„Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie schrecklich es war", sagte Hermine später im Grimmauldplatz. Gegenüber von ihrem Stuhl saßen Harry und Ginny mit aufgerissenen Augen auf dem Sofa. Sie war durch ihre Verschwiegenheitspflicht daran gebunden, nicht über die Dinge, die sie sah, zu reden, aber entschied, dass Harry darüber Bescheid wissen musste. Von all den Leuten im Ministerium, in der gesamten Zauberwelt, war vielleicht der Auserwählte derjenige, der etwas dagegen unternehmen konnte.
Harry bestand ständig darauf, dass Hermine im Grimmauldplatz vorbeischauen sollte, wenn sie für ihre Arbeit gerade in London war, um zumindest eine Tasse Tee mit ihm zu trinken. Es war noch ein Überbleibsel aus dem Krieg. Über eine längere Zeit nicht zu wissen, wo sich seine Freunde befanden, machte ihn nervös, ängstlich, dass ihnen etwas zugestoßen sein könnte. Ron hatte gescherzt, dass er ihm auch so eine Uhr, wie die seine Mutter besaß, besorgen würde, aber Harry hatte nur seine Augen verdreht und ihn angeblafft, dass wenn es falsch war, sich über seine Freunde Sorgen zu machen, er dann nicht richtig liegen wollte.
Abwesend strich Harry Ginnys Bauch. Sie war im siebten Monat mit ihrem ersten Kind, einem Jungen, schwanger. Es gab überhaupt keine Diskussion, dass er nach Harrys Vater benannt werden würde. Wenn er nicht gerade den Bauch seiner Frau streichelte, lag seine Hand beschützend darauf. Ein weiteres Überbleibsel aus dem Krieg, dachte Hermine. Beschützend jedem gegenüber, den er liebt.
Mit ihren gerade Mal zwanzig Jahren hatten die drei Freunde mehr Schrecken durchlebt, als sich die meisten Menschen zu ihren Lebzeiten hätten vorstellen können. Freunde in diesem Alter sollten Cocktails trinken, über andere Freunde lästern und ihre Karrieren im Sinn haben. Sie sollten nicht das Chaos des Kriegs aufräumen, sollten nicht damit kämpfen, die Nachwirkungen zu verarbeiten.
„Ihre Augen…", fuhr Hermine fort. „Sie waren so… leer. So alt. Wisst ihr, was ich meine? Diese Kinder haben alte Augen. Es lag keinerlei Neugierde darin. Keine Fragen. Keine Liebe. Nicht einmal Wut. Nur…."
„Leere", flüsterte Ginny. Hermine nickte.
„Und ihre Eltern sind alle tot?", flüsterte Harry. Das Thema traf ihn tief, genau wie Hermine es gehofft hatte. Sie hatte gehofft, dass wenn jemand an den Eltern vorbeisehen und die Notlage der Kinder erkennen könnte, dann wäre es er.
Hermine nickte. „Oder lebenslänglich in Askaban. Oder sie haben den Kuss bekommen."
Harry erschauderte. „Die meisten von ihnen haben lebende Verwandte, Muggels oder andere Zauberfamilien, aber keiner von ihnen will sie bei sich aufnehmen. "Sie fürchten sich davor mit den Kindern in Verbindung gebracht zu werden, dass sie selbst noch nach all dieser Zeit als Anhänger Voldemorts angesehen werden würden. Die meisten von ihnen gingen sogar so weit ihre Namen zu ändern. Ich habe es, als ich zurück im Büro war, gleich in den Akten überprüft. Die Kinder in diesem Waisenhaus sind die Letzten in ganz England, die noch diese Familiennamen tragen."
„Ich kann einfach nicht glauben…" Harry verstummte, als er die Hand auf den Bauch seiner Frau betrachtete und spürte, wie sein Sohn darunter zutrat. „Ich kann einfach nicht glauben, dass das Ministerium – das Ministerium nach dem Krieg – unschuldigen Kindern so etwas antun würde."
