von terese
2. Unerwarteter Besuch und noch mehr Zauber
Einige Wochen später betrat ein Mann die Praxis, der kein Patient der Grangers war. Er war von fahler Gesichtsfarbe, trug einen schwarzen, ziemlich altmodischen Anzug und auffallend lange, fettige schwarze Haare. In der Hand hielt er eine abgewetzte Aktentasche.
Priscilla Miller telefonierte gerade mit einem älteren Herrn, an dessen Gebiss sich zwei Zähne gelockert hatten und der sich darüber gar nicht mehr beruhigen konnte. „Kommen Sie doch morgen früh mal vorbei“, schlug sie vor. „Heute sind wir leider mehr als überfüllt. - Nein, Frau Doktor Granger hat heute leider auch keine Zeit für Sie. Kommen Sie doch bitte morgen früh, ja?“ Es dauerte noch eine Weile, bis sie den Patienten überzeugt hatte. Danach atmete sie hörbar aus, legte den Telefon-hörer lauter als sonst auf und brachte auf ihrem morgigen Kalenderblatt eine Notiz an. Dann wandte sie sich dem neu Eingetretenen zu.
„Haben Sie einen Termin?“ fragte sie. „Nein“, erklärte der Fremde. „Ich würde gerne mit Mrs. und Mr. Granger sprechen.“ „Da müssen Sie leider bis zum Ende der Sprechstunde warten“, erklärte Priscilla. „Sie sind beide sehr beschäftigt. Ich kann Sie höchstens schon mal anmelden.“ „Ich bitte darum. Mein Name ist Professor Snape“, sagte der Mann kühl, ließ sich im Wartezimmer nieder und zog die Times aus der Aktentasche. Die Frau neben ihm schielte auf seine Haare und rückte ein Stück zur Seite.
Ihm gegenüber saß ein Mädchen mit buschigen Haaren, das in seiner Schulmappe kramte und daraus einen grünen Füllfederhalter zum Vorschein brachte. Erschrocken sah sie, dass der Stuhl ihr gegenüber nicht mehr leer war. Aber das war nicht das Schlimmste …
„Entschuldigen Sie, Sir“, sagte sie leise. „Sie sitzen leider auf meinem Matheheft.“ Der Wartende stand auf, und Hermione nahm ihr Schulheft von der Sitzfläche seines Stuhls. Es sah nicht vorteilhaft aus. In der Mitte hatte es einen Knick abbekommen und an den Ecken zwei Eselsohren. Hermione kamen beinahe die Tränen.
„Entschuldige“, sagte der Fremde kurz. „Gib mal her, ich bringe das wieder in Ord-nung.“ Er nahm ihr das Heft aus der Hand, verließ das Wartezimmer und verschwand in der Herrentoilette. Hermione blieb verwirrt vor der Tür stehen und trat ängstlich von einem Fuß auf dem anderen. Was wollte dieser Mensch nur mit ihrem Heft auf dem Klo? Nach kurzer Zeit kam er zurück und überreichte es ihr wortlos.
Hermione blickte es entzückt an. Der Knick war verschwunden, die Eselsohren auch, und überhaupt sah es viel schöner aus als vorher. „Danke, Sir“, sagte sie über-wältigt. Aber der Fremde war schon wieder hinter seiner Zeitung verschwunden. Hermione setzte sich wieder auf ihren Stuhl und starrte das Heft an. Und da kam ihr ein Verdacht. Dieser Mann konnte zaubern, genau wie sie!
„Entschuldigung, Sir“, sagte sie vorsichtig. Der Mann ließ seine Zeitung ruckartig sinken und starrte sie verärgert an. Aber Hermione war nicht so leicht zu ent-mutigen. „Würden Sie bitte einen Augenblick mit mir kommen? Es dauert bestimmt nicht lange. Ich … ich würde Ihnen gerne etwas zeigen.“ Das halbe Wartezimmer war aufmerksam geworden, und alle warteten mit Spannung darauf, was dieser Mensch nun tun würde.
