von Xaveria
Von allen Schlossgeistern war er ohne Frage der Geschickteste darin, im Einhalten von angemessenen Abständen ohne es scheinbar wirklich zu tun, aber er hatte vollkommen vergessen, dass die Lebenden nicht durch Wände hören konnten.
Dieser Mistkerl.
Hermines Schritte waren schnell, aber für sie und einige Geister, an denen sie vorbeilief, nicht sehend, tönten ihre Schritte lautstark, als sie geschwind in die Sicherheit ihrer eigenen Zimmer flüchtete.
Dieser Mistkerl!
Es kostete sie all die Selbstkontrolle, die sie besaß – was eine ganze Menge war – nicht die letzten Stufen zu ihrer Tür hinauf zu rennen. Schnell löste sie ihre Sicherheitszauber, rauschte ins Innere, wirbelte herum und knallte die Tür mit ihren Rücken zu.
Ein Zipfel ihrer Robe steckte in der TĂĽr.
Draußen vor ihrer Tür tauschte die Graue Dame einen traurigen Blick mit dem Geist einer Schülerin aus, die im Zug gewesen war – eine kleine Schulanfängerin, die noch immer ihre Zöpfe trug.
Der kleine Geist deutete stumm auf das im Spalt klemmende schwarze StĂĽck Stoff.
Die Graue Dame sah es lange an, legte ihren Kopf zur Seite und schwebte dann hinauf durch die Decke zum BĂĽro der Schulleiterin.
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„Severus.“ Minervas Kopf tauchte in seinem Feuer auf und er schaute von seinem Buch auf. Die Bänder aus der Bibliothek lagen unberührt gestapelt auf einem kleinen Tisch neben seinem Ellbogen. „Hannah hat mir von dem Material berichtet, welches Sie angefordert haben. Und die Graue Dame sagt, dass Professor Granger rasend vor Wut in ihren Zimmern angekommen ist.“
Er nickte, seine Augen glitzerten mit einer sonderbaren Genugtuung.
„Ich dachte, Severus, dass Sie bereits mit Professor Grangers Nachforschungen vertraut sind? Sie haben mich zweifelsohne in diesem Glauben gelassen.“ Ihr Gesicht wurde noch verkniffener, als sie bewusst auf den Stapel der Fachzeitschriften schaute und dann wieder zurück zu ihm.
„Das bin ich“, sagte er gesprächig und blätterte eine Seite in dem Buch um, welches er in seinen Händen hielt.
„Können Sie mir dann erklären, warum Sie -“
„Ich sollte annehmen, dass dies offensichtlich sein würde, Minerva“, sagte er ohne seinen Blick von der Seite zu nehmen.
„Wirklich, Severus! Sie haben die arme Hannah auf ein -“
„Was hier wohl kaum der Punkt ist.“ Er schlug das Buch zu. „Professor Granger war in der Bibliothek. Sie hatte meine Anfrage gehört, wie es meine Absicht gewesen war.“
Minervas Augen zogen sich zusammen.
„Eine alte Jagdstrategie der Muggel, Minerva. Es wird als 'Das Wild aufscheuchen' bezeichnet.“ Er wartete einen Moment, damit sie das verarbeiten konnte und fuhr dann fort. „Zweifellos wird sich die verärgerte Professorin im Augenblick in ihrem Zimmer verstecken und versuchen, das wohl erste Gefühl, das sie seit Jahren wieder fühlt, zu beherrschen.“
Minervas Blick wurde ausdruckslos und sie starrte ihn an, was Severus daran erinnerte, dass sie in ihren besten Jahren eine eindrucksvolle Duellantin gewesen war. „Und dieses Gefühl wäre?“
„Angst.“
Minerva schnaubte.
„Es hat seinen Nutzen, Minerva.“
„Es hat zweifellos bei Madam Abbott funktioniert“, sagte sie missbilligend. „Poppy musste ihr ein Beruhigungsmittel geben.“
Er lächelte.