„Das überrascht dich?", sagte Ginny. „Mich nicht. Es mögen sich vielleicht ein paar Gesichter geändert haben, aber nicht die Bürokratie. Es gibt noch immer Vorurteile, Groll, Dinge, die einfach nicht über Nacht verschwinden. Das ist noch immer dasselbe Ministerium, welches zuließ, dass Dementoren Askaban beschützen. Dasselbe Ministerium, welches Sirius ohne eine Verhandlung für dreizehn Jahre weggesperrt hatte. Dasselbe Ministerium, welches dieser Umbridge-Frau freie Kontrolle über Hogwarts gegeben hatte. Kingsley hatte viel getan, aber er kann nicht alles ändern und viele Beamte aus den Zeiten vor dem Krieg sind noch immer dort. Verdammt noch mal Harry, du siehst es jeden Tag. Beschwerst dich beinahe jeden Tag", sagte sie mit einem Zwinkern.
Harry seufzte. „Waisenkinder – Waisenkinder des Krieges – haben so schon genug, womit sie sich auseinandersetzen müssen. Jeden Tag in ihrem Leben erfahren sie Verlust und Schmerz. Sie brauchen da nicht auch noch Misshandlung und Grausamkeit. Ich meine, von dem, was du beschrieben hast, Hermine, hätten sie auch genauso gut die Kinder zusammen mit ihren Eltern nach Askaban bringen können."
Hermine nickte. Sie hatte dasselbe bei ihrem Besuch gedacht.
„Niemand kümmert sich", sagte sie traurig und starrte hinunter in ihr Weinglas, als ob sie dort die Antwort finden würde. „Das ist das Problem. Niemand macht sich Gedanken darum. Jeder war so entgegenkommend in ihrer Unterstützung, als es darum ging den Waisen ein Zuhause zu schenken, aber sie hatten alle praktischerweise vergessen, dass auch Todesser Familien haben, oder zumindest ein paar von Ihnen. Und du weißt, dass ich keinerlei Liebe für sie übrig habe und ich bin froh, dass sie entweder tot sind oder in Askaban verrotten. Aber…"
„Ihre Kinder sind nicht ihre Eltern", beendete Harry für sie den Satz. „Und doch werden sie dafür bestraft."
„Ich bezweifle nicht, dass sie mit der Propaganda ihrer Eltern aufgewachsen sind. Aber das heißt nicht, dass sie noch immer so denken. Oder dass sie es jemals taten. Ich meine, kann sich einer von euch an Dinge erinnern, die ihr mit drei Jahren gehört habt und heute noch immer so denkt? Ich weiß, dass ich es nicht tue!"
„Wenn uns der Krieg auch sonst nichts gelehrt hat, dann, dass Menschen ihre lang gehaltenen Überzeugungen ändern können, wenn sie den richtigen Einfluss und die richtige Motivation dafür haben", sagte Ginny. Harry nahm ihre Hand und drückte sie. Sie wussten alle, von wem sie sprach.
„Wo wir gerade von ihm sprechen", sagte Hermine. „Ich glaube, er arbeitet mit ihnen. Snape." Harrys und Ginnys Köpfe schossen nach oben. „Ich meine, nachdem er sich von dem Angriff erholt und St. Mungos verlassen hat, ist er wie vom Erdboden verschwunden und niemand hat auch nur eine Spur zu ihm, oder ihn in den letzten fünf Jahren überhaupt zu Gesicht bekommen. Es gibt dort nur einen dauerhaft Angestellten, der sich um diese Kinder kümmert, oder der ihnen zumindest etwas beibringt. Ein Lehrer. Und er verlangte absolute Unabhängigkeit und Eigenständigkeit. Und Diskretion. Die Direktorin hat mir erzählt, dass er kein Mann ist, der gerne verhandelt. Also, an wen erinnert euch das?"
„Aber warum sollte er das tun?", fragte Harry. „Er hasste ihre Eltern genauso, wie wir es taten. Vielleicht sogar noch mehr. Und er ist wahrscheinlich sogar auch noch für die Hälfte der Tode und Verhaftungen verantwortlich."
