von Xaveria
In der dunkelsten Ecke des Verbotenen Waldes peitschte der Wind durch die Wipfel der Tannen und sie hatte diese den größten Teil des Tages durch das doppelflügelige Fenster der Bibliothek beobachtet; ihr Blick wurde durch die weit entfernten Bewegungen, die ihre Gedanken fort riefen, fort von ihren Nachforschungen, den Aufsätzen, die sie noch zu korrigieren hatte und schließlich fort von der Kontrolle über ihren Verstand, abwesend.
Sie musste sich zwingen, sich zu konzentrieren, um ihre Arbeit zu beenden. Noch während die einfallenden Strahlen der untergehenden Sonne aufkeimten, sie nur noch von unten die höchsten Äste umschlangen, legte sie ihre Feder auf den Tisch, seufzte und pustete eine lose Haarsträhne aus ihren Augen.
Zweiundzwanzig Jahre.
Vor zweiundzwanzig Jahren hatte sie in Godric's Hollow, als Voldemort fiel, an Harrys Seite gestanden. Vor zweiundzwanzig Jahren war sie nach Hogwarts zurückgekehrt, um ihre Ausbildung abzuschließen, ihre U.T.Z.e mit Noten zu bestehen, die niemanden überrascht hatten. Vor zweiundzwanzig Jahren hatte sie das Angebot der Schulleiterin den verlassenen Posten von Professor Vektor zu übernehmen angenommen, welche als eine aus dem innersten Vertrauenskreis Voldemorts entlarvt wurde, deren Körper ruhig neben denen der Malfoys und Lestranges gelegen hatte, nur um von den Unsäglichen weggeschafft und entsorgt zu werden, dessen Aufgabe es war sie zu... nun ja. Darüber wusste sie mehr, als sie wollte.
Sie taten es natĂĽrlich alle; sie mehr als die Meisten.
Vielleicht.
Seit zweiundzwanzig Jahren hatte sie die Verantwortung über das Wissen, die Geheimnisse und der Loyalität übernommen.
Seit zweiundzwanzig Jahren hatte sie ihr Geheimnis gehĂĽtet, damit es nicht an den Fundamenten der Zaubererwelt rĂĽttelte.
Vor zweiundzwanzig Jahren war Harry gescheitert. Ihr Zug war es gewesen, der Voldemort gestĂĽrzt hatte.
In ihrer Panik – mit Ron am Boden, der Orden stark geschwächt, einige mit einem Zauber gebannt, unfähig ihre wilden, suchenden Blicke zu erhaschen – hatte sie Harry sich wehren gesehen, als Voldemort darum gekämpft hatte, seinen Verstand zu kontrollieren, die einzige noch vorhandene Trennung seiner eingebetteten Seele, umschlungen in der Narbe, mit der er Harry nach seinem Bilde gestaltet hatte.
Denn Harry hatte zu lange unter seinem Fluch gelebt – der verborgene Fluch der dunkelsten Magie, der banale Fluch, der ihn zum „Jungen, der überlebte“ gemacht hatte – wodurch er in der Lage sein sollte, wodurch erwartet wurde, dass er in der Lage sei, ihn endgültig zu stürzen.
Denn Harry, selbst geschlagen, konnte es am Ende nicht und als sein Blick leblos erschien und seine Knie unter ihm nachgaben, als er drohte zu schwanken -
In ihrer Panik bewegte sich ihr Zauberstab wie von selbst und es war ihre Stimme – stumm, ungehört – die Stimme in ihrem Kopf hatte gesprochen und sie war es gewesen, die Voldemort getötet hatte.
Sie hatte keine Ahnung, wie sie es gemacht hatte.
Die Prophezeiung war bedeutungslos gewesen. Die Unsäglichen ratlos.
Es gab natürlich eine Verschleierung des Ganzen und sie war gehorsam nach Hogwarts zurückgekehrt, hatte sich erneut ihre Schülerrobe angezogen, ihr Schulsprecherinabzeichen angeheftet, es sprichwörtlich nach ihrem Abschluss gegen die Lehrerroben eingetauscht und das Ministerium hatte seine Zustimmung gegeben.
Seit zweiundzwanzig Jahren hatte sie schweigend ihre Rolle gespielt – der Verstand des Goldenen Trios, Harrys letzte stehende Anhängerin, die beraubte, junge Freundin von Ron Weasley – so tragisch, so jung.
Das Pergament vor ihr war vergessen, sie starrte hinaus auf das verblassende Licht in den vom Wind gepeinigten Wipfeln, bis sie bemerkte, dass das, was sie dort sah, ihr eigenes Gesicht war, benetzt vom Lampenlicht, verzerrt, reflektiert in den trĂĽben Fenstern.
Die Echos aus zweiundzwanzig Jahren Schweigen erdrückten sie von der gewölbten Decke herab, als ob die Knochen des Schlosses sie aus den untersten Tiefen zogen, als ob sich die Wurzeln endlos durch die Zeit erstreckten und sich die tiefe unermessliche Weite der Ewigkeit hinein in die Gegenwart zog, nur um sich schwer auf sie zu legen, bereit zu fallen.
Sie schüttelte den Kopf. Sie hatte solch eine Bürde schon vorher gespürt, unzählige Nächte, die sie damit verbracht hatte mit scharlachroter Tinte ihre ordentlichen Kommentare an die Ränder ihrer eigenen Nachforschungen, auf die endlosen Pergamentrollen der Schüler zu schreiben.
Und immer hatte sie es verdrängt, verbannt mit einer ungeduldigen Geste – ihre Hand vervollständigte die Bewegung indem sie die verirrte Haarsträhne hinter ihr Ohr strich.
