von Muggelchen
âHarry! Schön, dass du Zeit gefunden hast. Möchtest du ein StĂŒck Schokolade?â, fragte Remus ihn, nachdem er ihn mit einer Umarmung begrĂŒĂt hatte. Harry verstand nicht, warum Remus noch nicht mit Tonks zusammengezogen war und stattdessen weiterhin in dem gemieteten Zimmer ĂŒber einer BĂ€ckerei wohnte. Das mochte den Vorteil haben, morgens mit dem Duft von frisch gebackenen Brötchen in der Nase aufzuwachen, aber das Zimmer an sich wirkte recht schĂ€big, obwohl Remus ein ordentlicher Mensch war und alles aus dem Raum herausgeholt hatte, was nur möglich war. Auf einem Tisch bemerkte Harry einen Karton mit etlichen UmschlĂ€gen â Briefe, die offenbar darauf warteten, abgeschickt zu werden.
Nachdem Remus ihn mit Schokolade und Tee vollgestopft hatte, fragte Harry mutig: âSag mal, warum wolltest du dich mit mir allein treffen? Ich meine, du hattest explizit erwĂ€hnt âohne Siriusâ. Warum?â
BedrĂŒckt seufzte Remus, bevor er vorsichtig antwortete: âHarry, das darfst du nicht falsch verstehen. Du hast sicherlich bemerkt, dass Sirius⊠na ja, er istâŠâ
âJa?â, fragte Harry ungeduldig, aber mit einem LĂ€cheln auf den Lippen.
Nochmals seufzte der beste Freund seines Patenonkels, bevor dieser versuchte zu erklĂ€ren: âEs ist einfach etwas schwierig mit ihm. Er ist⊠Er hat sich nicht weiterentwickelt â nicht weiterentwickeln können. Es kann ganz schön schwer sein, mit einem 43 Jahre alten Mann umzugehen, der innerlich noch immer um die 20 ist und nur Unsinn im Kopf hat. Sirius lebt manchmal noch in der Vergangenheit, Harry. Als ich mich im Fuchsbau mit ihm unterhalten hatte, hat er dich zwei Mal versehentlich âJamesâ genannt und es ist ihm nicht einmal aufgefallen.â
Aufgrund dieser Information musste Harry erst einmal einen Schluck Tee nehmen, wĂ€hrend Remus weiter erklĂ€rte: âSirius ist mein bester Freund, aber es tut weh, dass er der Zeit nicht folgen kann, Harry. Er versteht nicht, dass du und Severus miteinander umgehen könnt â und vor allem miteinander auskommen wollt. Es wundert mich ehrlich gesagt etwas, dass er keine SpĂ€Ăe mehr mit ihm treibt, aber ich bin natĂŒrlich froh darĂŒber. Du hast selbst bemerkt, Harry, wie Sirius sich noch immer gegenĂŒber Severus verhĂ€lt. Er benimmt sich so schon selten erwachsen, aber wie sollte er auch anders sein? Durch seine Zeit in Askaban war er dazu gezwungen, in der Vergangenheit zu leben â sich von seinen Erinnerungen zu nĂ€hren. Soweit er mir erzĂ€hlt hat, war es hinter dem Schleier nicht anders. Er lebte durch seine Erinnerungen in der Vergangenheit, um ĂŒberhaupt am Leben zu bleiben und plötzlich ist er wieder hier und es sind erneut sechs Jahre vergangen. Sechs Jahre, in denen sein Verstand sich wieder nicht entwickeln konnte. Er hat mir anvertraut, dass er die ersten Wochen, wenn er morgens im Bad war, minutenlang nur so da stand und sich fragte, ob der alte Mann im Spiegel tatsĂ€chlich er wĂ€re.â
So hatte Harry die Situation noch nie gesehen. Er war ĂŒberglĂŒcklich, dass Sirius am Leben war und er hatte sich gefreut, dass er mit ihm so gut auskam. Nachdem, was Remus ihm gerade offenbart hatte, verstanden sie sich so nur prima, weil Sirius im Geiste genauso alt war wie er selbst.
âUnd er hat von mir erzĂ€hlt und mich dabei James genannt?â, fragte Harry nach einem Augenblick mit betrĂŒbter Miene nach, woraufhin Remus nickend bejahte.
