von Teekon
Er war der Einzige, der geweckt werden musste. In fast vollkommener Dunkelheit bewegte sich Remus durch das klinisch aufgeräumte Turmzimmer und beugte sich zwischen den beiden hohen, vierpfostigen Bettgestellen hinunter, um die schmale Schulter unter der Decke sanft zu berühren und vorsichtig zu rütteln. Die Lider öffneten sich, dass schmale Schlitze sichtbar wurden, und das schwache Licht der einzelnen Laterne spiegelte sich in den glitzernden Hornhäuten, wie Peter sich nur leicht herumdrehte und ihn anblinzelte.
Das Rascheln von Kleidung mischte sich mit dem stillen Klappern von Turnschuhen aus weichem Stoff, und ein dumpfes Klopfen zeugte davon, wie der bereits vollständig bekleidete Sirius die Schlummerrollen aufschlug, um sie als Platzhalter unter ihre Bettdecken zu legen. Zaghaft, als wollten auch sie sich besonders ruhig verhalten, knackten ein paar winzige Überreste des abendlichen Feuers im Ofen, aber sonst war es völlig friedlich im hohen Turm von Gryffindor.
Der abnehmende Mond, noch fast voll und strahlend hell, stand am Himmel und schien hinein in das breite Fenster an Sirius' Kopfende, warf so lange und durchdringende Schatten, dass sie kein Licht brauchen würden auf dem Weg. Von seiner Matratze herunter rutschend, schlüpfte James in die Schuhe, und auch Peter rollte sich herum und befreite sich von seinem Duvet. Nicht einmal die Augen reiben musste er sich, war nicht müde, sondern augenblicklich hellwach und voll da. Aus dem unruhigen, leichten Schlaf heraus gerissen, klopfte ihm das Herz gleich bis an die Zunge, und Remus brauchte nichts zu sagen.
So schnell er konnte, ohne dabei den geringsten Lärm zu machen, griff auch Pettigrew nach seiner vorbereiteten Kleidung, immer noch in Hemd und Hosen, die er gar nicht erst ausgezogen hatte. Ein wenig vorschlafen hatten sie wollen vor der anstrengenden Nacht, nach der sie nicht würden ausruhen, aber zum Unterricht gehen müssen, und wenigstens dem dicklichen Jungen war das gelungen. Die anderen Drei hatten wach in ihren Betten gelegen, stumm, ohne ein Wort zu sprechen, und hatten an die Decke gestarrt, die Gedanken rasend, die Gefühle überschäumend. Und nun war es endlich soweit. Die winzige, tickende Uhr auf dem Fenstersims zwischen James' und Lupins Betten zeigte mit dem langen Zeiger schnurgerade auf die 12.
Sich in ihre Roben hüllend, mit so wenig Gepäck wie möglich belastet (nämlich gar keinem), vervollständigte jeder von ihnen rasch die Tarnung ihres angeblichen Schlafes, auch wenn sie kaum glaubten, dass jemand herein schauen würde. Professor McGonagall wäre die einzige, die es überhaupt wagen würde, die Tür zu öffnen, und es gab keinerlei Anlass für sie, durch den Gemeinschaftsraum zu den Schlafsälen ihres Hauses zu laufen. Sie hatten keine Ambitionen, ihr darauf irgendwie Lust zu machen. Nur rasch beugte Peter sich noch mal über seinen Nachtschrank und zog hastig die lange, geleerte Trinkflasche heraus, die er sich sorgfältig in die Innentasche zu seinem Zauberstab schob, während die anderen ihre Ausstattung überprüften. Mahagoni, Erle, Kastanie und Rotbuche, vier Hölzer, mehr brauchten sie nicht. Es konnte losgehen.
Einander zunickend holte jeder der vier Rumtreiber tief Luft, und sie versammelten sich in einem Pulk vor der schweren Tür, die in den gewundenen Treppenaufgang und von dort aus hinunter in den Gemeinschafstraum von Gryffindor führte. Langsam, leise, drückte Sirius die Klinke herunter und streckte den Kopf durch den winzigsten möglichen Spalt, lugte hinaus in das schwach erleuchtete Rondell und lauschte in die angenehme, nächtliche Stille. Nichts rührte sich, die Luft war rein. Alle Schülerinnen und Schüler ihres Hauses schlummerten friedlich in ihren Betten, hatten keine Ahnung, was heute Nacht unter ihrer aller Augen geschehen würde. Mit der Hand eine heranwinkende Geste machend, erklärte Black den Abzug.
