von terese
Suche nach Erumpents
„Dad, wie lange wollen wir eigentlich noch bei dieser Hitze umsonst durch die Gegend fliegen?“ fragte Luna Lovegood erschöpft, als sie nach einem heißen Tag, dem fünften ihrer Afrikareise, abends mit ihrem Vater vor dem Zelt saß. „Es gibt keine freilebenden Erumpents mehr, glaub es mir doch! Ich habe es vor drei Monaten in der Magischen Tierwelt gelesen!“
Xenophilius Lovegood saß vor dem Lagerfeuer, hatte seinen Zauberstab auf ein Stück Antilopenfleisch gerichtet, das er in einem Eingeborenendorf gekauft hatte, und drehte es mit einem Schwebezauber über dem Feuer. Jetzt lachte er gutmütig. „Glaub doch nicht immer alles, was du liest, Luna! Überlege nur einmal, wieviel Unsinn im Tagespropheten steht. Und nur weil ein paar Wissenschaftler schon längere Zeit keinen Erumpent mehr in Freiheit gesehen haben, heißt das noch lange nicht, dass es keine mehr gibt.“ Luna schwieg und ging ins Zelt, um das Geschirr zu holen. Sie wusste, dass ihr Vater diese Reise nicht nur aus wissenschaftlicher Neugier angetreten hatte. Der Klitterer verkaufte sich zur Zeit nicht gut, und deshalb war Geld im Haushalt Lovegood knapp. Und für Photos freilebender Erumpents, die hier in Afrika lebten und sehr selten waren, wurden hohe Preise bezahlt.
Luna hatte im September ihr erstes Jahr in Hogwarts begonnen, und jetzt waren Weihnachtsferien. Ihre Gedanken wanderten in die Schule zurück, auf deren Gelände jetzt bestimmt Schnee lag und wo ein paar einsame zurückgebliebene Schüler wohl zusammen mit den Lehrern Weihnachten feiern mussten. Leider hatte sie bisher noch keine Freunde gefunden, dafür gab es viele Mitschüler, die sie Loony nannten und ihre Schuhe versteckten, um sie zu ärgern. Nur ein Mädchen, Ginny Weasley, die auch in ihre Klasse ging, war immer nett zu ihr.
Luna ging zum Lagerfeuer zurück und brachte das Geschirr, Fladenbrot und Wasser in einem Lehmkrug. „Sieh mal, wie schön die Sonne wieder untergeht“, sagte ihr Vater und wies zum Horizont. Lunas Blick folgte seiner Hand, und sie war wie jeden Tag überwältigt von der Schönheit des Abendhimmels. Die Sonne ging als große gelbe Scheibe über der Steppe unter und färbte den ganzen Abendhimmel gelb und orange. Die wenigen Bäume in der Landschaft hoben sich tiefschwarz dagegen ab. Am Horizont zog eine Gruppe Giraffen vor der Sonnenscheibe über die Steppe.
Hier brach die Nacht viel schneller herein als in Schottland. Nach dem Abendessen löschten sie das Feuer. Lunas Vater erneuerte den Schutzzauber gegen wilde Tiere, den er um das Zelt gezogen hatte, und Luna suchte im Schein ihres Zauberstabs den Zeltboden nach Insekten ab. Sie fütterte das Zeltgecko Sandy, das an der Zeltwand neben ihrem Schlafsack klebte und geduldig auf Beute wartete, noch mit ein paar toten Fliegen und ging dann schlafen. Nachdem sie das Moskitonetz über sich gezogen hatte, betrachtete sie durch die durchsichtige Zeltplane über ihr den sternübersäten Nachthimmel. Vielleicht konnte sie ja morgen ihren Vater dazu bewegen, über das Thema Heimreise nachzudenken …
Am nächsten Morgen standen Luna und ihr Vater früh auf, um bis zum Mittag mit der Erumpentsuche fertig zu sein und sich in den heißen Mittags- und Nachmittags-stunden ins Zelt zurückziehen zu können. Diesmal flogen sie die Steppe in nördlicher Richtung ab, wo sie noch nicht gewesen waren. Unter ihnen vertrieb ein Strauß mit gespreizten Flügeln und wütendem Zischen einen jungen Leoparden. Ein Stück weiter weg graste friedlich eine Horde Zebras, und eine Gruppe Antilopen zog zu einem Wasserloch. Unter einem Baum lagen ein paar satte Löwenweibchen und sahen ihnen gelangweilt zu. Und dann sahen sie es. Ein Tier mit einem dicken Panzer, einem seilartigen Schwanz und und einem gewaltigen Horn auf der Nase trank ein Stück weiter aus einer Wasserstelle. Das konnte ein Erumpent sein, aber wahrscheinlich war es nur ein gewöhnliches Nashorn.