âDas ist der Grund, warum er heute lieber nicht mit dabei sein sollte, wenn du etwas ĂŒber Severus erfahren möchtest. Er wĂŒrde uns nur mutwillig störenâ, erklĂ€rte Remus bedrĂŒckt. âDarum schwelgt er auch stĂ€ndig in Erinnerungen an unsere Schulzeit und wie erâ, Remus verbesserte, âwie wir Severus auf den Arm genommen haben, denn er hat ja nichts anderes. Verzeih ihm, Harry. Er kann einfach nichts dafĂŒrâ, flehte Remus regelrecht.
Still begann Harry zu weinen, doch Remus bemerkte seine TrĂ€nen und nahm ihn in den Arm. Nach einer Weile hatte Harry sich beruhigt und Remus fragte aufmunternd: âWas genau möchtest du denn ĂŒber Severus wissen? Etwas Bestimmtes oderâŠ?â
âWarst du in meine Mutter verknallt?â, fragte Harry abrupt.
Wieder kroch eine verrĂ€terische Röte ĂŒber Remusâ Wangen, bevor dieser mit einem Augenzwinkern und vertrĂ€umter Stimme zugab: âJa schon, aber wer war das nicht?â
Dann kam Harry etwas in den Sinn, weshalb er fragte: âUnd Severus?â
Remus lachte einmal laut auf, bevor er antwortete: âIch weiĂ es nicht, Harry, wirklich nicht. Es ist möglich, aber ich sagte ja bereits, dass wahrscheinlich jeder Junge ein Auge auf sie geworfen hatte. Sie war ein beliebtes MĂ€dchen: verstĂ€ndnisvoll, liebenswert, vorurteilslos.â
âDu kommst ins SchwĂ€rmenâ, sagte Harry weniger ernst, was Remus zum Lachen brachte.
Aus seinen TagebĂŒchern hatte Remus einige Ereignisse vorgelesen, die mit Severus zu tun hatten. Es machte Harry stutzig, dass Severus fast an jeden Tag irgendeinem Streich ausgesetzt gewesen war, weshalb er fragte: âIhr habt ihm wirklich jeden Tag die Hölle heiĂgemacht?â
Bereuend schilderte Remus: âNa ja, in den ersten beiden Jahren schon. Ab dem dritten Jahr hat er gelernt, uns aus dem Weg zu gehen, was ihm nicht immer gelungen war. Aber wie du ja aus dem, was ich vorgelesen habe, ersehen kannst, hat er sich recht hĂ€ufig wehren können. Er war ja nicht hilflos! Severus hatte eine Menge FlĂŒche drauf, von denen wir noch nie was gehört haben.â
âWarum er?â, stocherte Harry.
Remus schien um eine Antwort verlegen und letztendlich sagte er nur: âWahrscheinlich nur, weil er anders war.â Ganz leise fĂŒgte Remus hinzu: âIch war so froh, dass ich nicht derjenige gewesen war.â
In Gedanken zog Harry einen Vergleich zu Luna, die stĂ€ndig von ihren MitschĂŒlern gehĂ€nselt worden war. Man hatte ihre Sachen weggenommen und versteckt, so dass sie Ende des fĂŒnften Schuljahres nicht einmal mehr ein paar Schuhe zum Anziehen hatte und barfuss gehen musste â und das alles nur, weil sie anders war.
Plötzlich fĂŒhlte Remus sich dazu genötigt, sich rechtfertigen zu mĂŒssen, denn er sagte mit erregter Stimme: âDas war nicht so, dass mir das alles SpaĂ gemacht hĂ€tte, Harry! Ich war immerhin VertrauensschĂŒler und habe nichts getan, um die beiden zu bĂ€ndigen. Sie haben immer weiter auf ihm rumgehackt und ich⊠ich war nur froh, dass es mir nicht so ging wie ihm. Ich war froh, dass man mich akzeptierte und dass ich Freunde hatte.â Remus hielt inne und schloss die Augen, um sich zu beruhigen, aber die zitternden Lippen zeugten von seiner AufgewĂŒhltheit.