„Ich denke, das ist genau der Grund, warum er es tut, wenn er es denn sein sollte", sagte Hermine. „Ich meine, denkt mal drüber nach. Er hasste deinen Vater. Hasste ihn. Tut es vermutlich immer noch. Und ja, er liebte deine Mutter, aber ich glaube nicht, dass das der einzige Grund war, warum er all die Jahre damit verbracht hat, dich zu beschützen. Ich glaube, er fühlt sich für die Rolle die er in alle dem gespielt hat, schuldig. Ich denke nicht, dass er jemals aufgehört hat zu glauben, dass er dafür verantwortlich war, dass du zum Waisen wurdest. Wir wissen alle, wie sehr die Schuld die Jahre über, vielleicht sogar Jahrzehnte, an ihm genagt hat. Ich glaube, deswegen fühlte er sich verantwortlich für deine Sicherheit. Und du hast recht – er betrog, tötete und hat Informationen weitergeleitetet, die dazu führten, dass die Eltern dieser Kinder gefangen genommen wurden. Ich kann durchaus sehen, wie er sich ihnen gegenüber verantwortlich fühlt, genauso wie es bei dir war. Er war in einer Position, um zu wissen, ob sie Kinder gehabt haben. Vielleicht kannte er sie sogar. Er hat definitiv die Älteren unterrichtet und fast alle von ihnen waren in seinem Haus. Und hatte nicht sogar Sirius mal gesagt, dass diese Leute vor langer Zeit mal seine Freunde waren? Hat nicht selbst deine Mutter das zu ihm gesagt? Vielleicht fühlt er sich ja dafür verantwortlich die Kinder seiner ehemaligen Freunde zu Waisen gemacht zu haben."
Harry nickte langsam. „Daran habe ich noch gar nicht gedacht, dass er sich für die, die übrig geblieben sind, verantwortlich fühlt. Ich hatte immer gedacht, es war Liebe und Schuld für das, was sein Handeln meiner Mutter angetan und nicht, was er mir dadurch angetan hatte."
„Also, irgendwie ist es ja auch dasselbe. Und er wäre ein Monster, wenn er keine Schuldgefühle hätte, Kindern ihre Eltern zu nehmen."
Schweigen brach über sie herein. Jeder Einzelne von ihnen war verantwortlich für den Tod von einigen Todessern. Deshalb fühlten sie sich nicht schuldig. Aber sie hatten nie in Erwägung gezogen, dass sie unschuldigen Kindern ihre Eltern weggenommen hatten, egal wie abscheulich, krank und böse sie vielleicht auch waren. Diese Erkenntnis traf sie alle hart.
Ihre Blicke trafen sich, aber sie schwiegen. Sie alle wussten, dass sie keinen Gedanken daran verschwendet hatten, sie fühlten sich alle schrecklich schuldig und es gab keinen Grund darüber zu sprechen.
„Du willst etwas dagegen unternehmen", sagte Harry schließlich, als er seine Tasse leerte. Er trank niemals Alkohol und hatte immer nur eine Flasche Wein für Gäste im Haus.
Hermine nickte. „Will ich. Ich kann einen sinnlosen Bericht schreiben, der dann in irgendeine Schublade gelegt und niemals gelesen wird, aber ich will mehr. Ich will… auf dieses Problem aufmerksam machen. Ich will es ändern. Ich meine, wir können die Familien nicht dazu zwingen, diese Kinder aufzunehmen, aber wir können Aufmerksamkeit erregen. Ihnen die Dienste zukommen lassen, die sie so verzweifelt brauchen – Therapie, Heilung, mehr Lehrer. Das Ministerium hat seit ‚vermutlich Snape' niemanden mehr eingestellt, um diese Kinder zu unterrichten. Sie verlassen sich auf Zauberer, die Sozialstunden leisten, dafür, dass sie das Statut der Geheimhaltung der Magie gebrochen oder irgendwelche Muggel-Artefakte missbraucht haben. Es gibt keinen Fortbestand, keine Stabilität. Der Ort und die Kinder bleiben und nichts ändert sich. Das kann unmöglich gesund sein. Diese Kinder sind durch den Krieg traumatisiert und ich bin mir sicher, dass sie das Erbe ihrer Eltern kennen. Sie brauchen mehr Zuwendung als alle anderen Waisenkinder, aber sie bekommen am wenigsten."
