
von Wizardpupil
Freds Gefühl von Sicherheit war so schnell verschwunden, wie es gekommen war. Nur wenige Sekunden hatte er diese Frau, seine echte Mutter, umarmt, dann war die Angst gekommen. Er hatte nicht gewusst, wovor er Angst gehabt hatte, aber ihm war klar gewesen, dass er sofort wegmusste.
Er hatte sich von seiner Mutter gelöst und war disappariert.
Etwa vier Tage – er war sich nicht ganz sicher – war er herumgeirrt, auf Straßen, die er nicht kannte, an Orten, die er im Apparieren zufällig und ziellos ausgewählt hatte. Einmal war er in der Winkelgasse gelandet, direkt vor seinem Laden. Es hatte sich nichts verändert; vermutlich hatte Verity den Laden sogar weiter geführt. Ob sie schon von Georges Tod erfahren hatte? Wenigstens so viel Interesse konnte seine Fa- konnten die Weasleys ja wohl daran zeigen, dass sie den Leuten, die es etwas anging, davon erzählten.
Fred wusste tief in sich, dass seine Wut unbegründet war, dass die Weasleys ihn und George doch liebten – dass er ihnen das Herz damit gebrochen hatte, abzuhauen und Georges Leiche mitzunehmen … Aber wirklich glauben konnte er es trotzdem nicht. Irgendetwas hinderte ihn daran.
Er selbst hinderte sich daran, wusste er.
Aber nachdem er so viele Stunden, mehrere Tage lang umhergezogen war, nicht geschlafen, nichts gegessen, nur nachgedacht und in jeder Bar, an der er vorbei gekommen war, etwas getrunken hatte, nach diesen schrecklichsten Tagen seines Lebens, in denen er sich fragte, wie furchtbar Georges Leiche mittlerweile aussehen musste, in denen er mehr geweint hatte als er es in seinem ganzen bisherigen Leben insgesamt getan hatte – nach alledem fühlte er sich bereit, empfand er es als notwendig, zu Hetty Marquette zurückzukehren. Seine Mutter kennenzulernen.
Es war Nacht, als er im Garten neben einem der Apfelbäume landete. Fred vermutete, dass es schon äußerst spät war, aber aus einem der Fenster des kleinen Hauses fiel Licht auf den Rasen. Hetty Marquette war noch wach – oder ihr Mann, wenn sie einen hatte. Oder vielleicht ihre Kinder – hatte sie außer ihm und George noch welche? Obwohl er Hetty nie kennengelernt hatte, konnte er diesen Gedanken nicht ertragen.
Eine Zeit lang stand Fred einfach nur so da, starrte auf das Fenster des erleuchteten Raumes. Er genoss es, den Wind zu spüren; es war der Wind, den es nur in der Nähe des Meeres gab, der so besonders roch, so angenehm auf der Haut war. Er schloss für einen Moment die Augen, atmete tief durch. Dachte erneut an George … und ging dann los.
Als er die Tür erreicht hatte, zögerte er nur kurz – er hatte nun immerhin schon mehrere Tage lang diesen Augenblick von sich weggeschoben, viel länger konnte er nicht mehr warten. Er klopfte; kurz herrschte Stille – und dann hörte er die Schritte. Es waren hastige Schritte, wer auch immer da an die Tür kam, hatte es eilig.
Dann wurde die Tür aufgerissen, und Hetty Marquette erschien mit angehaltenem Atem.
Eine Weile standen sie einander gegenüber, Sohn und Mutter, blickten einander in die Augen; sie hatten genau die gleichen. Es dauerte nur Sekunden, bis alles in Freds Kopf explodiert war und verschwand, er keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte – und es schließlich auch gar nicht mehr versuchte. Er stand einfach nur da und wartete, dass diese Frau etwas tat. Vermutlich tat sie auch nicht viel mehr, als auf ihn zu warten.
Dann endlich sagte sie etwas.
„Komm rein.“ Ihre Stimme war schwach und leise; vermutlich wäre seine Stimme das in diesem Moment auch gewesen. „Bitte.“
Sie drehte sich um und ging ein paar Schritte zurück in den Flur des Hauses, drehte sich dann um, als hätte sie Angst, Fred würde ihr nicht folgen. Aber er war ihrem Wunsch schon gefolgt.
Ein winziger Tisch mit einer altmodischen Vase neben der Tür war das erste, was ihm auffiel; nicht gerade sein Geschmack, aber das war ihm gerade egal. Alles, was er sah, übte eine seltsame Faszination auf ihn aus.
Es war sehr dunkel im Flur, Hetty hatte das Licht nicht eingeschaltet, aber Fred konnte ihre Umrisse in dem Licht erkennen, das hinter ihr aus dem Zimmer kam. Sie stand neben einem niedrigen Schrank voller Schuhe. Er machte Anstalten, seine auszuziehen, aber Hetty schüttelte den Kopf.
„Nicht nötig. Komm bitte einfach mit.“
Er folgte ihr in das Zimmer, in dem Licht brannte; es war eine kleine Küche. Das Chaos, das hier herrschte, erinnerte Fred an den Fuchsbau: Überall stapelten sich Pfannen, ein Sammelsurium an scheinbar nutzlosen Gegenständen bedeckte jede freie Stelle dem Board, dessen Oberfläche (offensichtlich unbeabsichtigt) ein bisschen schief war. Die Wände waren für eine Küche untypisch leuchtend rot, den Wänden in der Küche bei ihm – bei den Weasleys zuhause sehr ähnlich.
Hetty hatte an der Wand Platz genommen.
„Setz dich bitte auch“, sagte sie, und deutete mit ihrer Hand auf einen freien Stuhl ihr gegenüber.
Er tat es, und dann schwiegen sie wieder. Nachdem er ihr vorhin so lange in die Augen geschaut hatte, wagte er es nun nicht einmal eine Sekunde mehr. Aus welchem Grund auch immer. Stattdessen betrachtete er weiter die Einrichtung. Einige der kleinen Gegenstände, die hier verstreut lagen, waren Spielfiguren, Puppen und ähnliche Spielsachen. Also gab es Kinder.
