von GinHerDum
~Harry~
„Harry? Komm runter! Sofort!“
Onkel Vernons Stimme dröhnt durch das ganze Haus. Ich lege den Stift zur Seite, mit dem ich gerade einen Brief an Sirius schreiben wollte und gehe langsam zur Tür.
„Was ist los?“
Seit diesem Jahr konnte ich mir einige Freiheiten leisten, an die ich in den Jahren zuvor nicht einmal gewagt hatte darüber nachzudenken. Denn ich hatte ganz nebenbei bemerkt, dass mein Patenonkel ein kaltblütiger Mörder war, der aus dem Gefängnis geflohen war. Dass dieser jedoch zu Unrecht dort eingesessen hatte, war mir dabei wohl entfallen.
Jedenfalls hatte ich mir dabei bei den Dursleys ein gewisses Maß an Respekt verdient, was dazu geführt hatte, dass ich meine Schulsachen mit auf mein Zimmer nehmen und sogar Hedwig bei Nacht ihren Käfig verlassen durfte. Auch einige spitze Bemerkungen hatte ich mir nicht verkneifen können, die Onkel Vernon mit hochrotem Kopf versucht hatte zu ignorieren.
„Ich habe gesagt, du sollst runter kommen! Spreche ich Spanisch?“
Gemütlich steige ich die Treppe hinunter. Wahrscheinlich will er mich nur wieder für irgendetwas verantwortlich machen, dass in Wahrheit Dudley angestellt hatte. So wie es gestern mit den Joghurts gewesen war, die ich aus dem Kühlschrank gezaubert haben sollte – dass Dudley sie gegessen hatte und die leeren Becher sogar noch in seinem Zimmer lagen, hatte er dabei nicht beachtet.
Doch schon auf den letzten Stufen angekommen, werde ich stutzig. Onkel Vernon hält den Telefonhörer in der Hand, sein Gesicht hat eine puterrote Farbe angenommen. Fragend und ein wenig belustigt zugleich, schaue ich ihn an.
„Und? Was ist nun?“
„Hier ist jemand von … deiner Sippe am Telefon. Sie will mit dir sprechen. Und ich warne dich, sollte danach irgendetwas nicht mehr funktionieren, dann wirst du ein Neues kaufen gehen“, fügt er leise drohend hinzu.
Ich verdrehe die Augen. Dann nehme ich den Hörer aus seiner Hand. Wer sollte das sein? Die einzige von ‚meiner Sippe’, die mit einem Telefon umgehen konnte, war Hermine. Doch warum schickte sie mir keine Eule?
„Hallo?“, frage ich misstrauisch.
„Harry! Gott sei Dank, dass du da bist. Ich … ich muss mit dir sprechen.“
„Hermine! Was ist los? Warum rufst du mich an? Ist etwas passiert?“ Ich spreche hektisch, denn ich kann in ihrer Stimme hören, dass etwas nicht in Ordnung ist.
„Bist du allein?“ Weint sie?
„Nein. Warte einen Moment.“
Mit schnellen Schritten steige ich die Treppe hinauf. Vernons Rufe nehme ich nur verschwommen wahr. Was war geschehen?
In meinem Zimmer angekommen, verschließe ich die Tür und setze mich auf mein Bett. Ich merke, wie meine Hände beginnen zu zittern.
„So, jetzt bin ich allein. Nun sag schon, was passiert ist!“
„Es ist … kompliziert … ich bin …“ Ihre Stimme bricht ab und einige Sekunden höre ich nur ihren unregelmäßigen Atem, bis sie einmal tief Luft holt und dann weiterspricht: „Ich bin im St.Mugos, Harry.“
„Du bist was? Was ist passiert? Geht es dir gut?“
Während ich die letzte Frage ausspreche, entfährt ihr ein lautes Schluchzen und ich kann hören wie sie ihren Kopf schüttelt.
„Nein“, flüsterte sie.
„Was ist mit dir?“ frage ich, dieses Mal mit Nachdruck.
„Ich … ich habe ein Buch in der Winkelgasse gekauft und … als ich es geöffnet habe, da ist es in meine Brust geschossen.“
Einen Augenblick bin ich unfähig etwas zu sagen. Das war zu viel. Nun bin ich es, der tief einatmet, um die Fassung zu bewahren.