„Voldemort ist unter diesen Bedingungen aufgewachsen", sagte Harry leise. „Was du da beschreibst, hört sich genauso an, wie das, was ich in Dumbledores Erinnerung aus Voldemorts Kindheit gesehen habe."
Ein weiteres langes Schweigen breitete sich zwischen den drei Freunden aus.
„Ich weiß nicht, was mit denen passiert ist, die das Waisenhaus verlassen haben. Diejenigen, die entweder volljährig geworden oder davon gelaufen sind, bevor sie das Erwachsenenalter erreicht haben. Ich werde auf jeden Fall in Hogwarts Immatrikulationsliste nachsehen, als Prüfer kann ich es ohne irgendwelche Aufmerksamkeit zu erregen. Und ich kann nachsehen, was mit denen passiert ist, die ihren Abschluss gemacht haben. Einfach nur, um zu überprüfen, ob es jemanden gibt, den das Ministerium im Auge behalten sollte. Und ich hoffe dadurch eine Ahnung zu kriegen, mit was wir es hier zu tun haben."
„Ich will es sehen", bemerkte Harry. „Wirst du noch einmal hingehen?"
Hermine nickte. „Morgen. Ich will mir die Krankenakten ansehen und mit dem Lehrer sprechen. Aber ich bin mir beinahe hundertprozentig sicher, dass es Snape ist, was vermutlich bedeutet, dass ich mich ihm keine dreißig Meter nähern kann. Aber ich werde zumindest versuchen, dass er mit mir redet. Besonders, wenn ich ihm sage, dass wir helfen wollen."
„Ich werde dich dann dort treffen", sagte Harry. „Unter dem Umhang. Wenn man mich dort sieht, wird das nur wieder für Aufregung sorgen. Und ich glaube nicht, dass es der richtige Moment ist."
Hermine nickte. Nach dem Krieg hat sich Harrys Ruhm noch verzehnfacht. Egal wo er hinging wurde er belagert und verfolgt. Sobald er sich außerhalb des Ministeriums oder seinem Zuhause aufhielt, folgten Fotos. Das war der einzige Grund, warum er und Ginny sich trotz der schmerzhaften Erinnerungen dafür entschieden hatten, im Grimmauldplatz zu bleiben. Es war noch immer unauffindbar und wurde weiterhin von dem Fideliuszauber und dem Antiapparationszauber beschützt. Also bot es den Potters genug Privatsphäre, um ihr Leben zu leben und mit ihrer Familienplanung zu beginnen.
„Ich bin froh, dass du mitkommst", sagte Hermine. „Ich glaube wirklich, dass mit dir die benötigten Aufmerksamkeiten und Spenden kommen, um auf dieses Problem aufmerksam zu machen. Du bist ein guter Freund."
„Das hat nichts damit zutun, ein guter oder schlechter Freund oder eine Berühmtheit oder ein Auror oder irgendwer zu sein. Sie sind Kriegswaisen, sie werden abgrundtief schlecht behandelt und ich weiß, dass es nicht deine Art ist zu übertreiben oder zu lügen. Ich glaube dir, wenn du sagst, dass diese Kinder in einem Gefängnis leben. Als ich in ihrem Alter war, habe ich unter ähnlichen Umständen leben müssen, selbst wenn sie nicht ganz so schlimm waren. Also hör auf mir zu danken. Ich mache es nicht, weil ich dir einen Gefallen tun will. Ich tue es, weil es das Richtige ist."
Ginny drückte lächelnd seinen Ellbogen. Sie war stolz auf ihren Ehemann. Weniger ehrenhafte Männer wäre der Ruhm zu Kopf gestiegen. Nicht Harry. Nur wenige Männer besaßen seinen Moralstandard.
