein, sollte sich nicht schämen.
„Lily, es tut mir so Leid.“, wimmerte Severus. „Es tut mir so schrecklich Leid, Lily, alles, alles was ich gesagt und getan habe, und das eben, das tut mir auch Leid, Lily, siehst du nicht, wie Leid es mir tut? Lily, Lily...“
Ihr Name wurde zu einem Wispern und Severus war dankbar für den Regen, denn mit all den Wassertropfen im Gesicht konnte sie nicht ausmachen, dass sich salzige Tränen darunter mischten. Er weinte und beschloss, nichts mehr zu sagen, damit seine Stimme ihn nicht verriet.
„Ich weiß, Severus.“, hauchte Lily. Jetzt klang sie sanfter. Vielleicht sah sie doch, dass er weinte. Severus begann, zu zittern.
„Ich weiß, dass es dir Leid tut, ich sehe es, in jedem deiner Blicke, ich höre es in all deinen Worten.“
Hoffnung keimte in Severus auf. Törichte, dumme Hoffnung. Die Lily sogleich zu zerstören wusste.
„Aber du kannst dich nicht entschuldigen. So etwas wie eine Entschuldigung im wahrsten Sinne des Wortes gibt es nämlich nicht.“, erklärte sie. „Wenn du einmal Schuld auf dich geladen hast, dann... Was sag ich da...“
Dann brach auch sie in Tränen aus. Es war leicht, die salzigen Perlen auf ihrem Gesicht von dem schmutzigen Regenwasser zu unterscheiden und Severus wurde sich darüber bewusst, dass sie ganz sicher bemerkt hatte, dass er weinte.
„Natürlich kann man sich entschuldigen.“, schluchzte Lily. „Und man kann verzeihen. Ja, ich kann verzeihen, das weißt du. Ich habe James verziehen.“
„Sag nicht seinen Namen. Nicht auf diese Art und Weise.“, zischte Severus.
„Unterbreche mich nicht, Sev!“, brüllte Lily.
Dass sie ihn so nannte, traf ihn wie ein Stein, dem man ihm an den Kopf geschmissen hatte.
„Was ich sagen will, ist, ich kann verzeihen. Aber nicht dir.“
Severus spürte, wie das Monster endgültig aus seinem Brustkorb brach. Er musste sich alle Mühe geben, nicht auf die Knie zu fallen, denn mit einem Mal fühlte er sich, als bestünde er selbst nur noch aus leerer, kalter Haut. Fühlte es sich so an, zu sterben?
„Noch nicht.“, fügte Lily bitterlich weinend hinzu. „Irgendwann, Severus. Vielleicht. Aber nicht jetzt. Es geht einfach nicht. Lass mich."
Dann lief sie davon.
Severus sah ihr nicht nach. Er wünschte sich, schreien zu können, aber kein Laut entfloh seiner trockenen Kehle. Stattdessen gab er dem Drang, zu fallen, nach, sank in den Matsch und schlug mit baren Fäusten auf den weichen Boden ein, bis er sich die Knöchel an einem scharfen Stein aufschnitt. Er wünschte sich, daran zu verbluten. Doch natürlich war die Wunde viel zu klein.
Er dachte daran, wie Lily einst gesagt hatte, vielleicht könne sie in einem anderen Leben ein Phönix sein.
Vielleicht hätte er es in einem anderen Leben dazu gebracht, aufzustehen, ihr nachzulaufen, sie wieder so zu packen wie in ihrer Erinnerung, und zu küssen. Um die Liebe in ihr neu zu erwecken, um den Regen zu beenden und Sommer zu zaubern. Das war alles, was er wollte. Doch er schaffte es nicht.
In einem anderen Leben hätte er sie niemals Schlammblut genannt. Er hätte sich an ihre Seite gestellt, sie von James und seinen dämlichen Freunden ferngehalten und wäre noch heute derjenige, der an ihrer Seite war. Selbst, wenn er bloß ihr bester Freund sein würde, so hätte er sich doch Luft, Lachen und Leid mit ihr teilen können. Mit ihr wäre er nicht allein gewesen. Mit ihr hätte wäre er glücklich. Das war alles, was er wollte. Doch er bekam es nicht.
In jenem anderen Leben hätte er auch Mulciber und Avery gemieden, hätte sich nie den Todessern angeschlossen. Denn er wollte kein böser Mensch sein, der anderen Leid zufügt. Er wollte ein Held sein, ein guter Mann, der Mann, den Lily wollte. Mutig. Das war alles, was er wollte. Und war sein Leben im späteren Verlauf doch so bitter, wie es schon in den letzten zwei Jahren gewesen war, würde es doch immer diesen Ziel, diesem Wunsch gewidmet sein. Und am Ende würde er in Erfüllung gehen. Am Ende würde sich dieses Verlangen auszahlen. Und man würde an ihn zurückdenken als den mutigsten Mann, den es in der Geschichte der Zauberei je gegeben hatte.
Doch nun, da er weinend im Schmutz lag und sich schwor, nie wieder zu hoffen, nie wieder zu erwarten und nie wieder zu lieben, hatte ihn vorerst all sein Mut verlassen.
Er lag dort, bis der Regen aufhörte. Bis die Sonne noch einmal kurz am Himmel erschien, ehe sie unterging.
Dann lief er ins Schloss zurück, schmiss seine schmutzige Kleidung in den Abfall und nahm eine kochend heiße Dusche. Er versuchte, die Trauer und die Wut von sich zu waschen, doch es gelang ihm nicht.
Anschließend ließ er sich von Avery ein bisschen Essen aus der Großen Halle mit in den Gemeinschaftsraum bringen.
„Danke.“, murmelte er.
„Was ist los mit dir, Snape?“, fragte sein rüder Freund. „Du ziehst ja ein Gesicht. Bist du krank?“
„Ja, wieso warst du nicht mit beim Essen?“, hakte Mulciber nach.
„Ich bin wirklich ein bisschen erkältet.“, log Snape. „Ich war heute im Regen draußen.“
„Du bist verdammt seltsam, Severus.“, bellte Avery.
„Wenn du nicht so ein verdammt guter Zauberer wärst...“, setzte Mulciber an.
„Wir hätten dich schon längst in ein Stück Holz verwandelt.“, beendete Avery den Satz und prustete los.
„Beruhigend.“, keifte Snape. „Das wird bei euch nicht mehr von Nöten sein. Größere Holzköpfe als euch habe ich nämlich noch nie getroffen.“
Sie waren seine sarkatische, teils schneidend gemeine Art gewohnt, doch diese ungezügelte Beleidigung schockierte Mulciber und Avery. Sie sahen sich sprachlos an, schüttelten die großen Köpfe, doch als sie dahin zurückblickten, wo eben noch Severus gesessen und angewidert an einer Hühnchenkeule genagt hatte, war niemand mehr.
Entgegen seiner Erwartung fand Severus in dieser Nacht Schlaf.
Er glitt in eine traumlose, schwarze Leere und schlief.
Bis der letzte Tag anbrach, der letzte Tag des Sommers.
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