von Noble Scarlet
Mit aller Kraft kämpfte Lenora gegen die Tränen an, die ihr die Sicht zu nehmen drohten. Sie hatte den Mund zu einem stummen Schrei geöffnet und ihre Hand umklammerte krampfhaft ihren Zauberstab.
Ihre weit aufgerissenen Augen ruhten starr auf Tom, der nun eine Hand gen Slytherins Steingesicht hob und laut zu zischen begann. Seine Stimme hallte durch die Kammer und die feuchten Steinwände gaben sie hunderte Male als Echo zurück.
Lenora lief ein eisiger Schauer über den Rücken, doch der war nichts im Vergleich zu der klaffenden Wunde in ihrer Brust.
Es fühlte sich an, als hätte Tom ihr brutal das Herz herausgerissen. Oder war es nur vor Angst stehen geblieben?
Nein...
Er hatte ihr die ganze Zeit über etwas vorgespielt, er hatte sie belogen, hintergangen, verraten, er hatte sie betrogen. Warum? Warum nur? Bedeutete sie ihm den gar nichts?
You took my heart,
deceived me right from the start.
You showed me dreams,
I wished they would turn into real.
You broke the promise and made me realise.
It was all just a lie.
Ja, nun hatte dieses Lied eine richtige Bedeutung für sie...
Sie hielt es nicht aus. Lenora hob den Arm und wischte sich die Tränen weg, die ihr nun über die Wangen rannen.
Nein...
Wenn sie ihm etwas bedeuten würde, dann würde er nicht hier stehen! Dann würde er nicht irgendein Monster rufen und es auf unschuldigen Schüler hetzen.
Wieso tat er das? Er hatte keinen Grund dafür. Er hatte kein Recht dazu!
Lenora spürte einen Stich im Herzen als ihr klar wurde warum...
„Es macht ihm Spass!“, hallte es entsetzt durch ihren Kopf, „Er will töten. Er erfreut sich an der Qual der anderen!“
Aber würde das nicht heissen, dass...? Sie bedeutete ihm nichts. Er fand nicht den geringsten Gefallen an ihr.
„LAUF!“, kreischte die Stimme in ihrem Kopf, „Lenora, lauf! Er wird nicht zögern auch dich zu töten!“
Aber Lenora konnte nicht laufen.
Entsetzt beobachtete sie, was sich vor ihren Augen abspielte. Der grosse Steinmund der Statue öffnete sich mit einem grässlichen Knirschen. In seinem Innern wand sich etwas grosses, etwas riesiges.
Zuerst tauchte nur der drachenartige Kopf auf, dann folgte der lange, dicke Schlangenkörper. Mit einem lauten Klatschen landete die Riesenschlange auf dem Steinboden vor Tom.
Sofort riss Lenora den Blick von ihr. Es war ein Basilisk, würde sie ihm in die Augen blicken, wäre sie auf der Stelle tot.
Toms Stimme wurde jetzt leiser, beinahe ein Flüstern. Er sprach mit dem Monster und es antwortete ihm mit dem selben Gezische.
Langsam, wie in einem furchtbaren Alptraum gefangen, ging Lenora rückwärts hinter den Säulen entlang. Es war so grässlich! Doch dies war kein Traum, dies war die Realität und sie wusste, dass sie eigentlich nicht hier sein sollte.
Tom verstummte.
Plötzlich fuhr der Kopf des Basilisken herum und seine todbringenden, gelben Augen starrten direkt in Lenoras Richtung. Sie kniff die Augen zusammen und sprang lautlos in eine Nische zwischen zwei Säulen und der kalten, feuchten Steinwand.
Das Monster grollte leise.
Lenora wagte es nicht die Augen zu öffnen. Was sollte sie nur tun? Was konnte sie tun? Sie wusste nicht, wie solch ein Monster zu töten war. Und selbst wenn sie es schaffen würde, wäre da noch immer Tom.
Wenn er sie bemerkte, dann...
„Die Augen!“, schrie ihre innere Stimme, „Unternimm etwas gegen die Augen!“
Ja, aber was?
Vorsichtig blinzelte Lenora zwischen ihren Augenlider hindurch, bereit sie sofort wieder zu schliessen.
Tom stand noch immer am selben Ort, doch auch er sah sich um. Der Basilisk zischte leise und begann dann auf seinem riesigen Körper in Lenoras Richtung zu gleiten. Sie hob den Zauberstab, jetzt war er nur noch wenige Meter von ihr entfernt.