„Das gehört meiner Tochter.“ Fred blickte auf und sah, dass Hetty ihn anlächelte; sie hatte ihn wohl dabei beobachtet, wie er einen Teddy angestarrt hatte, der am Boden lag – er erinnerte ihn so sehr an den Rons, den er damals in eine Spinne verwandelt hatte. „Sie heißt Sarah. Sie schläft schon.“
Fred nickte, war aber nicht wirklich interessiert daran – jetzt, wo er wusste, dass Hetty außer ihm und George noch ein Kind hatte, war all das hier nicht mehr ganz so faszinierend.
„Mein Mann ist Sicherheitsbeamter und hat Nachtdienst – ich warte immer auf ihn, wenn er erst spät heimkommt, deswegen bin ich noch wach.“ Sie lächelte immer noch; aber es machte ihr Schwierigkeiten, das sah Fred. So hatte George auch immer gelächelt, wenn ihm eigentlich gar nicht danach zumute gewesen war.
Dann aber veränderte sich ihre Miene; sie sah traurig aus. „Hör zu, Fred, mir ist klar, was du jetzt denken musst – aber Regulus hat mir damals gesagt, ich soll alles vergessen und glücklich werden. Dein Vater wäre böse, wenn ich mir nicht eine andere Familie aufgebaut hätte.“
Aber Fred war schon bei ihren ersten Worten hellhörig geworden; er runzelte die Stirn. „Woher weißt du, dass ich Fred bin?“
Hetty lächelte nun wieder – diesmal ehrlich. „Du hast da so ein kleines Muttermal unter deinem Ohr. Man sieht es kaum. Dein Vater hatte eines an fast genau der gleichen Stelle, dein Bruder aber nicht. Wo ist George?“
Fred wandte den Blick wieder ab; darüber wollte er noch nicht sprechen.
Hetty ergriff wieder das Wort, nachdem Fred nichts sagte.
„Die Familie deines Vaters war ganz grauenvoll.“ Wie sie das sagte; „dein Vater“. Als hätte er ihn erzogen. „Nachdem er gestorben ist, haben sie mir dich und deinen Bruder einfach weggenommen. Wie gesagt, Regulus‘ Wunsch ist das auch gewesen – er hat nicht geglaubt, dass ich mit euch allein fähig werde – du weißt ja, ich habe keine magischen Fähigkeiten.“ Sie klang so, als würde sie das bedauern. „Und trotzdem –“ (sie klang nun wütend, und zwischen ihren Augenbrauen erschien eine tiefe Falte) „– ich fand es unmöglich von den Blacks, euch einfach wegzunehmen.“ Sie beruhigte sich wieder, sah Fred besorgt an. „Haben sie sich gut um euch gekümmert?“
Fred nickte; er wollte sie nicht beunruhigen, aber fühlte sich auch nicht fähig, ihr jetzt seine gesamte Lebensgeschichte zu erzählen, alles über die Weasleys. Es hätte ihr gefallen, wenn sie gewusst hätte, bei was für einer Familie er groß geworden war. Was er alles erreicht hatte … Aber dann hätte er auch über George reden müssen. Und das wollte er vorerst verhindern.
Wozu aber war er dann überhaupt gekommen? Um seine Mutter zu treffen? Um etwas über seinen Vater zu erfahren? Irgendwie kam ihm das alles plötzlich unsinnig vor. Und doch … und doch … Hatte ihm die Frage, warum seine Mutter ihn nicht selbst großgezogen hatte nach dem Tod seines Vaters, nicht in den letzten Tagen den Schlaf geraubt? War er nicht froh, jetzt die Wahrheit zu wissen?
„Habt ihr auch alles bekommen?“
Fred versuchte, zu verstehen, was Hetty meinte, aber es gelang ihm nicht. „Was bekommen?“
„Na, das Erbe“, antwortete Hetty. „Die Hinterlassenschaften eures Vaters. Das waren einige Dinge – zwei Besen, die ganz modern sind – oder es zumindest waren damals. Eine recht alte Eule, eine wunderschöne Karte von irgendeiner Straße – Finkelgasse? Nein, Winkelgasse! Die Karte hat sehr antik ausgesehen …“
Fred konnte nicht anders, er atmete vor Überraschung so schnell und laut hörbar ein, dass Hetty erschrak.
„Alles in Ordnung?“, fragte sie.
Schon wieder nickte Fred nur, ging nicht näher darauf ein. Das, was Hetty da aufgezählt hatte … All das hatten er und George im Laufe ihres Lebens von ihren Eltern – von den Weasley-Eltern – geschenkt bekommen. Die Eule war schon bald darauf gestorben, aber sie hatten sie gehabt. Sie, ihre ersten Besen, diese Karte und bestimmt noch viele weitere Dinge – die hatten sie eigentlich von ihrem Vater geerbt …
„Oh, natürlich hab ich jetzt das Wichtigste vergessen.“ Hetty lachte; Fred konnte nicht verstehen, wie sie jetzt lachen konnte, aber es gefiel ihm. Sie hatte ein sehr schönes Lachen. „Das Auto. Regulus war besessen von dem Auto, weil er nie verstanden hat, wie wir – Muggel, so haben er und die anderen es glaub ich genannt – wie wir Muggel so etwas ernsthaft benutzen können. Er hat ein bisschen daran herum gehext – nicht viel. Er wollte unbedingt, dass ihr es bekommt.“
Regulus hatte an dem Wagen herum gehext – war das etwa gar nicht Arthur Weasley gewesen, sondern Freds richtiger Vater?
„Ja, und dann war da noch das Medaillon.“ Hetty wurde nun grimmig, ihr Gesicht regelrecht düster, ihre Stimme seltsam verzerrt durch das, was sich da in ihren Tonfall mischte – Abscheu. „Ich hasse dieses Medaillon, es hat alles verändert. Eines Tages verschwand Regulus – kehrte dann mit dem Medaillon zurück. Es war wirklich schön, aber ich hab gespürt, dass irgendetwas damit nicht in Ordnung ist. Und er – er war so verändert, er wirkte so unglücklich, krank und – irgendwie kaputt … Er hat sofort sein Testament absichern wollen, dann hat er mir das gesagt, was ich dir vorhin schon erzählt habe – ich soll alles vergessen, glücklich werden. Er hat das Medaillon in dem Wagen versteckt, hat gesagt, das wäre etwas, was ihr erst später entdecken solltet. Bis heute frage ich mich, was dahinter steckt … Ich würde es zu gerne noch einmal sehen, um hinter sein Geheimnis zu kommen.“ Sie sah Fred fragend an. „Du und George, ihr habt den Ford Anglia doch noch, oder nicht?“
Harry verließ den Gehängten Mann etwa eine halbe Stunde nachdem Trelawney eingeschlafen war. Sie war kurz nach ihrem Wegtritt wieder aufgewacht, hatte ihre Tarot-Karten zusammengepackt und war dann einfach gegangen, ohne sich umzusehen, als wäre es für sie etwas ganz Natürliches, in dem Lokal aufzuwachen und als hätte sie ihr Gespräch mit Harry vergessen. Harry hielt beides für absolut möglich und sogar wahrscheinlich, hatte aber nicht viel Zeit gehabt, darüber nachzudenken; er war in ein Gespräch mit dem Glatzkopf vertieft gewesen.