Augenblicklich breitete James den Mantel über seinem Kopf aus und schob sie alle irgendwie mit unter den fließenden, regenbogenfarbigen Stoff, durchwebt mit Haaren des Demisguise, und die vier Jungen verschwanden aus ihrem Schlafsaal, noch bevor die Tür sich wieder geschlossen hatte. Keinen Laut verursachten die Muggelturnschuhe auf den steinernen, kahlen Stufen, und nicht ein noch so kleiner Schatten der flackernden Fackel verriet sie. Bereits aufgeräumt und ruhig war es in dem großen Raum zwischen den Aufgängen und dem runden Loch in der Innenwand, das Feuer im hohen Kamin heruntergebrannt und die vielen weichen Sessel leer. Noch einmal innehaltend, überprüften sie ein letztes Mal, dass niemand sie gehört hatte, doch mehr als das unregelmäßige Schnarchgeräusch von Filimon Stebbins aus dem unteren Jungenschlafsaal war nicht wahr zu nehmen.
Die Fette Dame wachte nicht auf, so vorsichtig zogen sie ihr Porträt in den engen Durchgang, und ihr zufriedenes Schmatzen im Schlaf wurde nicht unterbrochen. Kühle drang aus dem Korridor zu ihnen herein, und sie fröstelten leicht unter dem Tarnumhang, wie sie hinaus schlüpften in das tiefe Treppenhaus des Turms von Gryffindor, und das grollende Rumpeln der sich auch nun noch bewegenden Stiegen erfüllte sacht schallend die Kuppel ein Stockwerk über ihnen. Mit der gleichen Sorgfalt verschlossen die jungen Männer den Eingang zum Gemeinschaftsraum, und erst, als jeder von ihnen still stand, gaben sie einander das Zeichen zum Weitergehen.
Nur ein kurzes Stück den Gang hinunter, und sie konnten rasch und ungesehen durch den nicht realen Wandteppich verschwinden, fanden sich wie gewohnt in ihrem schmalen Geheimweg wieder und eilten nun so hastig wie möglich die vielen hundert Stufen hinunter, die sich durch die Außenmauer schraubten. Hier bestand nicht die Gefahr, gesehen zu werden, hier konnten sie auf den Schutz des Umhangs verzichten und Zeit gut machen, und so waren sie schon sehr bald unten in dem winzigen Vorraum angekommen, von dem aus die schwere Tür aus beweglichen Steinen in die hintere Eingangshalle führte. Erst hier verbargen sie sich wieder unter Potters Mantel, und gemeinsam erweiterten sie die sonst unsichtbare Öffnung.
Die Tore waren geschlossen, die Laternen erloschen, und nur der Mond schien durch hohe Fenster zu ihnen herein und beleuchtete den weiteren Weg. Auch dies wäre ein Ausgang gewesen, doch Heimlichkeit war alles, war wichtiger als Schnelligkeit, und es war nicht ratsam, die magisch gesicherten Hintertüren zu öffnen, wenn Filch und seine hässliche Knieselmischung durch die Korridore schlichen. Nur ein kurzes Stück jetzt noch durch die offenen Flure, um die Ecke hier und die breiten Marmortreppen hinunter zu den Gängen von Slytherin-Haus, und dann hinter die Büste in der engen Nische und in Sicherheit. Immer wieder hielten die Vier inne, lauschten, horchten, vergewisserten sich, dass sich nichts und niemand bewegte in den Schatten. Es blieb still. Nicht mehr als das schaurig-schummrige Leuchten der grünlichen Funzel vor Professor Slughorns Büro zeigte sich.