Minerva beäugte ihn abschätzend. „Sie sollten zum Abendessen erscheinen, Severus“, erklärte sie. „Um sich bei Madam Abbott und der 'verärgerten' Professorin zu entschuldigen.“
Minerva verschwand aus den Flammen ohne zu sehen, wie sich seine Augenbraue hochzog.
Sie musste es nicht. Sie kannte ihn bereits seit fĂĽnfzig Jahren.
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Der kleine Geist setzte sich drauĂźen vor Hermines TĂĽr. Sie wusste nicht, warum die Arithmantiklehrerin sie nicht sehen konnte, aber es machte ihr nichts aus. Sie mochte es hier und sie hatte herausgefunden, dass, wenn die Lehrerin fort war, sie sich hineinschleichen und fĂĽr Stunden lesen konnte.
Es war überhaupt nicht wie in der Bibliothek. Sie mochte die Bibliothek nicht, mit all den großen, gewölbten Fenstern und den Bücherregalen, die in alle Richtungen zeigten und die Sicht auf alles, bis auf die flüsternde Decke, abschnitt.
Der kleine Geist erschauderte verschwommen. Sie mochte die Bibliothek nicht. Aber die Zimmer der Professorin, mit all ihrer Ordentlichkeit, ihrem einzigen Armsessel und ihre BĂĽcherwand... sie konnte alles in dem Zimmer vom Sessel aus sehen und sie wĂĽrde sich zusammenrollen und lesen und lesen...
Sobald sie einmal gelernt hatte in dem Stuhl ohne durchzufallen zu sitzen, war es im Schloss ihr Lieblingsplatz geworden. Von dort aus konnte sie den kleinen Riss im Fenster der Professorin jeden Tag ein wenig wachsen sehen.
Er war schon immer dort gewesen, seit sie das erste Mal durch die TĂĽr geschwebt war, um fĂĽr ihren Transsubstanzunterricht zu ĂĽben. Sie hatte es diesen Tag bemerkt, ein winziger Funken von gebrochenen Sonnenlicht.
Sie hatte auch einst einen Riss in ihrem eigenen Fenster gehabt.
Sie hatte auch einst ein eigenes Fenster gehabt.
Der kleine Geist im Korridor seufzte und verschwand wenige Zentimeter in der Steinwand, bevor sie sich dabei ertappte und ihr körperliches Spektrum korrigierte.
Sie mochte es hier. Manchmal, wenn sie in den Zimmern der Professorin war, dann tat sie so, als ob sie zu Hause wäre.
Dort konnte sie auch niemand sehen.
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Hermines Herz pochte laut in ihren Ohren und das Blut, das in ihren Kopf rauschte, pulsierte mit jedem Herzschlag.
Mit ihren Händen flach auf dem Holz gegen die raue Maserung gepresst, die abgenutzten Erhöhungen und Kanten der einst lebendigen Oberflächen fühlend, zwang sie sich zu beruhigen.
Das Holz war kĂĽhl.
Sie konnte wieder atmen.
Es war vermutlich nur Zufall, dass Snape gerade dann im Schloss auftauchte, als sie die Nachforschungen für ihren nächsten Artikel abschloss.
Nur ein Zufall.
Tief in ihrem Inneren wandte sich etwas Kleines und Scharfes. Tief in ihrem Inneren wusste etwas, dass sie log.
Aber sie achtete nicht darauf. Sich aufrichtend und ihre Haare hinter ihr Ohr streichend, spĂĽrte sie einen scharfen Ruck und drehte sich stirnrunzelnd um. Eine zielgerichtete Bewegung mit ihrem Zauberstab und sie war frei.
DrauĂźen vor der TĂĽr sah der kleine Geist den Stofffetzen verschwinden und sie seufzte erneut.
Eine weitere Bewegung mit ihrem Zauberstab und das Feuer stieg leicht empor. Sich in den Armsessel setzend, leerte sie ihre Tasche von dem ungestüm eingeräumten Inhalt und begann damit die Sachen richtig anzuordnen.