„Wirst du Ron fragen, ob er kommt?", fragte Ginny. „Es wäre ein fast versprochener Erfolg, sollte das komplette Goldene Trio dahinterstehen. Solidarität und so. Und es verdreht vielleicht den Kopf von einigen dieser Beamtenbonzen."
„Ja, ich wollte ihn heute Abend eh noch besuchen. Ich werde ihn auf jeden Fall fragen, aber ich würde nicht drauf wetten, dass er kommt", sagte Hermine. „Du weißt doch, von uns allen, glaubt er an die härtesten Bestrafungen für einen Todesser und er glaubt, dass nur ein toter Todesser ein guter Todesser ist. Ich glaube er gibt ihnen die Schuld für Freds Tod. Ich glaube nicht, dass er davon ablässt. Aber doch, ich werde ihn fragen."
Ginny nickte und stimmte Hermines Vermutung zu.
„Ich sollte jetzt gehen. Ich werde mit Ron reden. Und ich sehe dich dann morgen." Mit einem Kuss und einer Umarmung für jeden, verabschiedete sie sich.
*~*~*
„Hermine!", rief Ron glücklich, als er die Tür öffnete. Er zog sie in eine große Umarmung und küsste sie auf die Wange. Sie lachte und drückte ihn zurück. Er entließ sie und bat sie einzutreten. Seit George Angelina Johnson letztes Jahr geheiratet hatte, bewohnte Ron die Wohnung über Weasleys Zauberhafte Zauberscherze in der Winkelgasse alleine.
Sie hatten vor fünf Jahren freundschaftlich ihre Beziehung beendet. Zusammen in einem Haus gewesen zu sein, die Intensität des Krieges, die Isolation bei ihrer Suche nach den Horkruxen und besonders die Erfahrungen nach der finalen Schlacht, hatten in ihnen verzweifelte Gefühle nach Nähe ausgelöst und sie hatten sie als Liebe missverstanden. Aber die Dinge kamen zur Ruhe und jeder begann mit seinen eigenen Dämonen zu kämpfen und so kamen sie zu dem Schluss, dass sie nicht nur nicht mehr dieselben Menschen wie vor dem Krieg waren, sondern, dass sie auch nicht so gut zusammenpassten, wie sie gehofft hatten. Trotz allem blieben sie gute Freunde. Der Gedanke, dass das Goldene Trio noch immer eine Einheit war, beruhigte Hermine unglaublich.
Ron führte sie hinein und bot ihr ein Glas Wein an, aber sie lehnte ab (da sie bereits zwei Gläser bei Harry getrunken hatte) und nahm stattdessen sein Angebot für eine Tasse Tee an. Sie redeten etwas über seine Arbeit im Geschäft seiner Brüder und ihrem Besuch bei Harry und Ginny. Letztendlich gelangte sie zum eigentlichen Punkt und erzählte ihm von ihrem Besuch im Waisenhaus, ihrem Verlangen zu helfen, Harrys Zustimmung mit ihr zusammenzuarbeiten und ihrem Besuch am nächsten Tag. Sie lud ihn ebenfalls ein.
„Hermine… ich weiß nicht…", sagte er schließlich. „Ich weiß, was du sagen willst, wirklich, das tue ich. Und ich denke, das ist großartig und ich hoffe du schaffst es. Aber ich glaube nicht, dass ich da mitmachen kann." Seine blauen Augen wirkten glasig und ehrlich bedauernd. „Es tut mir wirklich leid."