Aufatmend stolperten James, Sirius, Remus und Peter hintereinander über die Schwelle zu dem dreiecksförmig angelegten Vorderstück der Stiege, huschten noch schnell um die Ecke und fanden sich im schmalen Rahmen zum Wachraum wieder. Sie keuchten jetzt schon, weniger vor Anstrengung, denn vor Aufregung, und das Mondlicht spiegelte sich durch die verschmierten Scheiben in ihren Mienen. Bleich sah Remus aus davon, entsetzlich blass, als wäre er selbst das Himmelsgestirn da draußen, und die dunklen Ringe unter seinen Augen waren von der selben Farbe und Struktur wie die langen, rissigen Narben quer durch sein Gesicht. Aber wenn sie einander so betrachteten: Keiner von ihnen sah wesentlich gesünder aus. Die Anspannung zeigte sich in zitternden Lippen und gehetzten Augen, und immer noch traute sich keiner, ein einziges Wort zu sagen.
Mit einem Zunicken verteilten sie die Aufgaben, und die beiden Größten und Stärksten von ihnen, Sirius und Remus, glitten in einer Art Slalom durch den vollgestellten Raum bis in die hintere Ecke, aus der sie gemeinsam den hohen Koffer der Bobbin'schen Transportbox hoben. Rechts und links davon, dann davor und dahinter, bugsierten sie vorsichtig den Trank und die übrigen Zutaten sorgfältig verpackt aus dem kleinen Wachsaal hinaus zu Peter und James, die unruhig auf ihren Füßen hin und her schwankten und auf sie warteten. Ein eindringlicher Blick zu Pettigrew genügte, und er begriff sofort und klopfte sich vielsagend auf die Brust, dass Holz gegen Glas klimperte. Er hatte es dabei, es fehlte nichts.
Gemeinsam entfernten sie sich von den Gefahren der offenen Korridore und tauchten auf dem altbekannten und mittlerweile oft gegangenen Weg der Stiege ab, nicht weit den Gang hinunter, der schon bald in der endlosen Treppe mit den unzähligen Absätzen in die Tiefe zu fallen begann, und mit den Händen an den kalten, glatten Wänden Halt suchend, stapften sie eine Stufe nach der anderen hinunter.
Bald schon wurde die Luft sehr kühl, und Feuchtigkeit drang aus jeder Ritze der Mauern links und rechts ihres Weges. Wolken aus Atem bildeten sich vor ihren Mündern, aber sie froren nicht, sondern schnauften und schwitzten und spürten kaum, wie klamm und eisig ihre Wangen und Nasen wurden, so sehr konzentrierten sie sich darauf, die immer gleich bleibenden Abstände der Stufen zu meistern.
Die Beine wurden einem so schon wie Blei, wenn man so lange abwärts und abwärts taperte, aber in der gespannten Aufregung und mit dem schweren Gewicht der Kiste zwischen sich, fiel es noch mal so schwer. Als sie endlich den Grund der Stiege erreichten, wo sich blanke Felswände unter dem rauschenden Bett des Baches schnurgerade hindurch zogen, atmeten sie hörbar auf, und James lachte sogar heiser. Es musste irgendwie raus, dieses Gefühl, und niemand machte Witze darüber. Nur schnell weiter und auf der anderen Seite wieder hinauf, weniger steil, angenehmer zu gehen, aber dennoch aufwärts.
Endlos schien es zu dauern, bis die nicht mehr gewundene Treppenflucht zu einem gepflasterten Weg wurde, und im Schein der erleuchteten Zauberstabspitze von James, der nun vorausging, die beiden jungen Männer mit dem Trank in der Mitte und Peter als Nachhut, spielten die gespenstischen Schatten der herabhängenden Wurzeln auf den behauenen und erdiger werdenden Wänden. So sorgfältig abgedeckt hatten sie den Waldzugang, dass kein noch so winziger Schein des Mondes hier herunter fiel, und erst der felsige Klotz des verschließenden Brockens kündigte das endgültige Ende an. Sirius stöhnte leise und setzte die Kiste vorsichtig vor seinen Füßen ab, und Remus, der leicht gebückt hatte gehen müssen, schüttelte zischend den schmerzenden Arm aus. Für den nächsten Abschnitt würde er die linke Hand wählen müssen.