„Was ist in deine Brust geschossen?“
„Ein Fluch.“
„Aber das wird wieder, oder? Sie können etwas dagegen tun?“
Wieder hörte ich am anderen Ende der Leitung ein Schluchzen. Dieses Mal dauert es noch länger, bis sie antworten kann und wieder ist es ein kaum verständliches Flüstern.
„Ich weiß es nicht.“
Es war, als trete mir jemand mit voller Wucht in den Bauch. Eine Sekunde bleibt mir die Luft weg.
„Ich komme, sobald ich hier wegkomme, okay?“
Sie sagte nichts, aber ein weiteres Schluchzen signalisiert mir, dass es okay war.
„Bis nachher. Halte durch.“
„Danke“, bringt sie gepresst heraus, dann will ich gerade auflegen, als es mir zum Glück einfällt.
„Hermine! Warte! Ich weiß gar nicht, wie ich dorthin komme!“
Ihre Stimme ist noch immer leise, aber ein wenig fester als zuvor.
„Es ist im Kaufhaus 'Reinig und Tukunter'. Du musst die Schaufensterpuppe flüsternd ansprechen, dann kannst du durch die Glasscheibe gehen. Wie in King's Cross.“
„Okay.“ Ich nicke und höre am anderen Ende der Leitung ein leises Schluchzen. Ohne ein weiteres Wort lege ich auf. Es war alles gesagt.
Einige Minuten sitze ich einfach nur da, auf der kante meines Bettes und starre an die Wand. Hermine hatte sich schrecklich angehört. So schlecht, wie noch nie.
Und sie wusste nicht, ob es die Heiler schafften, den Fluch aufzuheben. Was auch immer er mit ihr anrichtete, es klang nicht gut.
Das laute „HARRY!“, das aus dem unteren Stockwerk nach oben dringt, reißt mich jäh aus meinen Gedanken. Ich stehe auf, bringe das Telefon wieder zu meinem Onkel. Er sagt irgendetwas, doch ich nehme es nicht wahr. Wahrscheinlich irgendeine Beleidigung, aber das ist mir egal.
Das einzige, was ich noch will, ist zu ihr hinzufahren, doch das wäre wohl erst möglich, wenn meine Verwandten schliefen, also gehe ich wieder zurück in mein Zimmer.
Ich lege mich auf mein ungemachtes Bett und starre an die Decke. Hin und wieder schaue ich auf den kleinen, selbst reparierten Wecker, der einst Dudley gehört hatte, doch die Minuten kriechen nur so dahin.
Es würde noch Stunden dauern, bis die Dursleys eingeschlafen waren.
~~*~~
Langsam, damit es bloß kein Geräusch macht, öffne ich das Fenster. Die warme Nachtluft strömt augenblicklich in mein Gesicht.
Ich steige vorsichtig auf das Fensterbrett und versuche dann auf den Besen zu steigen, ohne dabei in den säuberlich gepflegten Vorgarten zu fallen. Dann stoße ich mich feste ab und bin schon im nächsten Moment hoch über den Dächern von Little Whinging. Einige Minuten genieße ich die frische Brise, die an mir vorbeizieht. Ich habe das Fliegen vermisst.
Doch dann denke ich wieder an Hermine und wie es ihr wohl gehen mag und mein Gesicht wird ernst. Ich muss so schnell es geht zu ihr kommen.
Den Weg nach London finde ich ohne große Probleme, so oft bin ich ihn schon im Kopf durchgegangen. Doch als ich über dem Meer von Lichtern in der Dunkelheit angelangt bin, fällt mir auf, dass ich keine Ahnung habe, wo das St.Mungos ist.
Ich weiß zwar den Namen und wie ich hinein komme, aber nicht, wo genau es liegt. Einige Minuten kreise ich über die Stadt, möglichst hoch, damit mich kein Muggel sehen kann.
In dieser riesigen Stadt war es kaum möglich, einfach so das Krankenhaus zu finden. Das einzige, was mir einfällt, ist der tropfende Kessel. Doch das würde zu sehr aufhalten. Vielleicht würde ich das Kaufhaus auch so finden.
Einige Minuten schwirre ich einfach auf der Stelle, weil ich nicht weiß, was ich tun soll. Das einzige was ich weiß ist, dass ich so schnell wie nur möglich zu Hermine komme. Sie hat zwar versucht es zu überspielen, aber sie war sehr besorgt gewesen, das hatte ich gehört.