Nickend tätschelte sie seinen Arm. Durch den Krieg war Ron auf eine Art erwachsen geworden, die sie nie vermutet hätte. Er konnte noch immer wie sein altes Ich sein (lustig, gesellig, ein Idiot), aber jetzt besaß er eine gewisse Selbstwahrnehmung, die selbst ihn überraschte. Der alte, Vorkriegs-Ron wäre ausgerastet und hätte verlangt zu wissen, warum ausgerechnet den Kindern von Mördern, Vergewaltigern und Terroristen geholfen werden sollten und dass sie nicht besser als ihre Eltern waren. Der Ron nach dem Krieg wusste es besser. Er besaß die Weisheit, zwischen Vater und Sohn zu unterscheiden. Er kannte sich auch gut genug, um zu wissen, dass er nicht dabei mitmachen konnte.
„Ich verstehe es, wirklich. Ich will dich nicht unter Druck setzen. Ich wollte dich auch nur dazu einladen uns zu helfen." Sie lächelte.
„Ich will nicht, dass du denkst, du weißt schon, dass ich den Kindern die Schuld gebe."
„Ich weiß, dass du das nicht tust."
„Es ist nur… wissend, was passiert ist, diese Namen zu sehen, die Eltern in ihren Gesichtern zu erkennen… ich weiß ehrlich nicht, ob ich damit zurechtkommen würde. Und das Letzte, das absolut Letzte, was ich herausfinden will, ist, dass ich es mittendrin nicht durchziehen kann und euch verlasse, damit ihr die Bruchstücke zusammensammeln könnt."
Hermine wusste, worauf er sich bezog und entschied zu diesem Thema nichts zu sagen. Ron hatte sich nie dafür vergeben, an diesem einen Abend aus dem Zelt geflüchtet und verschwunden zu sein.
„Also selbst wenn das der Fall wäre, wäre es verständlich. Ich weiß noch nicht einmal, ob wir überhaupt irgendwas machen werden oder ob wir das hier durchziehen können, aber ich will es zumindest versuchen."
Er nickte. „Halte mich aber auf dem Laufenden. Wenn es irgendwas gibt, was ich tun kann, du weißt schon, von außerhalb, dann…"
„Bist du der erste, den ich rufe", sagte sie. „Versprochen."
*~*~*
Hermine hatte genug Zeit mit ihrem besten Freund verbracht, um die Gefühle in seinen smaragdgrünen Augen zu erkennen, selbst wenn seine Gesichtszüge ausdruckslos blieben. Heute war es schwer seinen Ausdruck zu deuten, da einfach zu viele Gefühle auf einmal sein Gesicht zeichneten: Angst, Schuld, Wut, Qual, Hilflosigkeit und Entschlossenheit waren alle dort zu finden. Vielleicht konnte sie ein paar andere nicht deuten. Es war nicht besonders einfach bei diesem Licht.
Die Kinder saßen zusammengekauert in einer Ecke und flüsterten miteinander. Es waren ungefähr fünfzehn von ihnen, im Alter zwischen fünf oder sechs bis elf, gerade alt genug, um nach Hogwarts zu gehen. Die Augen, genau dieselben toten Augen, die Hermine auch schon am vorigen Tag gesehen hatte, starrten sie jetzt an. Ihre Haare waren ungekämmt, ihr Haut blass und ihre Kleidung war schäbig. Die Kleidungsstücke stammten sicherlich aus irgendwelchen Spenden, aber es war wahrscheinlicher, dass es Reste aus anderen Stiftungen waren, die besser hier gebraucht wurden, als weggeschmissen zu werden. Es gab keine Fenster und kein natürliches Licht, nur ein gedämmtes Leuchten von der Decke, welches beinahe wie Schwarzlicht wirkte. War eines dieser Kinder jemals draußen gewesen?
Fremde waren hier unten nicht willkommen. Obwohl es ständig neue Lehrer, Heiler und Pfleger gab, hatten sie sich nie an irgendwelche neuen Gesichter gewöhnt. Sie waren sichtlich erschüttert, verängstigt und vertrauten ihnen nicht.
Sie waren alle in einem großen Raum, in dem ein paar Tische und eine Couch standen, die bereits auf einer Seite die Polsterung verlor. Harry und Hermine waren nicht sehr weit in den Raum getreten, bevor die Kinder aufgestanden und zur anderen Seite des Raumes gegangen waren, so weit entfernt von den Fremden, wie es ihnen möglich war.