Ein komisches GefĂŒhl in der Bauchgegend machte sich bei Harry breit. Er wusste, dass Remus als Werwolf schon frĂŒher wie auch noch heute enorm viele HĂŒrden zu bewĂ€ltigen hatte, weil er gesellschaftlich nicht anerkannt war. Schniefend sagte er kaum verstĂ€ndlich: âDie Schulzeit war die schönste Zeit in meinem Leben! Vorher und nachher⊠hatte ich nur Probleme. Niemand gab mir einen Job und heute sieht das nicht anders aus. Nur Probleme, Harry. NurâŠâ Remus schluchzte ein einziges Mal, wĂ€hrend Harry ihm bereits eine Hand auf die Schulter legte, um ihn zu trösten. Er wollte wirklich nicht mit seinem Besuch diese ganzen GefĂŒhle aufwallen lassen.
Die TagebĂŒcher legten sie zur Seite, ohne dass Harry brauchbare Informationen erhalten hatte, aber Remus versicherte ihm, dass sie sich spĂ€ter ja noch einmal treffen konnten. Sie sprachen noch eine Weile ĂŒber alles Mögliche miteinander, nur nicht ĂŒber die Vergangenheit. Als Harry sich am Abend verabschiedete, hielt Remus ihn noch einen Moment auf. Er kramte in der Kiste, die Harry gleich nach dem Betreten der Wohnung aufgefallen war. Remus fand, was er suchte, denn er zog zwei Briefe heraus und gab sie ihm mit den Worten: âWenn ich dich eh schon persönlich sehe: FĂŒr dich und Sirius! Macht sie Zuhause gemeinsam auf, ja?â
Harry lieĂ sich von Remusâ breitem Grinsen anstecken, als er die Briefe in der Innentasche seines Umhangs verschwinden lieĂ und zum Kamin ging.
âSirius? Bist du da?â, rief Harry im Wohnzimmer stehend.
Sein Patenonkel stĂŒrmte aus seinem Schlafzimmer heraus und sagte fröhlich: âHarry, mein Guter! Was gibtâs? Wo warst du?â
Harry wĂŒrde seinem Patenonkel nicht erzĂ€hlen, dass er fĂŒnf Stunden mit Remus verbracht hatte, weshalb er log: âIch war unterwegs und habe zum Schluss bei Remus vorbeigeschaut. Er hat uns was mitgegeben!â Er zog die beiden Briefe aus seinem Umhang hervor und gab Sirius den mit dessen Namen darauf.
Auf der Couch sitzend öffnete jeder fĂŒr sich den Brief und las. âNA ENDLICH!â, schrie Sirius verzĂŒckt. Es handelte sich um eine Einladung zur Verlobung von Nymphadora und Remus. âOh, das wird ein SpaĂ werden! Wollen wir zusammen die Braut entfĂŒhren, Harry?â, fragte Sirius mit einem Schalk im Nacken.
Doch Harry winkte ab und fragte: âWillst du das Remus wirklich antun? Ich meine, ĂŒberall dort, wo wir waren, fĂŒr uns die Zeche bezahlen zu mĂŒssen? Ich mag es lieber gemĂŒtlich!â Remus wĂŒrde seine Braut nie wieder bekommen, wenn er dafĂŒr zahlen mĂŒsste, denn der Mann hatte kaum Geld.
Auch Remus saĂ Zuhause auf seiner Couch und war in Gedanken versunken. Er dachte an die Schulzeit, wo er immer einen vollen Bauch gehabt hatte. Und er dachte an seine Freunde: an Lily, James und Sirius. Selbst mit Peter hatte es frĂŒher immer SpaĂ gemacht, bevor man dessen Kopf mit wahnwitzigen Ideen verdreht hatte. Aber er dachte auch an die Streiche, die sie Severus stĂ€ndig gespielt hatten. Streiche, die bei Remus heute immer hĂ€ufiger ein unangenehmes GefĂŒhl auslösten und ihn bereuen lieĂen, sie jemals begangen zu haben. Viele der Streiche waren definitiv zu weit gegangen, denn sie waren ausgesprochen demĂŒtigend gewesen. Von Harry waren Sirius und er einmal zurechtgewiesen worden, weil der erfahren hatte, wie sie frĂŒher mit Severus umgegangen waren. FĂŒr Remus war es irgendwie ein gutes GefĂŒhl gewesen, fĂŒr seine Taten, wenn auch reichlich verspĂ€tet, endlich mal eine Standpauke ĂŒber sich ergehen lassen zu mĂŒssen. Keiner von beiden hatte Harry erzĂ€hlt, wie diese eine Erinnerung, die Harry gesehen hatte, ausgegangen war, denn sonst hĂ€tte er ihnen im Nachhinein bestimmt noch die Ohren lang gezogen. James hatte Severus vor versammelter SchĂŒlerschaft die grauen Unterhosen ausgezogen. Danach war der noch fĂŒr viele, viele Wochen das Gespött der ganzen Schule. Erst vier Tage nach dem Vorfall, nachdem Remus getrĂ€umt hatte, man wĂŒrde dasselbe mit ihm machen, hatte er verstanden, wie verletzend und peinlich dieser Vorfall fĂŒr Severus gewesen sein musste.