Und wie durch ein Wunder kommt auf einmal jemand an mir vorbei geflogen. Wahrscheinlich mehr aus Reflex als alles andere, lehne ich mich sofort nach vorne und rase dem Zauberer hinterher. Die Wahrscheinlichkeit, dass mir noch jemand begegnen würde, schätze ich als sehr gering ein, weswegen ich diesen Mann unbedingt aufhalten muss.
Nach wenigen Sekunden – sein Besen scheint um einiges langsamer zu sein als mein Feuerblitz – bin ich so nah an ihm dran, dass er mich hören kann.
„Hallo? Entschuldigung!“
Ich schreie in die Nacht hinein so laut es geht, damit der mich durch den Fahrtwind auch versteht. Doch scheinbar war es mehr als genug gewesen, er schreckt so zusammen, dass er fast den Halt verliert.
„Was ...eh … oh“, stammelt er, bis er endlich etwas langsamer wird, schließlich in der Luft stehen bleibt und mich verwirrt anschaut.
„Ich muss wissen,wo das St.Mungos ist!“, sage ich, etwas heftiger als beabsichtigt.
„Ehm … also, Sie müssen noch etwa einen halben Kilometer nach Norden und dann hinunter, in einer kleinen Seitenstraße. Ist aber eigentlich gut zu erkennen, auf dem Dach ist mit ein paar Pflanzen ein Kreuz abgebildet, damit man es auch aus der Luft erkennt ...“
Ich nicke,verlagere mein Gewicht nach vorne und stürze hinab. Erst als ich das Kreuz erkennen kann, fällt mir ein, dass ich mich nicht einmal bedankt habe.
~~*~~
Ich stehe in dem kleinen, schäbigen Aufzug und bereite mich innerlich darauf vor, was mich gleich erwarten würde. Je länger ich jedoch darüber nachdachte, desto verstörender wird die Situation. Hermine in einem Krankenbett. Angeschlossen an Schläuchen.
So stelle ich es mir jedenfalls vor. Ich bin noch nie in meinem Leben in einem Krankenhaus gewesen, geschweige denn in einem Zaubererkrankenhaus. Alles was ich darüber wusste, kannte ich aus dem Krankenflügel in Hogwarts, wo jedoch nur leichte Krankheiten und Verletzungen behandelt werden und aus dem Fernsehen – einen Sommer lang hatte Dudley einmal eine Serie geguckt, die im Krankenhaus spielte. Zwar verlor er nach wenigen Wochen schon das Interesse daran, doch ich hatte genug mitbekommen, um mir einen Eindruck verschaffen zu können.
„5. Stock. …..“, säuselt die Frauenstimme in dem Aufzug plötzlich und die Türen fliegen auf. Schnell packe ich meinen Tarnumhang aus der Tasche und werfe ihn über mich. Es ist mitten in der Nacht und auf den Stationen war um diese Uhrzeit Besuch mit Sicherheit nicht sonderlich erwünscht.
Ich gehe durch einen langen, weiß gestrichenen Flur, mit vielen Türen rechts und links, hinter denen sich wohl die Zimmer verbargen. Noch scheint es sich nicht sonderlich von einem Muggelkrankenhaus zu unterscheiden.
Ich muss einfach mein Glück versuchen, um Hermine zu finden und so öffne ich die erste Türe links von mir. Langsam schiebe ich sie auf und hoffe, dass der Patient schläft und sich nicht darüber wundert, dass die Türe scheinbar von selber aufgeht.
Doch es ist nicht Hermine, die dort liegt, das erkenne ich sofort und schließe die Türe wieder. Genauso mache ich es noch bei den drei nächsten, doch nirgendwo ist das Mädchen, das ich suche.
Erst als ich es auf der rechten Seite des Flures versuche, habe ich sie endlich gefunden. Ich muss die Türe nur einen Spalt breit öffnen, um sie zu erkennen. Ihr buschiges Haar verrät augenblicklich, wer sie ist.
Ich schlüpfe durch den Spalt und stehe in dem kleinen Raum, der fast völlig von dem Bett gefüllt wird, in dem sie liegt.
Doch sie sieht anders aus, als ich sie in Erinnerung habe und auch der Raum selbst hat nichts mit dem zu tun, was ich von einem Krankenhaus weiß. Dort sind keine Schläuche der Geräte, die piepsen oder sonst Töne von sich geben.