Per Räuberleiter kletterte James voran und stemmte sein ganzes Gewicht gegen den Bretterverschlag, der sich heftig wehrte. Erst mit sanfter Gewalt und hochrotem Kopf konnte er die selbstgezimmerte Platte lösen, und mit einem Ruck und einem krampfhaften Keuchen gelang es James, den Gang wieder zu öffnen. Sofort fiel gleißendes, tanzendes Mondlicht durch die rauschenden Blätter der Bäume über ihnen und tauchte die vier Jungen unten in dem tiefen Loch unter der Buche in Silber. Fast einstimmig gemurmeltes „Nox!“ ließ die Zauberstäbe verlöschen, und sie verschwanden in den Roben, jetzt erst einmal unnötig und nur verräterisch.
Ein einfacher, aber vorsichtshalber von Zweien ausgeführter Schwebezauber beförderte die Kiste nach oben, wo James sie fast zärtlich in Empfang nahm. Erleichtert sah er aus, wie sie sicher und gegen Umfallen geschützt neben ihm auf dem Boden aufkam. Es gab einen guten Grund, wieso sie sich nicht trauten, das schwere Ding per Locomotor den ganzen Weg zu transportieren.
Einander hinauf helfend, kraxelten die restlichen drei Jungen aus dem Loch, und während Peter sich die Blätter und die trockenen Nadeln der Lärchen abklopfte und James half, die Kiste in Sicherheit zu bringen, hoben Sirius und Remus das provisorische Tor wieder an seinen Platz. Ja, es war spät, und ja, es war dunkel, doch das hier war der Verbotene Wald, und sie hatten keine Lust darauf, sich den Rückweg gegen irgendein scheußliches Vieh freikämpfen zu müssen. Sie würden müde genug sein, falls überhaupt noch vollzählig. Niemand wollte daran denken. Ob einer von ihnen gerade einen einzigen Gedanken auch nur tatsächlich fasste, oder sich völlig ohne offenes Bewussctsein nur um die Ausführung eines festgelegten Planes kümmerte, wie Radfahren, wie Schwimmen, das konnte keiner über den anderen sagen.
Erwartungsvoll starrten die jüngeren Drei nun Lupin an, den Einzigen, der den weiteren Weg nun kannte. Nur er wusste, wohin sie nun gehen würden, welchen Ort er ausgewählt hatte für das große Ritual, und man konnte regelrecht zusehen, wie ihre Adamsäpfel hüpften, wie sie zu ihm aufsahen. Sich halb bückend, angelte Remus erneut nach dem einen Griff der Box und deutete mit dem Kinn und dem Zeigefinger in Richtung des unteren Waldsaums. Also nicht tiefer unter die Bäume, und nicht den steilen Berg hinauf. Das war gut. Beides. Sich eine Locke aus der Stirn pustend, weitete Sirius kurz dankbar die Augen und machte sich ebenfalls wieder ans Werk.
Die Lichter von Hogwarts waren erloschen, und nur wenige Fenster leuchteten noch heimelich und warm über den tiefen Graben der Bergklamm und die schmaler werdende, saftige Wiese zwischen dem Verbotenen Wald und dem Abgrund hinweg. Die Bäume des Waldrandes verdeckten sie und ließen den Blick wieder frei, sich ändernd und wechselnd mit jedem Schritt durch das nicht so dichte Unterholz, und trotzdem sorgte Remus dafür, dass sie sich eng unter dem Schatten der Wipfel und tiefer hängenden Zweige hielten.
Hagrids Hütte ließen sie hinter sich zurück, einen großen, dunklen Klumpen Gemütlichkeit, aus dessen Schornstein noch vereinzelt winzige Puffschwaden von Rauch aufstiegen.
Schwaches, flackerndes Licht sickerte durch die zugezogenen Vorhänge und zeugte davon, dass im Kamin noch ein wärmendes Feuerchen brannte, während der Wildhüter wohl schon zu Bett gegangen war. Auch hier blieb alles ruhig. Kein Hund bellte, keine Krähe im Gemüsegarten krächzte.