Ein leises Pfeifen zischte durch den wachsenden Riss im Fenster, doch abermals in ihrer Arbeit vertieft, hörte sie es nicht.
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In seinen ehemaligen Zimmern am Feuer sitzend, ging Severus noch einmal ihre Artikel durch, die sie in Ars Necronomica veröffentlicht hatte.
Der erste war während ihres dritten Jahres als Lehrerin in Hogwarts erschienen. „Eine theoretische Untersuchung der Horkruxe. Ihre Natur und bekannte Fälle ihrer Anwendung.“ Eine Zusammenfassung, dachte er, die Rückschlüsse von dem was sie von Potter gelernt, der sie wiederum von Albus erfahren hatte... keine Erstschrift. Ein typischer erster Versuch; abgeleitet...
Mit einer Feder und seiner scharlachroten Tinte hinterlieĂź er eine kurze Anmerkung am Titel, bevor er den Band zur Seite legte.
Der zweite und der dritte Artikel waren ebenso unbeachtlich; eine zweiteilige Serie, die in fortlaufenden Themen erschienen war. „Horkruxbildung basierend auf fundamentalen arithmantischen Grundsätzen: I. Physische Bedingungen“ und „II. Metaphysische Bedingungen.“ Bei diesen beiden Artikeln müssen die Unsäglichen einen Anfall bekommen haben, lächelte Severus, als er das Erscheinungsdatum überprüfte.
Wenn Grangers erster Artikel die Fragen darüber beantwortete, was Voldemort getan hatte, dann lieferten der zweite und dritte eine Erklärung nach dem Wie und wagte auf die Theorie in der Anlage zum zweiten Teil einzugehen, welcher ihre Analyse beinhaltete, wie genau Potter den Tödlichen Fluch überlebt hatte.
Der fünfseitige Anhang, mit dem Untertitel: „Die formelhafte Dispens von Dumbledores Lehrsatz einer bekannten Wiederholung“ war ein akademisches, analytisches Meisterwerk, aber zu dieser Zeit waren Potters Erinnerungen wieder zurückgekehrt und „weil meine Mama mich liebte“, war für die meisten Antwort genug gewesen.
Nicht fĂĽr Granger.
Ein Teil seines Verdachts war aufgrund dieses Anhangs gewachsen, aber es war ihr vierter Artikel gewesen, der, als er erschien, sein Interesse geweckt hatte – der erste, der nach seiner Entlassung aus Askaban erschienen war. „Eine Theoretische Erforschung der möglich inversen Manifestationen in der Horkruxanwendung“ erweiterte die Möglichkeit, dass...
Hier runzelte er die Stirn, um seine eigenen verblassten Randnotizen zu entschlĂĽsseln...
... dass die Horkruxbildung nicht der zweiteilige Prozess war, von dem bisher selbst die fortgeschrittensten Hexen und Zauberer ausgegangen waren. Sie hatten angenommen, dass die Ausführung eines Mordes die Seele des Ausführenden teilt – alle klar denkenden Hexen und Zauberer bestanden darauf – aber nur durch die Intention des Ausführenden konnte dieser Teil der Seele an einen separaten Gegenstand gebunden werden.
„Andernfalls“, hatte ihre äußerste Weisheit beharrt, „gäbe es für jeden Mord einen Horkrux.“
Was einfach nicht der Fall war.
Grangers erster wirklicher VorstoĂź in das Feld der Dunklen KĂĽnste schlug vor, dass die Horkruxbildung ein dreiteiliger Ablauf war: dass der Mord an sich nicht die Seele spaltete, dass die Spaltung ebenso beabsichtigt sein musste.
Mord, Spaltung der Seele und Beherrschung.
Grangers Artikel hatte weltweites Aufsehen unter ein paar Dutzend Hexen und Zauberer erregt, die es gelesen und ihre mögliche Folge verstanden hatten: dass es für eine dritte Partei möglich war einzugreifen und den Fluch neu richten zu können.
