von mia.winchester
Das letzte, was er sah, ehe sein Herz aufhörte, zu schlagen, waren ihre Augen. Sie ruhten im Gesicht des Jungen, in dem verzweifelten, ängstlichen Gesicht des Jungen, der nicht recht zu wissen schien, ob der kaltherzige Mann, den er sein Leben lang in Snape gesehen hatte, der selbe Mann war, der nun vor ihm starb. Es waren ihre Augen. Das letzte, was er sah, bevor er einschlief.
Und das erste, was er sah, als er erwachte.
Lily Evans stand vor ihm. Ganz jung, ein Kind bloß, mit wehendem Haar wie lodernde Flammen, eine weiße Lilie steckte darin, und einem lieben Lächeln im Gesicht.
War dies eine Erinnerung? Sah er in Harry Potters Augen dessen Gedanken, dessen Andenken an seine Mutter?
Nein, er war tot. Er war nicht in den Geist des Jungen vorgedrungen. Dies war seine eigene Erinnerung.
Er stand an einem Teich, den er als den verlassenen Weiher am Stadtrand von Cokeworth erkannte. Um ihn herum grüne Wiesen, wie diese, auf denen er vor langer, langer Zeit stundenlang neben Lily gelegen hatte, ohne auch nur ein Wort sagen zu müssen. Eine rotgetigerte Katze fischte mit der Pranke im klaren Wasser. In ihm konnte Severus das Spiegelbild seines zehnjährigen Selbst erkennen.
Er wartete darauf, dass diese sich in Bewegung setzte. Sah sich nach dem wirklichen jungen Severus um. Doch als er den Kopf drehte, bemerkte er, dass der Junge im See es ihm gleichtat. Er hob die Hand, der Junge hob sie ebenfalls. Und da merkte Severus, dass er es war, wieder zehn Jahre alt, und in seinem lumpigen, alten Lieblingsmantel. Er trug keine Schuhe, das angenehm kühle Gras fühlte sich weich unter seinen nackten Füßen an. Der Himmel über ihm war blau, doch zahlreiche weiße Wolken verliehen ihm endlose Weite. Ewigkeit.
Lily trat neben ihn. Er fühlte die Wärme ihrer Haut, roch den Sommer und schmeckte Blütenhonig.
„Hey, Sev.“, lachte Lily und schloss ihn in die Arme.
Darauf hatte er sein Leben lang gewartet. Sein Leben, in dem er es geschafft hatte, den Schmerz hinter der bitterbösen Maske des von allen im Schloss verhassten Vertrauten Dumbledores zu verstecken. Sein Leben, in dem er Mut bewiesen und gute Taten vollbracht hatte, und doch nie den Lohn erhalten hatte, nachdem sein Herz sich sehnte. Aber die Gedanken an das, was gewesen war, waren mit einem Mal blass und grau, wie von einem Schleier kühlen Regens verhangen. Denn nun war sie da:
Lily Evans, wie er sie aus seiner Kindheit kannte. Seine Lily, seine liebe, gute Lily. Und sie hielt ihn noch immer fest. Er schmiegte seine Wange an ihre und atmete die herrlich reine Luft am Weiher so tief ein, dass er sich schwor, sie nie wieder ganz aus seinen Lungen zu lassen.
Es fühlte sich wunderschön an, ihr so nah zu sein. Doch Severus verstand nicht. Wieder blickte er ins Wasser, sah sein kindliches Gesicht, berührte es und verstand umso weniger.
„Lily, was...?“, fragte er, doch sie legte ihm behutsam die Finger auf die Lippen und flüsterte: „Ich hatte Recht, Severus. Damals, weißt du noch?“
Und dann verstand er. Er nickte. Und lächelte. Sein Herz erblühte wie die Lilie in Lilys Haar. Er war glücklich.
„Wir können Phönixe sein, wenn du magst, Sev.“, flüsterte sie ihm ins Ohr. „Du kannst sein, was immer du willst.“
„Ich will ein Prinz sein.“, lachte er.
„Dann komm.“, sagte Lily und nahm seine Hand. Sie ließ sie nie wieder los.
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