Eigentlich eine wunderschöne Frühherbst-Nacht. Dünner Nebel, so schleierartig und zerrissen von einer sanften, kühlen Brise, dass er mehr wie fliegende Tropfen über den Wiesen hing, quoll aus der zerklüfteten Felsspalte, in der plätschernd und gluckernd der Gebirgsbach floss, und dicker Tau glitzerte im hellen Licht des abnehmenden Mondes. Klar war der Himmel, fast völlig unbedeckt, und nur Fetzen von Hochnebel zogen in Grüppchen darüber hinweg. Die Berge ringsherum stachen wie dunklere Schatten heraus, und auf den höchsten Gipfeln funkelte der erste Schnee. Wie eine Nachtwanderung war das, auch wenn ihre Hände froren und ihre Hosenbeine klamm und feucht wurden, sobald sie sich den ersten Büscheln von Gras näherten und der Abhang sich wieder leicht zu dem hohen Hügel anhob, auf dem die ruhig und beinahe friedlich anmutende riesige Weide ihre langen, dürren Ästchen schon blattlos in die Nacht hinaus streckte.
Am liebsten wären sie einfach weiter gelaufen, immer weiter, bis der Morgen kam, so als wäre das ihr Ziel, ein Frühstück in irgendeiner Raststätte am Wegesrand der ausgeschilderten Wanderroute, die Muggel hier entlang führte, ohne ihnen die wahren Wunder dieses Tales zu offenbaren.
Vorsichtig jetzt, als wolle er keine schlafenden Riesen wecken, umrundete Remus mit ihnen den ausladenden Fuß der künstlichen Erhebung, die sich so wunderbar in die Landschaft einbettete, doch sobald er das westliche Ende erreichte, schlug er sich aus den Büschen des Waldrandes heraus und stakste mit langen Schritten wie ein Storch durch die Wiese zu ihrer Rechten. Rasch warfen sich Peter, Sirius und James einen fragenden Blick zu, doch niemand wusste eine Antwort, und keiner traute sich, den Gedanken auszusprechen. Statt dessen zuckten sie die Achseln und schürzten die Lippen und folgten ihm einfach, der er nun im Schatten des Hügels stehen blieb und dort hinauf lugte, die Hand über den Augen, als suche er etwas.
Von hier aus waren sie geschützt vor den Blicken aus den letzten erhellten Fenstern des Schlosses, und Hagrids Hütte war nicht zu sehen, abgesehen von den obersten Mauerresten des Schornsteins. In aller Ruhe konnte er sich den geeigneten Ast suchen, und so wie er charakteristisch wutschte und wedelte und dabei fast stumm die Worte formte, war ihnen zwar klar, welchen Zauber er ausführte, aber nicht wieso. Mit gerunzelter Stirn betrachteten sie, wie ein knorriger Zweig vom Boden aufflog und sich den knarrenden Wurzeln der Weide näherte. Ein kurzer Impuls ließ James in die Knie gehen, und seine Augen suchten hastig den Himmel über ihren Köpfen ab, doch die Weide blieb ruhig und still wie ein träumender dicker Nachtwächter.
Und während er sie noch so beobachtete, fuhr ein Rascheln durch die letzten Blättchen, und jeder einzelne Ast verharrte wie versteinert. Sofort setzte Remus sich in Bewegung.
Perplex, aber stumm, folgten ihm seine drei Freunde auch jetzt auf dem Fuße, und dennoch konnten sie nicht aufhören, sich misstrauisch umzusehen, ob die Peitschende Weide nicht doch noch erwachen und ihnen gehörig eins auf die Mütze hauen würde. Doch der sonst so aggressive Baum rührte sich nicht, und sie gelangten problemlos, wenn auch vorsichtig geduckt, auf die Spitze des Hügels und tauchten unter die größte Wurzel, und zum allerersten Mal betraten James, Sirius und Peter die steinigen, grob behauenen Stufen, die in den unterirdischen Gang hinunter führten, den Remus jeden Monat beschritt. Und nun dämmerte es ihnen nicht nur, es war vollkommen klar, wohin er sie führen würde. Der sorgenvolle, fast ängstliche Blick in Blacks Augen, wie er sich auf die Lippe biss und seinen besten Freund halb hinter sich ansah, wurde nickend erwidernd.