Einmal hatte ihr Lieblingsopfer Remus allein abgefangen, als er abends gerade das Bad der VertrauensschĂŒler verlassen hatte. Severus hatte ihm bedeutet stehenzubleiben, bevor er mit ruhiger und damals schon recht tiefer, bedrohlich wirkender Stimme gesagt hatte: âDu bist VertrauensschĂŒler! Meinst du, du hast diese Ehre verdient?â In diesem Moment hatte Remus Angst gehabt; Angst davor, dass Severus ihn verhexen oder zusammenschlagen wĂŒrde oder ihm auf andere Art und Weise heimzahlen wĂŒrde, ihm nie beigestanden zu haben. Stattdessen wartete Severus seelenruhig auf eine Antwort, aber die wollte Remusâ Lippen einfach nicht verlassen. Sichtlich enttĂ€uscht war der schwarzhaarige Slytherin nach einigen Minuten des Schweigens gegangen, ohne ihm ein Haar gekrĂŒmmt zu haben.
Er ĂŒberraschte sich selbst, als er zu den Einladungskarten hinĂŒberging und eine der wenigen leeren herauszog. Remus verzichtete auf den Standardtext, der in allen Einladungen stand und schrieb das, was ihm in den Sinn kam. Die Karte schob er in den Umschlag, bevor er die Adresse drauf schrieb und sie zu den anderen UmschlĂ€gen steckte, die Morgen mit den Posteulen rausgehen sollten.
Es war ein regnerischer Tag. Immer wieder verdunkelte sich der Himmel. Kilometerlange Blitze schossen senkrecht oder waagerecht aus den Wolken heraus. Das Grollen war so laut, dass Draco seinen Patenonkel mehrmals auffordern musste, sich zu wiederholen. Severus erhob die Stimme und sagte: âIch habe gesagt, dass es taktisch unklug sein könnte, deinem Vater von dir und Miss Bones zu berichten!â
Draco verzog das Gesicht. Er wusste genau, dass sein Vater in die Luft gehen wĂŒrde. Mutig antwortete er: âLass das nur meine Sorge sein!â
Im Ministerium angekommen ging es ohne Severus nach Askaban. Draco hatte die Erlaubnis erhalten, seinen Vater in dessen Zelle besuchen zu können. Dass Susan dabei ihre HÀnde im Spiel hatte, roch man Meilenweit.
âVater!â, sagte Draco erleichtert, nachdem er die Zelle betreten hatte.
âDraco, komm herâ, erwiderte Lucius mit Heiterkeit in der Stimme, als er sich mit leerem Blick in die Richtung drehte, aus der er Dracos Stimme vernommen hatte. Er öffnete einladend seine Arme. Draco wartete nicht und rannte wie ein Kind, das gerade aus Hogwarts zurĂŒckgekommen war, in Vaters Arme. Eine Weile sagten sie nichts und Draco genoss die innigste Geste, die sein Vater ihm zu schenken bereit war. Sie standen nur da und umarmten sich. Lucius roch an den Haaren seines Sohnes. Ihn wĂŒrde er unter tausenden Menschen am Duft erkennen können, aber er wĂŒrde das natĂŒrlich niemals sagen. Es gab keine sentimentalen MĂ€nner in der Familie Malfoy.