Dort liegt einfach nur Hermine, die dem Mädchen, das ich kenne und die wie eine Schwester für mich ist, überhaupt nicht mehr ähnlich sieht.
Ihr Gesicht ist blass und gleichzeitig unnatürlich geschwollen. Ihre Arme sind in dicke Verbände gepackt und auch die Brust scheint verbunden zu sein.
Ich schnappe nach Luft.
So hatte ich es mir nicht vorgestellt. Mit Schläuchen und Nadeln und Geräten hätte ich umgehen können. Doch so scheint es, als würde nichts dafür getan, dass es ihr bald besser geht.
Ich weiß natürlich, dass es nicht stimmt, ich habe auf Hogwarts schon mehr als einmal mitbekommen, dass die magische Medizin um weit bessere Hilfsmittel verfügte, als die Muggel und doch weiß ich, dass es mich mehr beruhigt hätte, wenn dort etwas stehen würde, was auf sie aufpasste.
Meine Angst wird noch größer, als sie auf einmal eine ruckartige Bewegung macht. Ich hielt die Luft an. Sie hustet einmal heftig und es klingt, als würde ihre Lunge in ihr zerbersten. Doch es geht so schnell wie es gekommen war, ihre Züge entspannen sich wieder und sie schläft einfach weiter.
Ich stehe noch immer direkt hinter der Türe, bin unfähig mich zu bewegen. Noch wenige Wochen zuvor war sie so gewesen, wie ich sie immer kannte. Fröhlich, klug, unbeschwert. Und jetzt liegt sie da, in Verbände gewickelt und scheinbar unfähig sich zu bewegen.
Noch einmal mustere ich sie von oben bis unten, achte genau darauf, wo der Fluch sie möglicherweise getroffen hat. Ihre Arme und die Brust scheint es am meisten getroffen zu haben.
Endlich finde ich die Kraft, auf ihr Bett zuzugehen. Als ich direkt neben ihr stehe berühre ich vorsichtig ihre Hand, die von den weißen Verbänden verschont geblieben waren.
Und in diesem Moment bricht die Hölle über mir ein.
Ihr ganzer Körper verkrampft sich und zuckt in unnatürlichen Bewegungen. Das Husten kehrt zurück und es klingt noch schlimmer als beim ersten Mal. Ihr ganzes Gesicht verzieht sich zu einer schmerzverzerrten Grimasse.
Die Türe hinter mir fliegt auf und drei Heiler stehen plötzlich in dem Raum. In letzter Sekunde schaffe ich es, zur Seite zu springen, weil einer von ihnen genau dort hintritt, wo ich gestanden hatte. Ohne miteinander zu sprechen, zücken sie ihre Zauberstäbe, murmeln unverständliche Worte und Hermine wird eingehüllt von bunten Lichtern und Strahlen.
Doch dann kommen ihre Schreie hinzu. Schreie, die einem das Blut in den Adern gefrieren lassen. Ein Ton, der durch den ganzen Körper geht und die Gewissheit bringt, dass man ihn nie wieder vergessen wird.
Ich schließe meine Augen, kann nicht mehr mit ansehen, was sie dort mit meiner besten Freundin veranstalten. Das Schreien vermischt sich mit dem Gemurmel und dem Zischen der Lichtstrahlen, die aus den Zauberstäben dringen.
Und dann, ganz plötzlich ist alles still.
Keine Schreie. Kein Zischen. Kein Gemurmel. Nichts.
Ich höre nur noch das Blut in meinen Ohren rauschen. Was hatte das zu bedeuten?
Ich bin nicht in der Lage meine Augen zu öffnen. Minutenlang stehe ich einfach nur da und hoffe, dass das nicht wahr ist.
Erst als ich höre, wie die Heiler die Türe hinter sich schließen, wird mir klar, dass es genau das ist. Ich muss alle meine Kräfte zusammennehmen, um diese kleine Bewegung meiner Augenlider ausführen zu können.
Das Licht ist ausgeschaltet. Anders als zuvor.
Ich muss wieder an das Bett herantreten, um sie sehen zu können.
Nun sieht es wirklich so aus, als würde sie friedlich schlafen. Ihre Augen sind geschlossen, die Decke lag ordentlich auf ihrem Körper, die Arme oben darauf zusammengelegt.
Erneut berühre ich ihre Hand und spüre, wie sie langsam alle Wärme verlässt.
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