„Harry!“
Ron und Hermine kamen die Straße entlang auf ihn zugerannt; beide wirkten abgehetzt, als hätten sie sich sehr beeilt. Dafür waren sie aber ganz schön spät gekommen, fand Harry.
„Hermine – schrei – nicht – so“, zischte Ron außer Atem, als die beiden Harry erreicht hatten. „Du – weckst –“ (er atmete einmal tief durch) „– sonst die Leute auf.“
„Die sind sowieso fast alle in dem Pub da hinten.“ Harry deutete über seine Schulter auf den Gehängten Mann. „Wo seid ihr so lange gewesen?“
„Wir haben versucht, aus Kreacher noch ein bisschen was herauszuquetschen.“ Hermine hielt sich an Harrys Schulter fest und keuchte immer noch ein wenig.
„Jetzt komm erstmal wieder zu Atem.“ Harry wandte sich an Ron. „Also, wie sieht’s aus?“
„Er will uns nichts erzählen“, sagte Ron in verzweifeltem Tonfall. „Er besteht darauf, mit dir zu sprechen. Los, wir müssen sofort zurück, das könnte vielleicht eine heiße Spur –“
„Nein, ich muss hier vorher noch etwas erledigen“, unterbrach Harry ihn. „Wir haben vorher noch etwas zu erledigen.“
„Hast du etwa was herausgefunden?“, platzte Hermine hervor, schrie ihm die Worte direkt ins Ohr.
„Ein bisschen leiser könntest du schon sein“, murrte Harry, als Hermine ihre Hand von seiner Schulter nahm und sich aufrichtete. „Und ja, ich hab was rausgekriegt. Etwas ziemlich Interessantes, finde ich.“
„Dann sag schon!“, drängte Ron.
„Seht ihr das Haus dort oben?“, fragte Harry; er hob die Hand und zeigte auf das Riddle-Anwesen, das auf seinem Hügel thronte. „Wisst ihr, wer dort lebt?“
„Das ist das, wo früher die Riddles gewohnt haben, nicht wahr?“, fragte Hermine. „Dann dürfte es jetzt leerstehend sein.“
„Das hab ich auch gedacht.“
Ron und Hermine starrten Harry verwirrt an.
„Soll das heißen …“, stammelte Ron, „… die Riddles leben immer noch dort? Doch nicht etwa – Voldemort, oder?“
„Nein, Quatsch.“ Harry schüttelte den Kopf. „Nein – dort lebt eine Frau, eine sehr alte, ganz allein – eine Muggelfrau. Sie heißt Cecilia. Ein Mann in der Bar hat es mir erzählt.“
Hermine legte die Stirn in Falten. „Eine Cecilia? Kennen wir so eine Frau? Wer könnte das sein?“
„Bestimmt eine Hexe, die nur so tut, als ob sie keine wär!“, meinte Ron. „Eine Todesserin, die für Voldemort auf das Haus aufpasst!“
„Ich weiß, wer Cecilia ist.“ Harry hatte sich sofort wieder erinnert, als der Glatzkopf ihm den Namen genannt hatte; trotzdem hatte die Bestätigung nicht geschadet. Ist früher mit diesem Tom Riddle ausgegangen, der dort gestorben ist, hatte er Harry erzählt. Seltsam, dass sie jetzt dort eingezogen ist … ob sie das Haus schon immer hat haben wollen und ihn damals umgebracht hat?
„Dann spuck es schon aus!“, sagte Ron.
„Ich hab sie im Denkarium gesehen.“ Harry wandte sich an Hermine, um zu sehen, ob sich vielleicht Erinnerung auf ihrem Gesicht breit macht; er wusste nicht mehr genau, ob er damals selbst so kleine Einzelheiten an Ron und Hermine weitergereicht hatte. Aber scheinbar hatte er von Cecilia nichts erzählt, denn Hermine blickte ihn nur fragend an. „In einer der Erinnerungen, die mir Dumbledore gezeigt hat. In der mit den Gaunts – da ist Cecilia mit Voldemorts Vater ausgeritten und an dem Haus der Gaunts vorbeigekommen.“
Jetzt schien es Hermine zu dämmern; sie machte große Augen. „Ach so, ja! Stimmt, du hast damals gesagt, dass Tom Riddle eine Freundin dabei hatte …“ Dann aber setzte sie eine zweifelnde Miene auf. „Und du denkst, sie könnte nützliche Informationen für uns haben?“
„Ich weiß nicht genau.“
„Ich finde, wir sollten uns zuerst um Kreacher kümmern“, sagte Ron. „Ich meine – mit Cecilia kann uns auch jemand aus dem Orden helfen, ohne dass wir ihnen von den Horkruxen erzählen müssen. Das mit Kreacher kannst nur du regeln, Harry.“
„Wir werden den Orden nicht noch einmal um Hilfe bitten –“
„Doch, Harry, Ron hat Recht“, warf Hermine ein. „Der Orden kann so etwas sicher viel besser als wir, in fremde Häuser eindringen, Menschen befragen – die haben auch sicher eigene Methoden für Muggel. Du weißt doch, grundsätzlich bin ich dagegen, dass wir den Orden in unsere Pläne mit einbinden, aber in diesem Fall wäre es das Sinnvollste, ihn um Hilfe zu bitten. Wir könnten Moody oder Lupin oder Tonks fragen, ob sie das für uns erledigen. Und du verhörst in der Zwischenzeit Kreacher, der ja, wie du schon weißt, nur mit dir reden will.“
Harry war davon nicht begeistert, aber was Ron und Hermine sagten ergab tatsächlich Sinn. Der Orden würde so nichts von den Horkruxen herausfinden. Cecilia hatte wahrscheinlich ohnehin überhaupt keine Informationen – im Gegenteil, mit ihr zu reden wäre wahrscheinlich Zeitverschwendung. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Gespräch mit ihr doch nützlich wäre, war so gering, dass es sogar schon übertrieben erschien, überhaupt daran zu denken … Also war es genau die richtige Aufgabe für den Orden: Er hätte das Gefühl, Harry zu helfen, wäre also zufrieden, würde aber über die Einzelheiten im Unklaren bleiben.