Die NĂ€he zu seinem Vater, als sie sich beide auf die Pritsche gesetzt hatten, verĂ€ngstigte Draco etwas. WĂŒrde er ihm beichten, dass er mit Susan Bones eine Beziehung eingegangen war, wĂ€re es fĂŒr seinen Vater ein Leichtes, ihm an die Gurgel zu gehen. Abstand konnte er jedoch nicht gewinnen, denn immer, wenn er etwas weiter weg rĂŒckte, rutschte sein Vater mit in der Luft tastenden HĂ€nden nach, um die NĂ€he zu seinem Sohn sicherzustellen. Wenn er auch frĂŒher seinem Sohn Ă€uĂerst selten eine liebevolle BerĂŒhrung hatte zugutekommen lassen, denn sein eigener Vater hatte ihm beigebracht, dass Kinder ausschlieĂlich von ihren MĂŒttern getĂ€tschelt werden sollten, so konnte er sich jetzt aufgrund seiner Blindheit einreden, dass eine vertraute BerĂŒhrung lediglich ein Ersatz fĂŒr sein Augenlicht darstellen wĂŒrde. So nahm Lucius beide HĂ€nde seines Sohnes in die seinen und sagte: âErzĂ€hl, mein Sohn! Was geschieht auĂerhalb von Askaban? Ich bin hier völlig abgeschnitten. Ich kann nicht einmal mehr Zeitungen lesen.â
Draco begann zu erzĂ€hlen. Er erzĂ€hlte von allem Möglichen, aber nicht von ihm und Susan. Lucius lachte herzlich auf, als sein Sohn schilderte, wie Severusâ Hund sich an Blacks Bein gerieben hatte, als der gerade seiner Angebeteten ganz cool einen Zauber vorfĂŒhren wollte. Die Begegnung hatte in einem Desaster geendet, weil Sirius schimpfend wie ein Rohrspatz auf Severus losgegangen war. Er hatte geglaubt, Severus hĂ€tte den Hund auf diese ObszönitĂ€t abgerichtet, um ihn vor seiner Freundin lĂ€cherlich machen zu können. Es folgten weitere Geschichten, die allesamt eher langweilig waren, aber fĂŒr Lucius das ultimative Highlight des Monats darstellten.
Nach einer halben Stunde sagte Lucius betroffen: âIch erinnere mich immerzu daran, wie du aus Hogwarts zurĂŒckgekehrt warst und mir all die herrlichen Anekdoten erzĂ€hlst. Das waren Zeiten.â Mutig streckte Draco eine Hand aus, um sie auf die Wange seines Vaters zu legen. Das war eine Geste, die im Hause Malfoy höchstens unter Mutter und Sohn geduldet worden war. Erstaunlicherweise beschwerte Lucius sich jedoch nicht, aber Draco bezweifelte sehr, dass Askaban ihn weich gemacht haben könnte.
Mit zittriger Stimme sagte Draco einen Augenblick spĂ€ter: âIch habe jemanden kennen gelernt, Vater!â
Lucius ergriff strahlend die Hand seines Sohnes und tĂ€tschelte sie, als er sehr zugetan schwĂ€rmte: âDraco! Das ist ja wundervoll! Ich bin so froh, dass die Malfoys nicht mit dir enden werden. Kenne ich die junge Dame?â
Draco schluckte, bevor er antwortete: âJa, du kennst sie. Ich denke, du kannst sie auch ein wenig leiden.â
Lucius lachte und erklĂ€rte: âNatĂŒrlich kann ich sie leiden! Eine ReinblĂŒterin, die meinem kleinen Draco das Herz gestohlen hat. Wer ist es? Sag schon!â
Ein kalter Schauer lief Draco ĂŒber den RĂŒcken. Sein Vater ging davon aus, dass seine jahrelange Erziehung gefruchtet hatte; dass die von ihm vermittelte Ansicht der gesellschaftlichen Grenze zwischen reinblĂŒtig, reich und mĂ€chtig und muggelstĂ€mmig, arm und bedeutungslos unumstritten seinem Sohn in Fleisch und Blut ĂŒbergegangen sein musste. Draco hielt beide HĂ€nde seines Vaters ganz fest, um zu verhindern, von ihm geschlagen zu werden.
Leise, fast unverstĂ€ndlich gestand Draco seinem Vater: âSie ist die Einzige, die mich so sieht, wie ich bin, Vater. Sie macht sich nichts aus meinem Namen oder meinem Vermögen.â Sein Vater lĂ€chelte noch immer und drĂŒckte ermutigend mit seinen HĂ€nden die seines Sohnes, als wollte er die Antwort aus ihm herauspressen. Draco holte tief Luft und bekannte mit flĂŒsternder Stimme: âEs ist Miss Bones!â
ZunĂ€chst gefror das LĂ€cheln auf Luciusâ Gesicht, bevor es langsam verblasste. Draco lieĂ die HĂ€nde seines Vaters nicht los, sondern drĂŒckte nur noch fester zu. Er wollte, dass sein Vater etwas sagte. Irgendetwas!