Lenora schwang ihren Zauberstab so schnell, dass ihre Hand verschwamm, stumm formte sie mit den Lippen den Fluch, der ihr Leben vielleicht um einige Minuten verlängern würde. Der, durch seine Geschwindigkeit unsichtbare, Blindheitsfluch, knallte auf den geschuppten Kopf des Basilisken. Er würde nicht lange wirken, aber in der kurzen Zeit war der Basilisk vollkommen blind.
Er schrie, wütend darüber sein Augenlicht verloren zu haben. Nun hörte Lenora wie Tom angerannt kam. Ihm musste längst klar sein, dass er nicht alleine hier war. Er fluchte und schrie dem Basilisken etwas zu. Die Riesenschlange blähte die schlitzartigen Nasenlöcher und schnüffelte.
„Er riecht mich!“, durchfuhr es Lenora. Sie hatte keine andere Wahl, mit zitternden Knien schlüpfte sie aus ihrem Versteck und begann zu rennen.
Sie rannte, rannte um ihr Leben und achtete nicht auf die Wasserpfützen auf dem glitschigen Boden, die bei jedem ihrer Schritte laut platschten.
Sie achtete auch nicht auf die Flüche, die hinter ihr herjagten, Tom hatte sie also gehört.
„Stehen bleiben!“, schrie er ihr wutentbrannt hinterher.
„Niemals!“, schrie Lenora hasserfüllt zurück.
Tom hielt abrupt an, ihre Stimme durchzuckte ihn wie ein Blitz.
Sie war also die dunkle Gestalt, die dort zwischen den Säulen hindurchrannte. Wieso? Was tat sie hier? Sie konnte es einfach nicht sein! Sie durfte es nicht sein!
Der Basilisk glitt an seinem Herrn vorbei und stiess mit weit geöffnetem Mund auf das zierliche Mädchen hinab.
„LENORA! NEEEEIN!“
Sie rutschte aus. Wie in Zeitlupe sah Tom ihren Körper auf den Boden zufallen, sah ihr Haar ein letztes Mal ihr Gesicht umwehen...
Ein ohrenbetäubender Schrei hallte durch die Kammer, als sich der Basilisk auf das Mädchen stürzte. Tom kniff die Augen zusammen.
Nein! Nein! Nein!
Lenora knallte auf den harten Steinboden, hinter sich fühlte sie einen Windstoss. Sie hatte nur den Bruchteil einer Sekunde um zu begreifen, was dies zu bedeuten hatte. Mit einem lauten Schrei drehte sie sich auf den Rücken und erschuf einen Schutzschild.
Mit voller Wucht krachte der Basilisk auf ihren Zauber und wurde einen Meter zurückgeschleudert. Einen Meter, der Lenora rettete. So schnell sie konnte, hiefte sie sich wieder auf die Beine und rannte weiter, doch nun umgab sie sich mit einem Schild.
Sie würde nicht kampflos aufgeben.
Tom rief etwas, sie beachtete ihn nicht. Ihr Puls raste und auf ihrer Stirn stand kalter Angstschweiss. Wie weit war der verdammte Ausgang denn noch entfernt?!
Der Basilisk brüllte vor Wut. Tom rief ihm etwas zu, hach, wenn sie ihn doch nur verstehen würde! Und wie sollte sie bloss lebend durch den Tunnel und wieder zurück durch das Rohr kommen?
Unmöglich. Sie war verloren.
„Hilf mir!“, flehte Lenora in Gedanken, „Oh bitte, Rowena Ravenclaw, hilf mir!“
Tom brüllte sein Gezische beinahe, doch der Basilisk wollte einfach nicht hören. Immer wieder musste Tom seinem herumschlagenden Schwanz ausweichen. Warum gehorchte er bloss nicht?
„Hör auf! Lass sie gehen! Hör mir zu!“, kreischte er laut, aber das Monster war zu sehr damit beschäftigt Lenora zu jagen.
„Nicht! Lenora! Lenora!“
Wenn sie wieder hinfiel...
Plötzlich leuchtete der Kristall an ihrem Armreif blau auf. Sein Licht umströmte sie wie Wasser.
„Flieg mein Adler“, hallte eine ernste Frauenstimme in ihren Ohren, „Flieg!“
Durch Lenoras Körper ging ein Ruck, dann sah sie auf einmal den Boden weit unter sich.