„Okay, wir fragen den Orden“, sagte Harry schließlich. „Gehen wir zu Kreacher.“
Hermine nickte begeistert, Ron grinste und rief: „Gute Entscheidung!“
„Ja, schon gut.“ Harry hatte es eilig; er hatte immer noch das Bild der Gräber seiner Eltern vor sich … „Wir laufen den Hügel wieder hoch und disapparieren von dort.“
Sie rannten zwischen den Häusern die Straße entlang, zurück in die Richtung des Berges, auf dem der Friedhof und das Haus der Riddles sich befanden. Als sie unter dem Anwesen vorbeiliefen, suchte Harry alle Fenster ab – nirgends brannte ein Licht. Cecilia schlief wohl bereits.
Sie erreichten das Gittertor, durch welches Harry und Hagrid den Friedhof betreten hatten.
„Okay, jetzt können wir“, sagte Harry. Er hielt sich an Hermines Oberarm fest und wies Ron an, das ebenfalls zu tun. „Du kannst uns zum Grimmauldplatz bringen?“
„Ja, ich denke, das geht.“ Hermine schloss konzentriert die Augen – und drehte sich.
Nach nur einer Sekunde des schrecklichen Gefühls, durch einen Schlauch gezogen zu werden, hatte Harry wieder festen Boden unter den Füßen. Er öffnete die Augen: Hermine hatte sie direkt auf den Treppenabsatz vor der Eingangstür des Grimmauldplatz Nummer zwölf gebracht.
„Wow, sehr gut gezielt“, sagte Ron erstaunt. „Hast du heimlich geübt?“
Hermine lächelte sehr zufrieden mit sich selbst.
„Wir haben dafür jetzt keine Zeit“, sagte Harry, während sie den Eingangsflur des Hauses betraten.
„Wofür?“, wollte Ron wissen.
„Na – dafür eben. Ganz egal, für alles! Wir müssen zu Kreacher. Ich muss zu Kreacher – ihr geht in die Küche und fragt, ob jemand zu Cecilia gehen kann. Wo ist Kreacher?“
„In Regulus‘ altem Zimmer“, antwortete Hermine.
„Gut. Kommt nicht nach – ich komm dann zu euch. Wo ist Regulus‘ Zimmer?“
„Glaubst du nicht, dass wir mitkommen sollten?“, fragte Ron, wobei er Harry hoffnungsvoll ansah.
„Ron“, sagte Hermine streng, „Kreacher will mit Harry sprechen.“
„Aber ich möchte auch wissen, was der Elf zu sagen hat –“
„Harry erzählt es uns nachher.“ Sie wandte sich an Harry. „Das Zimmer ist im obersten Stockwerk, dort gibt es nur zwei Türen. Beide tragen ein Schild, geh einfach in den Raum, auf dessen Schild Regulus‘ Name steht. Bis nachher!“
Hermine packte Ron bei der Schulter und riss ihn mit sich, als sie Richtung Küche lief.
Harry hingegen rannte die Treppe hoch. Die Aussicht auf ein Gespräch mit Kreacher wirkte doch verlockender als die auf ein Treffen mit Cecilia, wenn er so darüber nachdachte. Die Entscheidung, Cecilia dem Orden zu überlassen, schien die richtige gewesen zu sein.
Immer höher, vorbei an seinem alten Zimmer, vorbei an Türen, hinter denen Stimmen zu hören waren, von denen drei vermutlich den Dursleys gehörten – dann gelangte er im obersten Stockwerk an. Wie Hermine gesagt hatte, gab es hier nur zwei Türen. Messingschilder hingen an ihnen. Auf dem einen las Harry Regulus – auf dem anderen Sirius.
Harry erstarrte für einen Augenblick. Er war noch nie in Sirius‘ Zimmer gewesen, hatte ganz vergessen, dass es auch hier im Haus sein musste. Aber er fasste sich schnell wieder: Er musste sich jetzt konzentrieren, ein Horkrux schien zum Greifen nahe.
Er öffnete die Tür zu Regulus‘ Zimmer. Es war ein sehr leerer Raum, ein Schreibtisch, ein Bett ohne Matratze, staubig – und in der Mitte auf dem Boden lag dieser hässliche, alte Hauself, schluchzend und krächzend, irgendwelche Worte murmelnd, die Harry nicht verstehen konnte.
„Kreacher“, sagte Harry mit lauter Stimme. Lauter, gebieterischer Stimme. So hörte er sich nicht oft reden.
Er hatte Ron und Hermine noch nichts von seinem Verdacht erzählt, wieder von Voldemort besessen zu sein.
Kreacher hörte auf zu schluchzen und blickte auf. Seine Augen waren rot vom Weinen; dadurch sah er noch abstoßender aus als sonst.
„Meister möchte etwas über Meister Regulus erfahren.“ Kreacher sprach sehr leise, aber Harry verstand ihn sehr gut.
„Das ist richtig“, sagte Harry, obwohl Kreachers Worte nicht wie eine Frage geklungen hatten.
Da Kreacher eine Weile lang nichts sagte, fragte Harry: „Weißt du etwas über ein Medaillon, das Regulus gestohlen hat?“
„Gestohlen, pa!“ Kreachers Antwort kam so schnell und laut, dass Harry vor Schreck nach hinten gesprungen war. „Das Medaillon hat Meister Regulus gehört … Es hat der Familie Black gehört, die ehrenwerte Familie Black hatte das Recht, das Medaillon zu haben!“
„Wieso das denn?“
„Seit so vielen Generationen besteht die Familie Black aus reinblütigen Slytherins – wer, wenn nicht sie, hat es verdient, das Medaillon des großen Salazar Slytherin zu besitzen?“
Ja, das passte. Bestimmt hätte Sirius‘ Mutter das Medaillon nur zu gerne besessen. Harry wandte sich wieder an Kreacher.