Mit einem Male wollte sich Lucius befreien. Er stand auf und schĂŒttelte seine HĂ€nde, die Draco noch immer ganz fest hielt.
âLass los, du undankbarer⊠Reicht es nicht, mich ein Mal enttĂ€uscht zu haben? Musst du jetzt auch nochâŠâ, sagte Lucius stockend, laut und wild schnaufend, wĂ€hrend er krĂ€ftig mit den Armen zu rudern versuchte. Sein Sohn lieĂ nicht los. Zu groĂ war die Angst vor einer Ohrfeige seines Vaters, die immer schmerzhaft gewesen waren. Das vorhin noch so fröhliche Gesicht wurde immer roter und war bereits durch Zornesfurchen zu einer hĂ€sslichen Fratze entstellt. Lucius war wĂŒtend auf seinen Sohn und er wollte ihn von sich schĂŒtteln als wĂ€re er Schmutz auf seinen HĂ€nden. Beide stolperten durch die kleine Zelle; Lucius, weil er nichts sehen konnte und Draco, weil er ihm zu folgen versuchte. Er wollte seinem Vater klar machen, dass die Familienbande eine der wichtigsten Dinge im Leben waren. Er wollte seinen Vater nicht los lassen.
âVater, bitte hör mir zu!â, flehte Draco.
Sein Vater hingegen machte sich mit dröhnender Stimme Luft: âWas bist du nur fĂŒr ein abscheulicher Sohn! SchĂ€men solltest du dich! Du warst alles, was ich noch hatte und jetzt? Du bist verabscheuungswĂŒrdig⊠Du⊠DU BLUTSVERRĂTER!â
Lucius hatte seine HĂ€nde befreit und holte weit aus. Er traf seinen Sohn mitten ins Gesicht. Sich die Nase haltend ging Draco zu Boden. Sich seiner Blindheit beugend entschloss sich Lucius dazu, nicht nach Draco zu suchen, um ihn zu schlagen. Er torkelte stattdessen wild schnaufend hinĂŒber zu seiner Pritsche und hielt sich wĂ€hrenddessen eine zitternde Hand an die Stelle, an der sein Herz wie wild pochte.
Am Boden verweilend beobachtete Draco seinen Vater mit wehmĂŒtigem Gesichtsausdruck. Das Blut, das ihm aus der Nase ĂŒber den Mund lief und am Kinn tropfenweise auf sein Seidenhemd fiel, beachtete er nicht. Sein Vater hatte sich nicht beruhigt, aber er verhielt sich ruhig. Er saĂ nun fast regungslos auf seinem Bett. Einzig sein aufgeregtes Atmen verrieten die GefĂŒhle, die sich in ihm ausgebreitet hatte. Draco hatte ihn zutiefst enttĂ€uscht.
âVater?â, fragte Draco bittend.
Sich zusammenreiĂend erwiderte Lucius kĂŒhl und formell klingend: âIch möchte nicht mehr, dass du mich besuchst. Ich möchte auch keine Geschenke mehr von dir. Geh jetzt und trete mir ja nicht mehr unter die Augen!â Draco hĂ€tte es leichter ertragen können, wenn sein Vater ihm das Herz herausgeschnitten hĂ€tte.