Der Basilisk hielt verwirrt an der Stelle, auf der sie zuletzt gestanden hatte. Tom riss erstaunt den Mund auf. Das blaue Licht war verschwunden und über dem Kopf seines Basilisken schwebte ein Adler.
Sobald Lenora begriffen hatte, was mit ihr geschehen war, flog sie los:
Aus der Kammer hinaus, den Tunnel entlang und dann so schnell wie möglich durch das Rohr zurück in die Schule hinauf. Sie machte sich keine Gedanken darüber, wie sie sich zurückverwandeln sollte.
Noch immer hörte sie hinter sich den Basilisken kreischen und sie wollte nur eines:
Überleben.
Als sie aus dem Rohr ins Klo der Maulenden Myrte geschossen kam, sass Myrte auf einem Waschbecken und blinzelte überrascht. Lenora, in ihrer Adlergestalt, beachtete sie nicht und flog einfach weiter durch die Tür auf den Korridor hinaus.
Helles Licht strahlte ihr entgegen. Sie landete auf einem Fenstersims am Ende des Korridors und blickte hinaus auf das Schulgelände. Die Sonne schien durch einen schmalen Spalt in der grauen Wolkendecke und warf ihre Strahlen direkt auf die Schule. Lenora überlegte sich, was sie nun tun sollte. Der Adler zitterte.
Sie war dem Tod nahe gewesen, viel zu nahe...
„Die Kraft Ravenclaws hat mich gerettet“, dachte sie, „Aber wie war das möglich?“
Plötzlich fühlte sie wieder einen eigenartigen Ruck durch ihren Körper gehen.
Sie fiel vom Fenstersims und war wieder sie selbst geworden. Verwirrt rappelte das Mädchen sich auf. Was nun? Sollte sie jemandem von Tom erzählen?
Doch das würde nicht länger nötig sein.
Sie fühlte auf einmal ruhigen, kühlen Atem über ihren Nacken streichen.
Entsetzt fuhr sie herum und schaute geradewegs in Toms dunkle Augen, die nur wenige Zentimeter von den ihren entfernt waren.
„Nein...“, keuchte Lenora und wich zurück.
Sie kam nicht auf die Idee ihren Zauberstab zu zücken, sie versuchte nicht einmal wegzurennen. Wie angefroren blieb sie stehen, alleine mit Tom in einem verlassenen Korridor. Es war vorbei. Dies musste das Ende sein.
Verzweifelt suchte sie in seinen Augen nach einem Anflug von Wut oder Reue. Aber dort war nichts dergleichen zu finden. Keine Regung, kein Ausdruck, nichts.
„Lenora...“, er flüsterte.
War es seine Stimme oder nur die Tatsache, dass er ihren Namen sagte, die sie schreien liess? Lenora wusste nicht warum oder wieso, aber ihr entfuhr ein fürchterlich hoher, lauter Angstschrei. Sie wollte nicht sterben, nicht jetzt schon!
Tom reagierte schneller, als sie verstummen konnte. Schnell packte er sie an den Schultern und stiess sie in ein leeres Klassenzimmer. Mit einem unheilvollen Klicken fiel die Tür hinter ihm ins Schloss.
Jetzt waren sie wirklich allein. Keiner würde sie suchen, keiner würde sie finden.
Langsam kam Tom auf Lenora zu. Wie schon zuvor im Korridor, wich sie immer weiter zurück, aber nun stiess sie gegen eine Wand.
Tom hob eine bleiche, langfingrige Hand und legte sie ihr an die Wange.
Lenora stockte der Atem. Was sollte das denn? Sein Gesicht war noch immer ausdruckslos doch seine Augen schimmerten seltsam hungrig.
Warum strich er ihr übers Gesicht? Hatte er nicht eben noch versucht sie umzubringen?
Ihre Angst verwandelte sich allmählich in Wut. Sie war keine Puppe mit der man nach Belieben spielen konnte!
„Bist du verrückt?“, brüllte sie wütend und hieb mit ihren Fäusten auf Tom ein.
Es schien ihn nicht zu interessieren. Seine seltsam kühlen Hände strichen ihr sanft übers Gesicht. Lenora versuchte sich wegzudrehen, doch sie war nicht schnell genug.