„Warum warst du vorhin so überrascht, dass du nicht einmal sprechen konntest, als ich dich zum ersten Mal nach dem Medaillon gefragt habe?“
Kreacher beäugte Harry misstrauisch – aber selbst wenn er lieber keine Antwort gegeben hätte, er musste es. Tatsächlich klangen seine Worte so, als würde er sie nicht gerne aus seinem Mund kommen lassen.
„Die Familie Black hat nicht geschätzt, was Meister Regulus für sie getan hat … Die Familie Black wollte das Medaillon, aber nicht so! Nicht auf diese Weise! Nicht – nicht – gestohlen!“
„Also hat Regulus es doch gestohlen?“
„Meister Regulus hat Kreacher mitgenommen.“ Kreachers Stimme zitterte jetzt. Harry hatte Kreacher noch nie ängstlich erlebt – der Elf klang seltsam in seiner Angst. „In eine Höhle. Und ihn – ihn etwas trinken lassen …“
Harry erstarrte. Ihm wurde kalt und elend, als er Kreachers Worte zu verstehen begann; als die Erinnerung zurück kam … Die Höhle, der Trank – er sah alles wieder vor sich. Dumbledore …
„Er – er hat dich den Trank trinken lassen?“
„Ja.“ Sein Körper zitterte nun ebenso wie seine Stimme. „Es war … schrecklich … Kreacher hat Dinge gesehen – erlebt! … Fürchterliche Dinge … Dinge, die Kreacher vergessen wollte, von vor Kreachers Zeit bei den Blacks … Erinnerungen … Kreacher musste alles noch einmal durchmachen …“
Und Dumbledore hatte ebenfalls schreckliche Dinge gesehen … Harry wollte sich nicht vorstellen, welche Angst, welche Schmerzen Dumbledore – und Kreacher – ausstehen hatten müssen … Die Wirkung des Tranks klang ganz nach dem, was man in der Gegenwart von Dementoren fühlte. Aber Kreacher und Dumbledore hatten selbst alles noch einmal erlebt. Harry schluckte.
„Und – und was hat Regulus dann gemacht?“, fragte er; er kam dem Medaillon immer näher …
„Meister Regulus hat Kreacher befohlen, ihn nach Hause zu bringen. Kreacher hat immer noch Dinge gesehen, aber Kreacher musste Meister Regulus gehorchen. Meister Regulus hat gesagt, er kann nicht selbst disapparieren, weil auf der Höhle ein Zauber lag.“
Natürlich – Hauselfen waren gegen Apparier-Schutz immun, auch in Hogwarts konnten die Hauselfen, anders als Zauberer, apparieren. So hat es Regulus Black wieder aus der Höhle geschafft. Aber eines stimmte nicht – Regulus hatte das Medaillon nicht gestohlen, weil er fand, dass die Familie Black das Recht hatte, es zu besitzen. Die Botschaft an Voldemort bewies, dass Regulus hinter das Geheimnis der Horkruxe gekommen war und Voldemort hatte auslöschen wollen.
Wie hatte er das geschafft? Harry wusste, dass er die Antwort auf diese Frage durch Kreacher nicht erhalten würde.
„Was hat er gemacht, als ihr wieder hier wart?“
„Meister Regulus hat das Medaillon versteckt. Er hat Kreacher nicht gesagt, wo. Später hat Kreacher es gefunden.“
Harry stutzte. „Du – du hast es gefunden?“
Kreacher nickte grimmig. „Kreacher hat sich an den Streit erinnert, den Meister Regulus mit seinen Eltern, meinen wahren Meistern, geführt hat … Seine Mutter, Meisterin Walpurga, hat sich geweigert, für Meister Regulus ein Porträt anfertigen zu lassen, weil er sich mit einer Muggel eingelassen hat. Meisterin Walpurga hat gesagt, ‚nur, wenn du uns Slytherins Medaillon bringst, ist deine Ehre wiederhergestellt!‘ Aber Slytherins Medaillon war aus Silber, das, das Meister Regulus gebracht hat, war aus Gold.“
Ein silbernes Medaillon. Ein silbernes Medaillon … der Traum. Der Wirt des Eberkopfes hatte das silberne Medaillon. Nein, Harry musste das vergessen, das war nur ein Traum gewesen – er hatte vor kurzem wieder von einem silbernen Medaillon gehört. Wo … wann …
Hier, in diesem Haus! Ron hatte es gesagt – das Medaillon, das sie damals nicht hatten öffnen können, als sie das Haus gereinigt hatten, es war silbern gewesen! Und eine Schlange war darauf gewesen – Slytherins Zeichen!
„Als Kreacher ein silbernes Medaillon in Meister Regulus‘ Zimmer entdeckt hat – genau da –“ (er deutete unter Regulus‘ Bett) „– da ist es ihm sofort klar geworden. Meister Regulus hat das goldene Medaillon versilbert, um zu behaupten, es wäre das richtige und Meistern Walpurga zu täuschen. Wäre es das echte Medaillon Slytherins gewesen, hätte Meister Regulus es seiner Mutter sofort gegeben.“
„Kreacher, wo hast du das Medaillon hingetan? Sag es mir auf der Stelle!“
Harry glaubte, was Kreacher da erzählte. Er war sich sicher, dass Kreacher richtig lag – Regulus hatte das Medaillon verwandelt, ob er es nun getan hatte, um es besser zu schützen, oder um tatsächlich seine Familie zu täuschen, war egal. Das musste einfach stimmen.
Kreacher sah Harry verachtend an. „In den Salon, wo Meister Harry und seine Freunde es gefunden und dann weggeworfen haben! Kreacher hat es gerettet und in seinem Bett versteckt – dann hat er es gestohlen.“
Harry wurde abwechselnd heiß und kalt; er war so nah dran, so nah … „Wer? Wer hat es gestohlen?“
Nicht Snape … bitte nicht Snape … bitte, lass es nicht Snape gewesen sein!