Sich vom Boden erhebend sagte Draco: âVater, ichâŠâ
Er wurde jĂ€h unterbrochen, als Lucius brĂŒllte: âWas muss ich denn sagen, damit du verstehst? Hat dich der Einfluss von Muggeln schon begriffsstutzig gemacht, dass du einfache SĂ€tze nicht mehr zu deuten weiĂt? Verschwinde und bleib fern!â
All seinen Mut zusammennehmend sagte Draco bestimmend: âNein Vater, du hörst mir zu!â
Sein Vater warf ihm ĂŒbermĂŒtig ein fieses Grinsen zu und sagte giftig: âWas kommt jetzt? Die Beichte, dass du deine Blutschande bereits begangen hast? Ist etwa ein Balg unterwegs? Du und dein Halbblut bekommt nichts von mir! Und wage es niemals, mir aus dieser entehrenden Verbindung auch nur ein Gör zeigen zu wollen!â Die Worte klangen gefĂ€hrlich. Boshaft fĂŒgte Lucius hinzu: âDann gehe ich auch recht in der Annahme, dass Miss Bones dir von dem gesundheitlichen Zustand der Malfoys berichtet hat. Diese⊠Das wird ein Nachspiel haben!â
Erbost schimpfte Draco: âDu wolltest es mir niemals sagen! Du warst viel zu stolz um zuzugeben, dass die Malfoys und viele andere sogenannte ReinblĂŒter einige Probleme mit ihrem Erbgut haben. Nicht einmal deinem eigenen Sohn wollest du eine Chance geben, sein Augenlicht zu behalten!â
Verletzend entgegnete sein Vater: âSo, wie sich die Situation entwickelt hat, wĂŒrde ich meinen, du hĂ€ttest es verdient!â
Dieses Mal lieĂ sich Draco nicht von seinem Vater das Wort abschneiden, als er von GefĂŒhlen ĂŒbermannt erklĂ€rte: âAll dein Geld bedeutet mir nichts, Vater! WeiĂ du, was mir was bedeutet? Was mir wirklich was bedeutet? Familie bedeutet mir was! Und nicht nur die Familie, die ich vielleicht eines Tages selbst haben werde, sondern besonders die Familie, aus der ich stamme. Vater, du bedeutest mir so viel!â
Es hatte ihn tief getroffen, dass sein Sohn keine ReinblĂŒterin auserkoren hatte. BestĂŒrzt sagte Lucius daher: âIch habe keine Frau mehr und nun⊠nun habe ich auch keinen Sohn mehr!â Die Worte brachen Draco das Herz. Lucius ignorierte seinen Sohn und sagte nichts mehr.
Den Moment der Stille nutzte Draco, um seinem Vater die Wahrheit zu sagen â um seinen einzigen Trumpf auszuspielen, der ihn zur RĂ€son bringen könnte: âVater?â Er wartete einen Augenblick, doch als er noch immer ignoriert wurde, fĂŒgte Draco hinzu: âIch habe Mutter gefunden!â
Aus reinem Instinkt hob Lucius den Kopf, als wolle er in dem Gesicht seines Sohnes eine LĂŒge ausfindig machen, doch es war ihm schon lange nicht mehr möglich, die Feinheiten in GesichtszĂŒgen deuten zu können. Erneut von Zorn ĂŒbermannt, als wĂŒrde er mit einem fiesen Trick rechnen, knurrte er: âWenn du denkst, mit so einem MĂ€rchen könntest du die SituationâŠâ
Draco unterbrach ihn und sagte mit ernster Stimme: âEs ist wahr, Vater! Es ging durch alle Zeitungen. Ich habe Mutter gefunden! In einem durch den Fidelius-Zauber verborgenen Haus auf dem Hogwarts-GelĂ€nde. Sie ist bei Severus und mir in Hogwarts und es geht ihr soweit gut.â
Mit Erleichterung hatte Draco wĂ€hrend seiner Worte beobachtet, wie sein Vater mit den TrĂ€nen kĂ€mpfte, denen er am Ende nachgeben musste, denn diese Offenbarung ĂŒberwĂ€ltigte ihn schonungslos. Niemals hatte er seinen Vater weinen sehen, denn ein Malfoy weinte nie! Schluchzend versuchte Lucius seine SchwĂ€che mit zitternden HĂ€nden zu verbergen, aber die TrĂ€nen strömten bereits kaskadenartig ĂŒber die hohen Wangenknochen hinunter zum spitzen Kinn.
Sich der TrĂ€nen nicht mehr schĂ€mend sagte Lucius mit gebrochener Stimme: âWenn das wahr ist, dann will ich sieâŠâ
Mit kĂŒhlem Slytherin-Verstand nutze Draco diese Gelegenheit, seinem Vater eine Sache zu verdeutlichen: âDu wirst sie nie mehr sehen können, Vater. Nicht, wenn du dir nicht selbst eingestehst, dass unser Blut zwar rein, aber gleichzeitig auch verdorben ist!â
Draco wandte sich von ihm ab und lieĂ ihn allein. Wenn er eine Chance haben wollte, seinen Vater zur Vernunft zu bringen, dann musste er jetzt sofort gehen. Seine Worte durften ihre Wirkung nicht verfehlen, denn eine zweite Möglichkeit wĂŒrde sich nie mehr bieten. Seine Mutter war der einzige Trumpf, den er gegen seinen Vater ausspielen konnte.
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