Professor Hermine Granger hatte schon immer einen scharlachroten Tintenfleck neben ihrem Ohr gehabt. Jeder bemerkte es natürlich. Aber niemand – noch nicht einmal die unvorsichtigsten Erstklässler – verloren je ein Wort darüber.
FĂĽr ihre kurzlebige, aufwieglerische Geduld, war Professor Granger berĂĽhmt.
Professor Hermine Granger war die am meist gefĂĽrchtete Person in Hogwarts.
Und niemand wusste warum.
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„Professor?“ Als Hermine ihre letzten Unterlagen in ihre Tasche beförderte, durchbrach die Stimme der Bibliothekarin – rau, höflich – ihre Stille.
Hermine schaute ruckartig auf. „Was gibt's, Hannah?“
Wie immer zuckte Hannah Abbott zusammen, wenn sie hörte, wie die Professorin das Fehlen ihres offiziellen Titels betonte. Als ob sie noch eine Schülerin sei, schlug sie die Hände hinter dem Rücken zusammen, trat einen Schritt zurück und senkte ihr Kinn. „Ich wollte nur wissen... nur wissen, ob...“
Hermines Augen funkelten gefährlich. „Ob ich gehe?“
Hannah blickte zur Decke hinauf. „Gen...“
Hermine schnitt ihr das Wort ab. „Offensichtlich“, sagte sie, stand auf und schulterte ihre Tasche. Sie rauschte an der anderen Frau vorbei, als ob ihr weniger Beachtung als eine der vielen Statuen in Hogwarts zu schenken sei.
Sobald sich die Tür der Bibliothek hinter dem Umhang der Professorin geschlossen hatte, atmete Hannah aus und dachte: „In der Schule war sie immer so nett gewesen.“ Hannah hatte jede Nacht seitdem sie Madam Pince vor fünfzehn Jahren ersetzt hatte, denselben Gedanken gehabt.
Hätte die Professorin von Hannahs andauernden Wehklagen gewusst, sie hätte nichts gesagt.
Nicht laut.
Aber etwas in ihren Augen hätte Hannahs halb bewussten Verdacht, dass sie der Sache nicht gerecht wurde, bestätigt.
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Hermines Schritte hallten mit zügiger Entschlossenheit durch den Steinkorridor, als sie zu ihrem Zimmer ging. Der Blutige Baron driftete in ihren Weg, aber sie ging durch ihn hindurch, nicht sehend, unempfänglich für die Kälte, die immer der Begleiter jeder Berührung mit einem der vielen Hausgeister war.
Es gab jetzt mehr von ihnen.
Es war die letzte Reise des Hogwarts Expresses gewesen - die ramponierte, geschwärzte Ruine der einst dunkelroten Lok schleppte die zerstörten Waggons voran, nur um eine halbe Meile vor Hogsmeade zum Erliegen zu kommen. Die vollkommen überwältigten, schemenhaften Umrisse der wenigen Schüler, deren Eltern es erlaubt hatten zurückzukehren, tauchten Stunden später aus dem Nebel der Berge auf, vollkommen kopflos waren sie ihrem letzten Lebensimpuls erlegen gewesen – zum Schloss zu gelangen, die letzte Festung der Sicherheit.
Der Angriff auf den Zug war der letzte Auslöser für Harry gewesen. Die Gegenüberstellung in Godric's Hollow fand kaum zwei Wochen später statt, nachdem sie es von der Schulleiterin gehört hatten, welche die Schule geschlossen und ihren letzten verbliebenen Schülern nur einen Flügel für den Unterricht zur Verfügung gestellt hatte. „Um den Wechsel zu erleichtern“, hatte sie gesagt.
Der Fette Mönch hatte mit seinem langen Gesicht zustimmend genickt und sich bei ihnen niedergelassen. Einige von ihnen verschwanden, verschmolzen teilweise in stehende nebelhafte Flecken, von denen die Schüler wussten, als die Schule das nächste Jahr wieder eröffnet wurde, dass sie sie meiden mussten.
Durch das Schloss rauschend in ihrem offiziellen Lehrergewand, welches steif um ihre raschen Schritte wehte, hielt die Professorin nichts davon, noch nicht einmal nachdem sieben Jahren seit dem Krieg vergangen waren, als die Klassen kleiner waren, als sie sein sollten und einige gar keinen Unterricht mehr bekamen. Aber das Schloss war vor langer Zeit mal gefüllt gewesen und sie hatte sich nie die Nostalgie eingestanden, als zum ersten Mal weniger Regeln gebrochen und weniger Aufsätze bewertet wurden. Nur ganz alleine, sehr spät in der Nacht wanderten ihre Gedanken zurück und selbst nur dann in den schattigen Momenten, bevor der Schlaf sie einholte und sie sich nicht mehr an ihren eigenen Namen erinnern konnte.
Es war ihre liebste Zeit des Tages.
Heute Nacht wurden ihr Blick und ihr Geist von den Bäumen, die nur eine Ahnung von den Fenstern aus waren, durch die vielen Torbögen, angezogen, lediglich vom Mondschein beleuchtet, schaukelten ihre Spitzen noch immer im Wind, dunkel, leise, nur die höchsten Äste der größten Bäume waren immer die ersten, die dem Himmel das Licht stahlen, die den Wind spürten, die Vorboten der Nacht und des Sturms.
Heute Nacht schwoll der Wind an und von dem Ort, an dem ihr ihr Name fremd war, unter ihren Träumen, heute Nacht spürte sie es aufkommen.
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