Kreacher fletschte die Zähne. „Der stinkende Mistkerl. Dieser eklige Mann, der dauernd nach Tabak und Alkohol gerochen hat. Kreacher hat ihn nie gemocht.“
„Du meinst – Mundungus Fletcher?“
Kreacher knurrte. „Meister Harry soll den Namen nicht nennen! Nennen Sie bitte den Namen nicht!“
Mundungus Fletcher. Also hatte er doch richtig gelegen! Er hatte vorhin schon vermutet, dass Fletcher es gestohlen haben könnte. Allerdings war ihm auch gleich klar geworden, nachdem Hermine ihm von dem vertuschten Ausbruch aus Askaban erzählt hatte, dass sie ihn nie finden könnten … Aber sie mussten. Fletcher hatte das Medaillon – oder hatte es zumindest gestohlen. Eine schreckliche Erkenntnis ergriff Harry: Fletcher hatte das Medaillon mit großer Wahrscheinlichkeit schon weiter verkauft. Aber Harry musste ihn finden – er war seine einzige Hoffnung.
„Du hast mir sehr geholfen, Kreacher. Gehe jetzt zurück nach Hogwarts.“
Kreacher rappelte sich mit einigen Schwierigkeiten auf, immer noch zitternd. Als er auf wackelnden Beinen stand, verbeugte er sich kurz. Dann verschwand er.
Harry lief aus dem Raum, hatte nicht einmal einen kurzen Blick für die Tür zu Sirius‘ Zimmer übrig, lief sofort die Stufen hinunter. Am Fuß der Treppe stand Ron.
„Wie lief’s?“, fragte er aufgeregt.
„Wo ist Hermine?“
„Kurz oben bei ihren Eltern. Sie hat sie vor ein paar Tagen hier her gebracht, damit der Orden sie beschützen kann – du weißt ja, dass Hermine ständig in deiner Nähe ist, ist nicht gerade ein Geheimnis, und wenn Voldemort –“
„Ja, schon kapiert. Ist jemand bei Cecilia?“
„Ja, Tonks“, sagte Ron; er zuckte mit den Schultern. „Ich weiß, sie ist vielleicht nicht unbedingt die beste für den Job, aber Moody und Lupin waren nicht mehr da, und da wir nicht so viel Zeit haben …“
„Tonks schafft das schon. Tollpatschigkeit hindert einen ja nicht daran, einem Menschen fragen zu stellen – Hermine, da bist du ja.“
Hermine erschien an Harrys Seite; sie sah wieder sehr abgehetzt aus.
„Du solltest nicht immer so schnell rennen“, sagte Ron, „sonst fällst du irgendwann noch um.“
„Alles – okay“, keuchte Hermine. „Ich – hab – mich – nur – beeilt.“
„Dann schieß mal los, Harry.“ Ron wandte sich mit erwartungsvoller Miene an Harry. „Was hat Kreacher gesagt?“
„Das Medaillon ist bei Mundungus Fletcher.“
„Bei wem?“, fragte Ron und Hermine wie aus einem Mund.
Harry erzählte den beiden alles, was er von Kreacher erfahren hatte. Dass Regulus Kreacher mit in die Höhle genommen hatte, Kreacher das Gift hatte trinken lassen, er die Farbe des Medaillons später verändert hat, vermutlich, um seiner Familie weiszumachen, es wäre das richtige von Salazar Slyth-
Und da fiel es Harry ein. Irgendetwas hatte ihn schon die ganze Zeit gestört an der ganzen Sache. Jetzt war ihm klar, was: Das Medaillon Salazar Slytherins war silbern. Das, das Harry mit Dumbledore im Denkarium gesehen hatte, das, das Regulus Black gestohlen hatte – das war golden.
Voldemorts Horkrux war nicht das richtige Medaillon von Salazar Slytherin?
„Harry?“ Hermines Stimme holte Harry aus seinen Gedanken. „Ist alles in Ordnung?“
„Was? Ich – ja. Nein. Hört zu – da stimmt doch was nicht.“
Er berichtete Ron und Hermine, was er gerade erkannt hatte. Ron sah ihn erstaunt an, Hermine legte nur die Stirn in Falten.
„Du hast Recht, das ist merkwürdig“, sagte sie.
Harry dachte nach – wäre jetzt der richtige Zeitpunkt, den beiden von seinem Traum zu erzählen? Er kam ihm immer wahrscheinlicher vor. Das silberne Medaillon – Voldemort hatte in seinem Traum gesagt, er hätte einen Fehler begangen, das falsche Relikt gefunden – Aberforth, der Wirt des Eberkopfes, hätte das richtige … Konnte Harry jetzt noch ernsthaft annehmen, dass es nur ein Traum gewesen war? Aber es war Oktober gewesen in dem Traum – Hermine würde ihn ausspotten, weil er ihn für echt hielt, schließlich wäre das Hellseherei gewesen und nicht nur ein Blick in Voldemorts Geist. Er stellte sich mit Trelawneys Schals und Brille vor, seine Augen dreimal größer als normal – und beschloss, die Sache mit dem Traum doch für sich zu behalten.
„Eigentlich ist das jetzt egal“, sagte Harry hastig. „Fakt ist, das Medaillon wurde von Regulus versilbert und Mundungus hat es gestohlen.“ Dass die Veränderung der Farbe des Medaillons weniger Fakt als eher eine Theorie Kreachers, die Harry für wahr hielt, war, verriet er ebenfalls nicht. „Wir müssen also Fletcher finden. Das dürfte zwar schwierig werden, weil er aus Askaban ausgebrochen ist, aber wir müssen es versuchen. Und mit seinem Zuhause anfangen. Wisst ihr, wo er lebt?“
Hermine schüttelte den Kopf – Ron aber lächelte. „Ja, weiß ich!“, sagte er.
„Woher das denn?“, wollte Hermine wissen.
„Also – nun ja …“ Ron wandte den Blick ab. „Fred und George haben ihn mal besucht und was von ihm gekauft. Sie haben mir damals gesagt, wo er wohnt.“
Hermine war es sichtlich unangenehm, gefragt zu haben; sie errötete und suchte hilfesuchend Harrys Blick.
„Also, wo wohnt er?“, fragte Harry schnell.