Natürlich. Es war der perfekte Ort. Niemand konnte dort hingelangen, niemand ging überhaupt nur in die Nähe der Peitschenden Weide, nicht einmal mehr die wagemutigsten (oder bescheuertsten) Schüler, seit Davey Gudgeon bei einer Mutprobe im letzten Frühjahr beinahe ein Auge verloren hatte. Sein so verhasstes und einsames Versteck war der Platz, an dem man all die Dinge verbergen und aufbewahren konnte, die man für einen illegalen Zauber brauchte. Dort hatte er am Samstag in aller Ruhe die Ritualzeichen auf den Boden gemalt und versiegelt, dort konnten sie ungestört und ohne Angst Lärm machen und magische Energien freisetzen, und ganz Hogsmeade mochte nur in den Betten liegen und unter der Decke zittern, weil die schlimmen Geister wieder ihr Unwesen trieben. Eine geniale Idee. Ein wunderbarer Zufall. Und endlich konnten sie sich auch entspannen und sich durchschütteln.
„Das Teil ist scheißschwer!“ beschwerte sich Sirius sofort brummelnd und wischte sich den Schweiß von der Stirn, während sie noch ein paar Stufen hinunter stolperten, und Remus lachte unsicher und setzte die Kiste erst einmal ab. Da hatte er schon recht. Aber ein Großteil des Weges war geschafft. In gut einer Viertelstunde würden sie da sein und das Gewicht nicht mehr ertragen müssen. Mit ganz ungewohnt blassem Rand um den Mund lehnte James sich rücklings gegen die felsige Wand und leckte sich nickend die Lippe mit einem Grinsen im Gesicht. Die Robe fester um sich ziehend, stierte nur Peter ein wenig irritiert und unangenehm berührt den langen, dunklen Stollen hinunter, der vor ihnen lag. „Wo gehen wir hin?“ fragte er flüsternd, und seine Stimme überschlug sich fast dabei.
Für einen langen Augenblick starrten sie ihn alle nur vollkommen geschockt an. Merlins Bart, konnte man denn wirklich so schwer von Begriff sein? Hoffentlich war der nur einfach nicht ganz wach! Sonst konnte diese Aktion hier heiter werden. Den Kopf zurückziehend, schürzte Peter die Lippen ob dieser seltsamen Gesichtsausdrücke und hob eine Braue, wie er von einem zum anderen guckte. „Was denn?“ erweiterte er seine Frage und löste sie damit aus ihrer entsetzten Starre. Mit der flachen Hand gegen seinen Oberkopf schlagend, dass die fussligen Haare ganz durcheinander gerieten, schnaufte Sirius grunzend. „In die Heulende Hütte, du Dummkopf, was hast du denn gedacht?“ konnte er einfach nicht fassen, dass ihm das nicht klar war.
Die wässrig-blauen Augen wurden so groß, als wollte er sie sich gleich aus den Höhlen ploppen lassen, und mit einem wimmernden Geräusch zog Peter beide Hände nah an seine Brust direkt unter dem Kinn heran. „Aber,“ stammelte er mit quietschiger Stimme, „aber da spukt's doch wie verrückt!“ Die unglaubliche Starre, mit der Remus' Miene ihm entgegen stutzte, und wie der Älteste mit dem Zucken eines einzelnen Muskels die Braue anhob, war unnachahmlich, sogar für Lupin selbst. „Herrgott,“ rutschte es James völlig betonungslos heraus, als wäre ihm diese doch so bekannte Tatsache gerade erst bewusst geworden, und Sirius gab ein lautes Grätzen von sich und streckte die Zunge heraus. „Bist du total bescheuert? Da spukt es nicht!“ kotzte er ihm regelrecht vor die Füße, und sein bester Freund musste schon lachen. Das war so typisch Peter! Hatte er denn wirklich gar nichts mitgekriegt in den vergangenen Jahren? Einfach fabelhaft, man mochte ihn am liebsten knuddeln für so viel liebenswerten Schwachsinn!