Luna flog von hinten vorsichtig und lautlos an das Tier heran, um es genauer in Augenschein zu nehmen. Sie hielt ihr Fernglas vor die Augen, um das Horn genauer sehen zu können. Das hatte keine Einkerbungen am Ansatz. Also war das Tier nur ein ganz normales Nashorn. "Dad, das ist leider nur ein ..." Luna wandte sich auf ihrem Besen um, aber es war niemand mehr hinter ihr. Sie schaute wieder nach vorne und sah etwas, das ihr fast das Herz zum Stillstand brachte.
Ihr Vater war einige Meter seitlich von dem Nashorn gelandet, hatte seinen Besen leise auf den Boden gelegt und brachte seine Kamera in Position. Luna schwebte lautlos zu ihm, zupfte ihn am Ärmel und flüsterte: "Dad, das ist doch nur ein ganz gewöhnliches Nashorn!“ „Luna, lass mich in Ruhe und verschwinde!“ zischte Xenophilius böse und versuchte, das Nashorn in seine Kamera zu kriegen. Musste dieses Mädchen gerade jetzt stören? Luna schwebte ein Stück nach oben und hielt sich auf ihrem Besen ganz still, um das Nashorn ja nicht aufmerksam zu machen. Wie konnte man nur so dumm sein wie dieser Mann und ein Nashorn mit einem Erumpent verwechseln, nur weil man so wild auf die Photos war! Sie würde ihn keinen Augenblick aus den Augen lassen, soviel stand fest.
Ihr Vater ging ein paar Schritte zurück und begann zu photographieren. Da fiel ihm die Kamera aus der Hand und und schlug mit einem dumpfen Geräusch auf dem Boden auf. Das Nashorn wandte den Kopf und glotzte den Zauberer verdutzt an. Es wedelte mit den Ohren und wandte den Kopf hin und her. Und dann begann es, langsam auf Xenophilius zuzulaufen, wobei es mitten auf seinen Besen trampelte, der knirschend zersplitterte. Lunas Vater wich zurück, tastete in der Innentasche seines Hemds nach seinem Zauberstab und bemerkte entsetzt, dass er ihn im Zelt vergessen hatte. Warum hatte er bloß damals in der Schule diesen Disapparierkurs nicht gemacht! Das Nashorn senkte sein Horn und kam immer näher. Xenophilius begann zu laufen, stolperte über ein Büschel ausgetrocknetes Steppengras und konnte gerade noch einem Dornbusch ausweichen. Er beschleunigte sein Tempo, aber das Nashorn setzte ihm umso schneller nach. Gleich würde es ihn erreicht haben …
Luna zermarterte sich verzweifelt das Gehirn. Konnte man das Nashorn nicht irgendwie ablenken? Gab es denn für solche Situationen keinen Notfallfluch? Da fiel ihr plötzlich etwas ein, was sie neulich im Unterricht gelernt hatten. Sie holte den Zauberstab hinter ihrem Ohr hervor, schwenkte ihn auf das Nashorn zu und schrie: „Petrificus Totalus!“ Das Nashorn erstarrte zu einer bizarren Statue, und Xenophilius wandte sich ungläubig zu seiner Tochter um. Der Schweiß lief ihm über den ganzen Körper, und er kam nur langsam wieder zu Atem. „Luna, mein Schatz, du hast mir gerade das Leben gerettet!“ Er zog sie von ihrem Besen und schloss sie in die Arme. „Weißt du, ich glaube, die Hitze in diesem Land hat sich mir schon aufs Gehirn geschlagen. Wie kann man nur so dumm sein wie ich und ein Nashorn mit einem Erumpent verwechseln!“ Luna nickte grimmig. „Und stell dir nur mal vor, es wäre tatsächlich ein Erumpent gewesen, der dich angegriffen hätte! Er hätte sein Sekret verspritzt, und du wärst explodiert!“ Xenophilius warf ihr einen schuldbewussten Blick zu und schwieg eine ganze Weile. Dann sagte er langsam: „Also, ehrlich gesagt … ich glaube, dieses Afrika ist doch nichts für uns Europäer. Was hältst du davon, wenn wir wieder nach Hause fliegen?“