Sie sahen aus wie Kinder, die Misshandlung erwarteten. Hermine wusste, dass Miss Glastonbury darüber gelogen hatte, dass keine gefährlichen oder gewalttätigen Personen den Kindern zu nahe kamen. Einige der „Freiwilligen" hatten sehr wahrscheinlich jemand Geliebtes durch die Hand eines Todessers verloren und Hermine würde alles verwetteten, dass einige dies als ihre Chance zur Rache ansahen.
„Glaubst du, wir sollten…", begann Harry.
Hermine schüttelte mit dem Kopf. „Ich glaube, es würde sie nur verängstigen."
„Ich will etwas… irgendwas sagen… damit sie wissen, dass wir ihnen nichts tun wollen."
„Ich denke nicht, dass sie uns glauben werden."
Harry nickte. „Wir sollten dann gehen." Sie drehten sich um und verließen leise den Raum durch die Tür, durch die sie gekommen waren. Ein letzter Blick zu den Kindern, die sichtlich erleichtert waren, dass die fremden Besucher verschwanden. Sie waren bedacht darauf die Tür leise und vorsichtig zu schließen, damit sie nicht aufgeschreckt wurden. Sie drehten sich erst um, als die Tür wieder verriegelt war, nur um sich einer großen, dunklen Person gegenüberstehen zu sehen.
Der mörderische Blick war einer, den sie zuvor nur allzu oft gesehen hatten und doch wirkte er viel stärker, als in ihren Erinnerungen.
Hermine hatte wie immer recht behalten. Severus Snape arbeitete in der Tat mit den Waisenkindern.
„Was zum Teufel haben Sie hier verloren?", spuckte er mit verschränkten Armen und starrte auf sie hinunter. Obwohl beide inzwischen erwachsen waren, war keiner so groß wie Snape. Sie hatten vergessen, wie groß er wirklich war. Er loderte vor Wut. „Wen haben Sie noch reingelassen? Für wen arbeiten Sie? Ist das hier für Sie irgend so ein Spektakel? Eine Art Bloßstellung?"
„Nein!", protestierte Hermine. „Ich weiß nicht, ob man es Ihnen gesagt hat, aber ich bin zu einer Überprüfung hier und…"
„Und Sie haben gedacht, Sie schleifen Ihren Freund mit, damit er sich die Unterhaltung selbst ansehen kann? Eine Prominententour durch diese wundervolle Einrichtung des Ministeriums?"
„Nein, nicht unbedingt, aber ja. Ich war gestern hier und war entsetzt von dem, was ich hier gesehen habe und er wollte es dann auch ansehen."
„Haben Sie noch jemanden mitgebracht, oder nicht? Ist die Presse auch hier unten, um sie bloßzustellen?"
„Ich bin hier, weil ich sehen will, ob ich helfen kann!", ging Harry dazwischen. In diesem Moment kam es ihm so vor, dass sie genau dieselbe Unterhaltung auch vor sieben Jahren in Hogwarts während ihres Unterrichtes in Verteidigung hätten führen können. Die Dynamik zwischen ihnen hatte sich offenbar nicht geändert. Snape befand sich in der Offensive, beschuldigte sie und er und Hermine befanden sich in der Defensive, um ihre Unschuld zu rechtfertigen.
Schon interessant, dass je mehr sich veränderte, desto mehr doch gleich blieb.
Für eine ganze Weile sprach niemand. Endlich entschied Hermine das Schweigen zu brechen. „Vielleicht könnten wir ja… uns irgendwo hinsetzen und reden?" Snape knurrte sie an und sah so aus, als ob er sich überlegen würde, ob er sie gleich hier verfluchen oder doch erst rausschmeißen und dann verfluchen sollte. Stattdessen entschied er sich für die dritte Option und führte sie durch eine Tür den Flur hinunter, was sich als sein Büro herausstellte.