Severus hegte keinerlei Zweifel daran, dass dieser Artikel Granger einen Besuch der Unsäglichen beschert hatte; sie hatte seitdem für ein paar Jahre nichts mehr veröffentlicht.
Er überflog die Titel der letzten drei Artikel; jeder länger als der letzte.
Severus musste sich diese Artikel nicht noch einmal in ihrer Gesamtheit durchlesen. In der Zeit, in der sie in kurzer Abfolge erschienen waren, war er Geistlektor des Magazin gewesen und hatte die Vorschläge unter einem Pseudonym überwacht.
Er hatte ihrer Veröffentlichung persönlich zugestimmt.
Er streckte seine Beine vor dem Feuer aus und starrte in die Flammen.
Es war offensichtlich fĂĽr ihn, dass das GrundgerĂĽst fĂĽr Grangers Arbeit eine Sache andeutete: dass sie diejenige gewesen war, die Voldemort geschlagen hatte, und sie hatte es getan, indem sie einen Horkrux gebildet hatte.
Aber alle Berichte der finalen Schlacht, wild abweichend voneinander, da es so viele gab, stimmten in einem Detail überein: Hermine Granger hatte niemanden getötet.
Ärgerlich.
Dass er der Einzige war, der die persönlichen Absichten hinter ihren Nachforschungen und die Beichte hinter der Veröffentlichung erkannte – nein, das überraschte ihn nicht. Immerhin hatte er als Spion überlebt.
Aber selbst, als er über das, wie er es nannte, „Granger Paradoxon“ nachdachte, es in seinem Kopf immer wieder herumdrehte, während die Flammen ineinander griffen und aufloderten, nur um wieder zu versiegen und dann erneut zu steigen, da kam es ihm nicht in den Sinn seine eigenen Motive zu hinterfragen.
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Einige Minuten später wurde das Pfeifen so laut, dass es ihre Konzentration störte und nach weiteren Minuten konnte sie es nicht länger ignorieren.
„Was?!“, wollte sie schließlich wissen, obwohl da nichts war; niemand war im Zimmer.
Sie drehte ihren Kopf und fand sofort die Ursache.
Stirnrunzelnd wandte sie einen Reparo an und der Riss im Fenster schien mit dem festen Glas zu verschmelzen. Sie zog ein Tintenglas aus ihrer Tasche und kehrte zu ihren Aufzeichnungen zurĂĽck.
Der kleine Geist schwebte in das Zimmer und schaute automatisch hinüber zu dem glänzenden Riss. Zuerst konnte sie ihn nicht sehen, aber dann war er da, wieder klein, aber wachsend.
Sie begann ĂĽber der Schulter der Professorin zu lesen.
„Hinsichtlich der kontaminierten physischen Erweiterung der Horkruxe und seine Folgen für weitere subalchimedische Umwandlungen“, las sie, „von Prof. H. Granger, Meisterin der Arithmantik, Hogwarts Schule für Hexerei und Zauberei.“
Der Geist lehnte sich nahe an die Lehne des Stuhl. Sie verstand nicht einmal die Hälfte von dem, was sie las, aber das kratzende Geräusch der Feder war beruhigend und die Lehrerin hatte eine schöne Handschrift.
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Nach einer Stunde des Nachdenkens, während der Severus die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten von oben und unten und allen Seiten durchgespielt hatte, hatte sich sein Blick auf die glühende Asche auf der Ecke eines Holzklotzes gerichtet.
Augenblicklich war er auf seinen FĂĽĂźen und griff nach dem Flohpulver.
„Minerva.“ Seine Stimme wie ein Befehl in den Flammen.
Ihr Gesicht erschien schnell, ihre Brillengläser glitzerten alarmierend aufgrund seiner unerwarteten Unterbrechung. „Was gibt es, Severus? Ist etwas passiert?“
„Hatte Ginevra Weasley ein U.T.Z. in Arithmantik erhalten?“
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