Luna tat einen tiefen Atemzug. Jetzt hatte er es tatsächlich selbst eingesehen! „Ja, Dad, das fände ich auch besser. Wir können doch das Eis auf unserem Bach aufhacken und Plimpies fangen und verkaufen, oder unsere gedörrten Lenkpflaumen. Dafür bekommen wir zwar nicht soviel wie für Erumpentphotos, aber wir würden uns auch nicht mehr in Lebensgefahr bringen. Und an Weihnachten wäre ich eigentlich lieber zu Hause.“ Xenophilius nickte zustimmend. „Ja, so machen wir es.“ Er ging zu seinem Besen zurück, betrachtete betrübt die Trümmer und beschloss, sie in der Steppe liegenzulassen. Da war nichts mehr zu retten. Dann stiegen sie beide auf Lunas Besen und in die Höhe, und Xenophilius befreite das Nashorn mit Lunas Zauberstab von seinem Fluch. Das riesige Tier schüttelte sich und glotzte verblüfft die beiden sonderbaren Vögel an. Luna und ihr Vater flogen zum Zelt zurück, und Xenophilius holte seinen Geldbeutel, weil er ins Eingeborenendorf fliegen wollte, um einzukaufen. Er nahm die Kamera vom Hals und drückte sie Luna in die Hand. „Hier, nimm sie! Damit du ganz sicher sein kannst, dass ich nicht mehr nach Erumpents suche.“ Dad kannte sie eben! Luna kicherte und winkte ihm nach, als er auf ihrem Besen abhob, um ins Dorf zu fliegen.
Als er zurückkam, hatte er getrocknetes Rindfleisch, einen Krug mit Eingeborenen-bier und einen gebrauchten Besen dabei, den er dem Dorfältesten abgekauft hatte. Außerdem brachte er seiner Lebensretterin eine hübsche Kette aus kleinen Edelsteinen mit, und sie strahlte vor Freude. Nachdem sie ihrem Vater das feierliche Versprechen abgenommen hatte, auf keinen Fall mehr nach Erumpents zu suchen, den Schutzwall nicht zu durchbrechen und in der Nähe des Zeltes zu bleiben, setzte Luna ihren Sonnenhut auf und flog weit in die Steppe hinein, bis sie in die Savanne kam, in die das Land allmählich überging. Ein hungriger Gepard beobachtete sie verdutzt und setzte zum Sprung an, aber sie zog ihren Besen schnell nach oben und der Sprung ging ins Leere. Eine Herde Kudus mit wunderschönen gedrehten Hörnern sah neugierig zu ihr hinauf und wandte sich dann wieder dem Grasen zu. Eine Elefantenherde mit Jungen zog zu einer großen Wasserstelle und trank. Dann ließen sich die Tiere ins Wasser plumpsen und häuften mit dem Rüssel Wasser und Schlamm über sich, während die Jungtiere mit erhobenen Schwänzen und heftig wedelnden Ohren aufgeregt zwischen ihnen umherliefen. Luna sah ihnen begeistert zu. Als die Hitze zu groß wurde, flog sie zum Zelt zurück und schrieb ihre heutigen Erlebnisse wie jeden Tag in ihr Afrika-Tagebuch.