Er setzte sich hinter seinen Schreibtisch, legte die Fingerspitzen aneinander und starrte sie schweigend mit kalten, schwarzen Augen an. Nach all den Jahren und all dieser Zeit fort von Hogwarts, funktioniert es noch immer. Harry und Hermine saßen aufrechter und warteten darauf, dass er das Wort ergriff.
Er sah... gleich und doch anders aus. Er trug nicht länger von Kopf bis Fuß schwarz, sondern ein weißes Hemd, dunkelgraue Hosen und einen grauen Pullover. Es sah ziemlich… schick aus. Hier und da ein paar graue Strähnen und zwei zerklüftete Narben von einem Schlangenbiss an seinem Hals, aber nichts allzu Schlimmes. Sein Haar war jetzt kürzer, als sie es jemals gesehen hatten. Es war weich und jetzt vielleicht zwei bis fünf Zentimeter lang und der Schnitt umrahmte sein Gesicht, nicht wie der ölige Vorhang, den sie gewohnt waren. In dieser Länge standen die Haare etwas ab und besaßen jetzt, nun, Volumen. Seine Haut sah gesünder aus, zwar noch immer ziemlich blass, aber sie besaß jetzt nicht mehr den gelblichen Stich. Er verbrachte vermutlich den Großteil seiner Zeit hier unten. Aber diese Augen, diese kalten, durchschneidenden Augen hatten sich nicht verändert.
Hermine war von der Tatsache, dass, obwohl er sechs Jahre älter war, zehn Jahre jünger aussah, wie vor den Kopf gehauen.
Er hatte seit Stunden bewusstlos in dem Bootshaus gelegen, bevor jemand gekommen war, um seinen Körper zu bergen. Als sie ihn einmal gefunden hatten, waren sie schockiert gewesen, dass er weniger Blut verloren hatte, als sie angenommen hatten (die Fangzähne hatten die Venen wohl nur gestreift als wirklich durchbohrt, obwohl es sehr knapp gewesen war) und dass das Gift ihn nicht getötet, sondern dafür gesorgt hatte, dass er in ein Koma gefallen war. Ein ganzes Jahr hatte er in diesem Zustand in St. Mungos gelegen und hatte glückselig die Öffentlichkeit und Heldenverehrung, die folgte, verpasst. Sie hatten sich beinahe gefragt, ob er extra in diesem Zustand blieb, um all dem aus dem Weg zu gehen. Nichtsdestotrotz war er am ersten Jahrestag aufgewacht, überraschend gesund und verschwand in die Vergessenheit.
Endlich begann er zu sprechen, seine Worte waren langsam und gefährlich, als ob er noch ihr Professor war. „Sie haben meine Sicherheitsvorkehrungen verletzt, Kriegswaisen angestarrt und sie zu Tode geängstigt. Geben Sie mir nur einen Grund, warum ich Sie nicht auf der Stelle verfluchen, mit einem Vergessenszauber belegen und auf die Straße schmeißen sollte."
*~*~*
Anmerkung Amarti: Severus hatte seit, was, seinem neunte Lebensjahr immer denselben Haarschnitt getragen? Es war jetzt an der Zeit das etwas zu ändern.
Der erwachsene Ron wird in dieser FF eine Rolle spielen, genau wie das gesamte Trio.
Ich persönlich bevorzuge Severus' Todesszene aus dem Film als die aus dem Buch, also wird diese auch in dieser FF benutzt, selbst wenn sich alles andere nach den Büchern richtet. Ich habe dies aus zwei Gründen getan: 1) Ich dachte, dass sie eine bereits epische Szene genommen und sie dann noch verbessert haben und 2) dachte ich, dass er eher einen Rettungsversuch auf dem Schulgelände überleben würde, als in Hogsmeade, was ein bis zwei Kilometer entfernt liegt?
Als Nächstes: Unsere Helden führen eine kleine Unterhaltung. Werden sie auch einer Meinung sein?
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Ich glaube, man hätte mich für geisteskrank erklärt, wenn ich mit all dem gerechnet hätte. Wer konnte das vorausahnen? Niemand. Ich jedenfalls nicht...