Seine Lippen pressten sich auf die ihren und verschlossen ihren Mund mit einem drängenden Kuss. Sie schloss die Augen. Ihr war als bliebe die Zeit stehen.
Wie unwichtig die Kammer des Schreckens doch war, wie egal es doch war, dass sie aus Tom einfach nicht schlau wurde. Es zählte nur das Hier und Jetzt.
Er zog sie an sich und küsste sie immer wieder, küsste sie aufs Haar, auf die Stirn, auf den Hals und wieder auf den Mund...
Lenoras Atem ging schneller, jedoch nicht mehr aus Angst. Sie sog seinen Duft ein, fuhr mit den Händen durch sein Haar, küsste ihn wieder...
Sie wusste ganz genau, dass es ein Fehler war. Sie konnte geradezu hören, wie die Uhr ihres Lebens immer näher auf die letzte Minute zutickte... Doch sie konnte es nicht leugnen, sie wollte bei ihm sein, sie musste bei ihm sein.
Sie liebte ihn.
Auch Tom atmete etwas heftiger und zog Lenora noch näher an sich heran. Sie legte den Kopf an seine Brust und hörte sein Herz hämmern, zärtlich strich er ihr durchs Haar.
Nun, da er sie nicht mehr küsste, stürzten sich die schrecklichen Erinnerungen geradezu auf sie.
Tom in der Grossen Halle, Toms Abzeichen im Pokalzimmer, seine Stimme im Mädchenklo, die Kammer des Schreckens, der Basilisk...
Sie spürte wieder Tränen in ihren Augen brennen, es war nicht zu ändern, nichts konnte ungeschehen gemacht werden. Sie schluchzte und die Tränen liefen ihr wieder über die Wangen.
„Schhh...“, Tom strich ihr tröstend über den Rücken, „Nicht weinen Lenora. Nein, weine nicht meine Prinzessin...“
„W-warum?“, ihre Stimme zitterte, „Tom... warum?!“
„Was hast du gesehen?“, fragte er ruhig, „Was hat meiner Prinzessin Angst gemacht?“
„D-du“, sie liess ihn los und blickte in sein Gesicht, auf dem nun etwas schmerzhaftes zu erkennen war, „W-ieso tust du das? Ich verstehe nicht!“
„Lenora, wenn ich gewusst hätte, dass du mir folgst, wäre ich nie in die Kammer des Schreckens hinabgestiegen. Ich wollte dich nicht gefährden, ich wollte dich nicht verletzen. Bitte, glaub mir!“
Sie schüttelte nur den Kopf.
„Es tut mir so leid... Der Basilisk, ich weiss auch nicht warum er nicht mehr auf mich hören wollte, sobald er dich sah!“
„Das Monster hört dir zu?!“
„Ja. Ich kann mit Schlangen sprechen. Genau wie Slytherin, du weißt doch, dass ich sein Erbe bin!“
„Ja, aber das wusste ich nicht!“
„Ich wusste auch nicht, dass du ein Animagus bist!“, wiedersprach er in anklagendem Ton.
„Bin ich auch gar nicht!“, gab Lenora hitzig zurück.
„Und wie konntest du dich dann in den Adler verwandeln?“ Volltreffer.
„Ich weiss es nicht“, Lenora blickte zu Boden, „Plötzlich schimmerte mein Armreif und dann...“
„Ravenclaw“, hauchte Tom, „Sie muss einen Teil ihrer Magie darin gespeichert haben! Das muss es sein!“
„Ist doch egal“, sie stiess Toms Hand weg, die nach ihrem Handgelenk greifen wollte, „Hier geht es weder um Ravenclaw noch um Slytherin! Es geht um mich, um dich, um uns! Warum hast du mir das angetan? Ich dachte, dass ich dir etwas bedeute! Sag mir doch endlich, was du wirklich von mir willst, wenn nicht meine Liebe!“
Tom erstarrte.
Was sollte er ihr nur sagen? Die Wahrheit? Er würde sie verletzten...
„Und wenn schon“, zischte eine boshafte Stimme in seinem Kopf, „Sie ist nur ein Mädchen. Du wolltest von Anfang an nur eines. Lass dich nicht von ihr von deiner Unsterblichkeit abbringen! Sie gibt dir doch nichts...“
„Ich wollte deinen Armreif“, sagte Tom.
Lenora starrte ihn an.
„Ja, ich wollte ihn um jeden Preis! Und ich will ihn noch immer!“
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