Am Abend beschlossen sie, noch ein paar Stunden zu schlafen und in den kühleren Morgenstunden aufzubrechen, sobald es draußen hell genug war. Nachdem sie gepackt hatten, legten sie sich schlafen. Luna lag noch lange wach und lauschte auf die nächtlichen Geräusche der Steppentiere. Die Grillen zirpten, in der Ferne hörte man Hyänen lachen und Geier um einen Tierkadaver streiten. Irgendwo in der Steppe keckerte gedämpft eine Herde Affen. Durch das Steppengras bewegte sich wohl ein nachtaktives Tier, denn Luna hörte es leise rascheln. Und dann war da plötzlich ganz nahe ein leises Tapsen. Luna fuhr erschrocken hoch und sah zu ihrem Vater hinüber, aber er schlief schon tief und fest. Sie griff nach ihren Zauberstab, kroch leise zum Zelteingang und schob die Plane vorsichtig einen Spalt weit auf. Eigentlich konnte nur ein magisches Tier den Schutzzauber durchbrechen …
Jetzt sah sie es. Es war ein junger Erumpent, kaum größer als ein Schäferhund! Er schnupperte an den Essensresten herum, die neben dem erloschenen Lagerfeuer lagen. Luna konnte deutlich die hübschen Einkerbungen am Hornansatz des Tiers sehen. Offenbar war es müde, denn es rollte sich nun neben den Ascheresten zusammen. Es gähnte, schloss die Augen und legte den Kopf mit dem prächtigen Horn auf den Boden.
Luna betrachtete hingerissen den Erumpent und verharrte regungslos. Als sie ganz sicher war, dass das Tier wirklich schlief, kroch sie leise ins Zelt zurück und holte die Kamera, die sie sicherheitshalber unter ihrem Schlafsack versteckt hatte. „Was ist denn los, Luna?“ kam es schlaftrunken von der anderen Zeltseite, wo Xenophilius in seine Decken eingepackt lag. „Pssst, Dad! Komm mit, aber ganz leise, ich muss dir was zeigen!“ Luna schlich geräuschlos aus dem Zelt und ging auf Zehenspitzen zum Feuerplatz, und ihr Vater folgte ihr leise. Luna fotografierte den Erumpent von allen Seiten, während Xenophilius ihn sprachlos anstarrte und den Kopf schüttelte. Das Tier gab einen seufzenden Laut von sich und drehte sich auf die andere Seite. Luna fotografierte mit Feuereifer weiter, bis alle Bilder aufgebraucht waren. „Komm jetzt, lassen wir es schlafen!“ Luna zog ihren Vater wieder ins Zelt und zog die Plane zu.
„Das war großartig, Luna!“ flüsterte ihr Vater. „Aber siehst du, die Magische Tierwelt hatte doch nicht recht! Es gibt noch freilebende Erumpents. Und wir haben den Beweis! Was meinst du, was deine Fotos wert sind. Wir können sie an die Magische Tierwelt und an den Tagespropheten verkaufen … das heißt, du kannst sie verkaufen, wenn du möchtest.“ Ja, natürlich würde Luna ihre Fotos verkaufen. Die waren schließlich der Grund für die Reise nach Afrika gewesen. Aber ein paar davon würde sie als Andenken an den kleinen Erumpent behalten. „Ja, klar. Aber wir müssen unbedingt einen Teil des Geldes, das wir für die Fotos bekommen, der Gesellschaft zur Rettung des Erumpents spenden.“
Als Luna am nächsten Morgen das Zelt verließ, war der kleine Erumpent verschwunden. Nur ein paar Spuren, die sich in der Steppe verloren, waren noch zu sehen. Luna blickte ihnen traurig nach. Dann fiel ihr ein, dass sie ja die Fotos hatte, und ihr Gesicht hellte sich wieder auf. Das schönste Bild würde einen Ehrenplatz in ihrem Zimmer bekommen. Und in Hogwarts waren ja ohnehin nur Kröten, Katzen und Eulen als Haustiere zugelassen …
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