Severus Snape warf seine Zeitung resigniert auf den Stuhl und folgte dem kleinen Plagegeist hinaus auf den Flur, wo Hermione vor einem Bild stehenblieb, das einen lachenden alten Mann zeigte, der einen Zahnarzt, der sich mit schmerzverzerrtem Gesicht die rechte Hand hielt, gerade in die Finger gebissen hatte. Sie blickte den alten Mann auf dem Bild an und schnippte leise mit den Fingern. Und nun konnten sie das Lachen des alten Mannes ganz leise hören.
Hermione schnippte wieder mit den Fingern, und das Bild verstummte. „Sehr schön“, sagte Snape knapp. „Du bist also Hermione Granger.“ Hermione bekam einen Schreck. „Woher wissen Sie denn meinen Namen?“ „Er stand auf dem Schulheft“, bemerkte Snape ironisch. „Und jetzt würde ich gerne meine Zeitung weiterlesen.“ Er ging ins Wartezimmer zurück, und Hermione folgte ihm etwas irritiert. Mit etwas mehr Beifall hatte sie eigentlich schon gerechnet. Und weshalb nahm dieser Mann es ohne jede Überraschung auf, dass sie zaubern konnte? Komisch war das schon …Aber jetzt musste sie sich wieder auf ihre Matheaufgaben konzentrieren. Es waren zwar Ferien, aber Hermione fand, das sei eine gute Gelegenheit, um ihre Mathe-matikkenntnisse zu vertiefen und den Stoff des letzten Jahrs zu wiederholen. Mathematik war das war das einzige Fach, in dem sie eine Zwei statt einer Eins bekommen hatte, und sie hatte sich schrecklich darüber geärgert. Aber alleine in der Wohnung war es ihr zu langweilig, deshalb lernte sie lieber in der Praxis ihrer Eltern.
Zwei Stunden später war der letzte Patient gegangen, und Priscilla bat den Fremden ins Behandlungszimmer von Dr. Granger. „Danke, Priscilla“, hörte sie ihren Vater sagen. „Sie können schon Feierabend machen.“ Die Sprechstundenhilfe bedankte sich, fuhr den Computer herunter, schaltete Lampen und Arbeitsgeräte aus und holte ihre Handtasche aus dem Schrank. „Gute Nacht, Priscilla“, wünschte ihr Hermione und warf ungeduldige Blicke in Richtung Behandlungszimmer. Wie lange brauchte diese Frau eigentlich noch, bis sie ging? „Gute Nacht, Hermione“, sagte Priscilla. „Möchtest du noch auf deinen Dad warten?“ „Ja!“ antwortete Hermione laut. Priscilla verschwand, und Hermione rannte zum Behandlungszimmer und presste das Ohr fest gegen das Schlüsselloch. Sie war inzwischen zur festen Überzeugung gelangt, dass der Fremde ihretwegen gekommen war.
Und da hatte sie sich nicht getäuscht. „Sie wollen mir also wirklich weismachen, dass meine Tochter eine … Hexe ist?“ hörte sie ihren Vater ungläubig sagen. „Ja, Dr. Granger. Nach den uns vorliegenden Informationen und nach dem, was sie mir selbst gezeigt hat, ist das der Fall.“ Eine Weile hörte Hermione gar nichts mehr. Hatte es ihrem Vater die Sprache verschlagen? Dann räusperte sich Dr. Granger. „Also ich denke, wir sollten die Sache gemeinsam mit meiner Frau besprechen. Wollen Sie gleich mit mir kommen, Professor Snape? Meine Wohnung ist im ersten Stock.“ „Wenn Ihre Gattin nichts dagegen hat, gerne.“ Hermione hörte, wie sich von innen Schritte näherten, sprang schnell auf und tat so, als packe sie gerade ihre Schul-tasche. „Hermione, du bist immer noch da?“ sagte Dr. Granger erstaunt. Hermione nickte und öffnete den beiden Männern die Tür ins Treppenhaus.
Dr. Granger schloss seine Praxis ab und ging hinauf in seine Wohnung. Der Mann mit der Aktentasche folgte ihm, und Hermione schritt langsam und andächtig hinterher. Sie war also tatsächlich eine Hexe! Vermutet hatte sie das ja schon lange, und jetzt hatte es ihr dieser Fremde bestätigt.
Bestimmt würden sich heute noch große Dinge tun!
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