„Nicht?“ fragte Pettigrew ganz verdattert und senkte langsam die ängstlich angezogenen Hände wieder, und die fliehende Stirn legte sich in ungezählte Fältchen. „Aber wieso sagen die Leute das dann? Das ganze Ding wackelt manchmal, und, und, und ...“ fing er an zu erzählen, was er im 3 Besen gehört hatte, und er hörte nicht auf, während Remus ununterbrochen den Kopf schüttelte und James sich ins Fäustchen kicherte, und Sirius starrte ihn einfach nur an. „Und dann ist da so ein unheimliches Scharren und Kratzen und ein fürchterliches Heulen und ...“ Peter verstummte. Wie von unten her schaute Remus ihn jetzt an aus seinen silbergrauen Augen mit den Brauen unter dem Haaransatz, und ein winzigkleines, feines Lächeln spielte um seine Lippe. „Oh,“ sagte Peter. „Heulen. Verstehe. Schlagt mich.“
Nicht weiter darauf eingehend, nickte Remus mit geschürzter Lippe, wovon sich sein Bärtchen kräuselte, und dann bückte er sich, packte den Griff der Kiste und hob sie an, und ein ungläubig maulender Sirius schüttelte den Kopf und tat es ihm gleich. Sich noch von innen auf die Wange beißend, klopfte James kichernd auf Peters Rücken und schob den peinlichst berührten Pummel einfach vorwärts.
Der gerade Weg bog schon bald ab und führte die vier Jungen durch felsigen Untergrund in einer weiten Schleife weit den Berg hinunter ins Dorf, vorbei an den Ufern des Sees irgendwo über ihren Köpfen, immer unter den schützenden Wurzeln der Bäume entlang, bis sie schließlich an das kurze gemauerte Endstück gerieten. Steile Stufen brachten sie aus großer Tiefe von mindestens zwölf Fuß zurück an die Oberfläche in Form einer geschmiedeten Tür, die horizontal im Boden über ihnen lag, nur beschienen von einer einzelnen Fackel in der Wand.
Hier stellte Remus erneut die schwere Kiste ab und schüttelte seinen Arm aus, während er mit der zweiten Hand bereits in die Tasche griff, um mittels einfachem „Alohomora“ den Riegel zu öffnen, und leichtgängig hob er die eiserne Luke über seinem Kopf in den Raum darüber. Der letzte Abschnitt der Treppe half ihnen hinauf, und nun fanden sie sich wieder in einem von groben Steinen umgebenen Kellerraum, vielleicht 2x2½ Yards lang und breit, und eine einzelne Tür zweigte in Richtung Norden ab. Erst als sie alle drinnen waren, verschloss Remus die Luke wieder, und er wandte sich sofort davon ab und führte seine Freunde voran.
Hätte Sirius nicht zurück gesehen, er hätte es nicht bemerkt, aber so stieß er dem vor ihm gehenden James mit dem angewinkelten Handgelenk fest in die Seite und deutete mit dem Kinn zurück. Der geschwärzte Stahl zu ihren Füßen trug Spuren von scharfer Gewalteinwirkung, und zwischen rundlichen Dellen kräuselten sich silberne Locken von zerkratztem Metall. Einander nur einen eindringlichen Blick zuwerfend, schluckten die Jungen fest, machten aber weder Peter darauf aufmerksam, noch sagten sie ein Wort.
Die Tür aus dem gleichen Material quietschte in der halb in der Wand verborgenen Angel, was sie vor dem Heraushebeln bewahrte, und die dahinter zum Vorschein kommende Holztreppe war wacklig und splitterig, als wäre sie nicht vier, sondern vierhundert Jahre alt. Dennoch bewegte Remus sich gewohnt und sicher darauf und brachte so Peter, James und Sirius, der nun die aufmerksame Nachhut bildete, aus dem Keller hinauf in das eigentliche kleine Häuschen am Rande von Hogsmeade, die schwere Kiste allein voran tragend. Hier wartete nun keine Tür mehr auf sie, der Rahmen war frei, und Remus umrundete eine enge Ecke und trat hinaus in den schmalen, dunklen Flur einer fensterlosen Behausung, von dessen Wänden schief und fast müde die zerschlissenen und beschädigten Bilder hingen.