Ron blinzelte, drehte sich wieder Harry zu und antwortete: „In der Rumpelkammer.“
„In – wie bitte?“
„In der Rumpelkammer. So heißt sein Haus. Die Rumpelkammer, das ist alles, was man wissen muss, wenn man hin apparieren will. Genauso, wie man bei unserem Haus nur an den Fuchsbau denken muss.“
„Also, dann können wir ja gleich los“, sagte Hermine; sie streckte den Arm aus, damit Ron und Harry sich wieder festhalten konnten.
Harry griff sofort zu; Ron allerdings zögerte.
„Was ist denn?“ Harry konnte den genervten Tonfall nicht aus seiner Frage herausnehmen – sah Ron nicht, dass sie auf dem besten Weg waren, einen ersten Erfolg zu feiern?
„Ich weiß nicht …“ Ron sah unsicher von Harry zu Hermine. „Sollten wir nicht vorher einen Plan schmieden oder so etwas?“
„Du hast Recht“, sagte Harry, wiederum in einem Ton, den er lieber nicht benutzt hätte. „Lass mich mal nachdenken … Oh, da ist der Plan: Wir gehen zu Dung und sagen ihm, wenn er das Medaillon nicht rausrückt, schneiden wir ihm den Kopf ab.“
„Du brauchst nicht so zynisch zu sein!“, entgegnete Ron wütend. „Was ist, wenn er es schon verkauft hat?“
„Dann schneiden wir ihm etwas ganz anderes ab, wenn er uns nicht den Namen des Käufers verrät.“
„Vielleicht wäre es sinnvoller, gleich mit dem anderen zu drohen“, fügte Hermine hinzu. „Sein Kopf ist ihm wohl nicht besonders wichtig, sonst würde er den auch mal füllen.“
„Und wenn er in seinem Haus eine Falle aufgestellt hat?“, erwiderte Ron.
„Dann umgehen wir sie.“ Harry stöhnte. „Du musst nicht mitkommen, wenn du nicht willst.“
„Doch, schon gut, ich mach ja schon.“ Ron packte Hermine am Oberarm.
„Also, auf zur Rumpelkammer.“ Hermine schloss die Augen, drehte sich – und es ging los.
Harry schwor sich, sich als neues Lebensziel den Auftrag zu setzen, nach der Vernichtung Voldemorts (oder am besten noch davor) eine Reisemethode zu erfinden, die genauso schnell, aber um einiges angenehmer war als die Apparation. Viel Zeit, sich schon einmal darüber Gedanken zu machen, hatte er aber nicht: Als er die Augen wieder öffnete, fand er sich in einer etwas erschreckenden Gegend wieder.
Um ihn herum standen alte und verfallene Häuser, und die Straße, auf der er stand, sah aus, als würde sie jeden Moment auseinanderbrechen. In der Ferne, in der Dunkelheit der Nacht eindeutig erkennbar, ragte ein riesiger Schornstein über den Dächern weiterer Häuser in die Höhe – offenbar hatte dort einmal eine Fabrik gestanden. Blickte man in die andere Richtung, so sah man einen Fluss, schmutziger als jeder, der Harry jemals unter die Augen gekommen war. Er stank sogar bis zu der Stelle, an der sie standen – oder es waren die Berge von Müll, die den Geruch verbreiteten.
Harry konnte sich nicht vorstellen, dass hier jemand wohnte. Die Häuser sahen auch tatsächlich aus, als würden sie leerstehen.
„Welches ist die Rumpelkammer?“
„Das weiß ich auch nicht“, sagte Ron. „Hermine?“
Hermine sah sich um. „Es müsste das hier sein.“ Sie zeigte auf jenes, welches direkt neben ihnen stand. „Wenn das mit dem Denken an die Rumpelkammer tatsächlich funktioniert, dann müssten wir direkt davor gelandet sein. Und das Haus ist uns am nächsten.“
„Na, dann.“ Harry sprang die Stufen hoch zu dem Eingang des Hauses und stieß die Tür auf. Das Innere des Hauses war auf den ersten Blick leer, doch kaum hatte Harry es betreten und seine Augen sich an die Dunkelheit, die innen herrschte, gewöhnt hatten, sah er schon, dass diese scheinbare Leere auch nur von der Finsternis hergerüht hatte. Tatsächlich war dieser Raum das genaue Gegenteil von leer.
Altes, dreckiges Haus hin oder her, die Wände waren bis zur Decke hoch vollgestellt mit wertvoll wirkenden Gegenständen, die blitzten und glänzten, die meisten in Silber oder Gold. Zwischen den vielen Dingen schienen Wege zu sein, die wohl jemand gebaut hatte, der hier öfters durchgehen musste. Aber selbst dort, wo sich diese Pfade befanden, lagen einige Ketten, Kelche und Kessel, die aber alle älter aussehen, Dellen oder Löcher hatten. Diese „Einrichtung“ erinnerte Harry an die von Hepzibah Smith, auch wenn ihr Haus um einiges vornehmer ausgesehen hatte.
Ron und Hermine traten hinter ihm ein und schlossen die Tür. Beide flüsterten „Lumos“; Harry, der das für eine gute Idee hielt, tat es ihnen gleich.
„MUNDUNGUS!“, rief Harry dann. „BIST DU DA?“
Harrys Stimme hallte in dem Raum – der um einiges größer war, als von außen betrachtet hätte vermutet werden können – wider, aber eine Antwort von jemand anderem war nicht zu hören.
„Wie finden wir denn das Medaillon hier?“ Ron blickte von einem Turm an Krempel (und vermutlichem Diebesgut) zum Nächsten.
Hermine senkte den Kopf zu Boden. „Also … naja … es könnte … es ist einen Versuch wert.“
Sie hob den Zauberstab und rief: „Accio Medaillon!“
Eine Art Rascheln drang aus verschiedenen Richtungen zu ihnen; beunruhigt sahen sie sich um.
„Was war das?“, fragte Ron.
Er bekam die Antwort in der nächsten Sekunde: Zwischen all den Gegenständen kamen dutzende von klirrenden und klappernden Medaillons hervorgeschossen, direkt auf Hermine zu. Harry, Ron und Hermine sprangen alle drei zur Seite, aber die Schätze folgten Hermines Ruf. Sie fiel schreiend zu Boden und wurde unter den Medaillons begraben.