Es stimmte. Alles bewegte sich hier. Unablässig knarzten die Balken und schaukelten die Bretter und Mauern wie ein Baum im Wind. Es konnte einem schwindelig werden davon, wenn man zu lange hin sah, doch weder hatten sie Zeit dazu, sich alles genau anzusehen, noch ließ Remus ihnen die Möglichkeit. Obwohl sie gut in ihrem Plan lagen, hastete er nun voraus, trieb sie ein wenig an mit hektischen Gesten und gezischten Aufforderungen ohne Worte. Sirius hielt es selbst für Peters langsamen Geist für völlig unmöglich, seine wahren Gründe dahinter nicht zu verstehen. Und während er voran stolperte, schaute er sich dennoch um, so gut er konnte. Nein, dass Moony ihnen das hier nicht offenbaren wollte, das konnte er verstehen.
Es zog an allen Ecken und Enden. Kalt war es in der Hütte, kalt und dunkel und muffig, wo kein frisches Lüftchen es schaffte, durch die Ritzen etwas Anderes herein zu bringen als nur wieder den Geruch von modrigem, zersplittertem Holz. Und die Spuren waren überall. Rohe Gewalt, verzweifelte Versuche des Entkommens, das furchtsame Wüten eines Tieres in der Falle. Aus dem quietschenden Treppengeländer waren ganze Sprossen heraus geschlagen, nicht gerissen, sondern einfach irgendwo auf Höhe ihrer Mitte wie mit einem Kinnhaken gesplittert. Türen hingen lose und traurig wippend in einer einzelnen Angel, während die Schwellen zerkratzt und so ausgehöhlt waren, als habe eine ganze Herde Wildschweine dort nach Trüffeln gesucht.
Vorhänge, Gardinen, die zugenagelte Fenster verdeckt hatten, raschelten leise in den übrig gebliebenen Fetzen und streiften über den ramponierten Boden aus splitternden Dielen und zerrissenen Teppichen.
Aber Remus trieb zur Eile an und führte sie rasch in das obere Stockwerk, und sie mussten sich an den Wänden festhalten, wenn die Heulende Hütte in ihrer Agonie schwankte und ächzte, denn das Geländer trug niemanden mehr. Auch hier oben zeigten sich die Überbleibsel von zornigem Kampf, wenn auch nicht so stark wie im unteren Geschoss. Instinktiv wusste das Ungetier, wo es hinaus ging, kannte die Schwachstellen, fand sie heraus, mit allen Mitteln, wenn notwendig, und probierte sich immer wieder daran. Hauptsächlich die Fenster waren es, Risse und klaffende Lücken in den Brettern, die vor die Öffnungen gezimmert worden waren, doch auch hier war der Erfolg wohl mäßig gewesen.
Eine Tür war noch da, stand aufrecht und geschlossen, so wie sie sein sollte und sich gehörte, und auf die hielt Remus nun zu, wie er die schmale Galerie erreichte, stieß sie auf und brachte seine drei Freunde an ihr Ziel. Nur knapp zwei Schritte ging er hinein und blieb dann stehen, bis sie sich alle direkt hinter ihm aufgereiht hatten und über seine Schultern schauen konnten, hinein in einen erstaunlich aufgeräumten und fast normal eingerichteten Raum, eine Art Schlafzimmer, mit Bett, Kommode, einer kleinen Sitzgruppe und einem irrsinnig großen, kreisrunden Perser auf dem Boden, irgendwie schief ausgerichtet und fast ein wenig deplatziert wirkend. Eine weiterer Rahmen zweigte links von ihnen ab, gab den Blick frei auf ein als Wandschrank gedachtes Zimmer, in dem nun jedoch ein langer Tisch aufgebaut war, vollgestellt mit Kisten und Kästchen und vier Flaschenhaltern aus Professor Slughorns Zaubertränke-Unterricht, und dahinter warteten drei hohe, unförmige Gegenstände, zugedeckt von dunklen Samttüchern.
Remus seufzte und stellte Bobbins patentierte Transportbox vor sich auf den Boden, bevor er die Arme ausbreitete. „Jungs,“ sagte er fast feierlich und holte tief Atem. „Willkommen in der Heulenden Hütte!“
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