Ron konnte nicht mehr vor Lachen, während Harry – der so gut wie es nur ging versuchte, nicht wie Ron loszubrüllen – zu dem Haufen am Boden eilte, unter dem Hermine begraben war, um ihr zu helfen. Erst warf er die Medaillons achtlos nach allen Seiten, bis ihm einfiel, dass möglicherweise der Horkrux dabei sein könnte, weshalb er etwas vorsichtiger wurde. Er suchte nach einem Zeichen Hermines und fand schon bald die buschigen Haare und daneben eine in die Höhe gestreckte Hand. Harry packte die Hand und zog Hermine aus dem Berg von Medaillons heraus.
„Das ist nicht lustig, Ron!“ Hermine klang beleidigt. „Ich hab mich fast zu Tode erschreckt!“
„Ja, tut mir Leid“, presste Ron in seinem Gelächter hervor; dann beruhigte er sich, atmete tief durch und fügte hinzu: „Es war wirklich nicht lustig. Tut mir Leid.“ Trotzdem grinste er breit und war rot im Gesicht.
„Also.“ Harry klopfte ein wenig Staub von seinem Hemd. „Eins davon könnte der Horkrux sein.“ Er sah um sich; auf den ersten Blick fast nur grüne und schwarze Medaillons, ein paar goldene und silberne, die aber viel zu klein oder zu groß für das gesuchte waren. „Also, wir sehen uns die jetzt an. Wir werfen sie dann in die Richtung der Tür. Ihr wisst, wie das aussieht, wonach wir suchen?“
„Silbern mit einer Schlange drauf“, sagte Ron, „außer, Dung hat es irgendwie geschafft, die Verwandlung wieder rückgängig zu machen und es ist wieder golden.“
„Gut, dann –“
Die Tür öffnete sich. Harry, Ron und Hermine wirbelten herum und die Lichter ihrer Zauberstäbe fielen auf einen unrasierten Mann mit kurzen Beinen.
Harry zog sofort seinen Zauberstab und richtete ihn auf Mundungus Fletcher.
„Hallo, Dung“, sagte er.
Überrascht ließ Mundungus die beiden Säcke fallen, die er in seiner Hand gehalten hatte. Ron und Hermine richteten ihre Zauberstäbe ebenfalls auf ihn.
Er versuchte, zu lächeln, tat das aber nicht sehr überzeugend. „Hallo, Leute! Was macht ihr’n hier? Schön, euch ma‘ wieder zu seh’n!“
„Genug.“ Harry machte einen Schritt auf Mundungus zu. „Wage es nicht, zu fliehen. Es zu versuchen. Du schaffst es sowieso nicht. Zumindest Hermine hat dich eher in eine Flasche verwandelt, bevor du disappariert bist – in eine Flasche, aus der man trinken kann, mein ich.“
Mundungus lachte, so laut er konnte. „Sehr witzig, Junge!“ Harry hörte zufrieden, dass Mundungus ein bisschen Angst hatte. „Also, was – was gibt’s denn Dringendes?“
„Wir suchen ein Medaillon“, sagte Ron.
Mundungus warf einen Blick auf den Boden. „Na, da habt ihr ja schon ma‘ mit Such’n angefang’n.“
„Wir suchen ein silbernes, eine Schlange ist darauf abgebildet“, fügte Hermine hinzu.
Mundungus hob die Augenbrauen. „Wenn ihr die Zauberstäbe runternehmt, dann sag ich euch was drüber.“
„Du erinnerst dich daran?“ Hermine klang zweifelnd.
„Vielleicht. Nehmt die Stäbe runter.“ Die drei rührten sich nicht. „Ach, kommt schon … Ich lauf schon nich‘ weg. Ich wohn hier!“
Harry sah sich nach Ron – er zuckte mit den Schultern – und Hermine – sie nickte. Alle drei ließen gleichzeitig ihre Zauberstäbe sinken.
„Gut, danke.“ Mundungus griff nach den Säcken und hob sie wieder hoch. „Es macht mich doch immer wieder nervös, wenn solche Holzdinger auf mich zeig’n. Das Medaillon – ja, das kenne ich.“
Er ging an den drein vorbei und einen der Wege entlang. Harry, Ron und Hermine folgten ihm. Sie gelangten zu einer Tür, durch die sie traten. In diesem kleinen Raum waren keine Schätze; bis auf einen Tisch, einen Stuhl und einen Kühlschrank befand sich gar nichts darin. Mundungus zündete eine Kerze auf dem Tisch mit seinem Zauberstab an, setzte sich auf den Stuhl, ließ die Säcke an beiden Seiten daneben fallen, öffnete den Kühlschrank und nahm eine Flasche Feuerwhiskey heraus.
„Auch was?“, fragte er. Harry und Hermine schüttelten die Köpfe, Ron aber sagte: „Naja –“
„Ron!“, unterbrach ihn Hermine.
„Schon gut, dann eben nicht.“
„Also, das Medaillon.“ Mundungus nahm einen Schluck, machte eine saure Miene und wischte sich den Mund ab. „Wieso interessiert es euch?“
„Du hast es gestohlen, die Fragen stellen wir“, entgegnete Harry.
Mundungus stutzte. „Gestohlen? Das is‘ das falsche Wort … Der Orden hat das Ding sowieso weggeworfen.“
„Du hast es aus Kreachers Zimmer gestohlen. Es war also sehr wohl richtiger Diebstahl.“ Oder so etwas in der Richtung. Harry fragte sich, ob Kreacher es nicht eigentlich auch unrechtmäßigerweise an sich genommen hatte.
Diesmal lachte Mundungus auf ehrliche Weise. „Der Elf? Als ob der wen interessieren würde. Vor allem dich. Der hat doch Sirius auf dem Gewissen.“
Harry ballte die Hände zu Fäusten. „Das tut jetzt nichts zur Sache. Wo ist das Medaillon?“
Mundungus trank erneut aus seiner Flasche, dann sagte er: „Verkauft.“
„Verkauft?“, rief Harry. „An wen?“
„Weiß ich nicht mehr.“
„Weißt du – wie bitte?“
„Ich hab keine Ahnung.“ Mundungus öffnete einen der Säcke, nahm ein Armband heraus und betrachtete es aufmerksam. „Hab zu der Zeit viel verkauft, als auch das Medaillon rausging. Ich kann euch ‘ne Liste aller Leute geben, an die ich verkauft hab – aber das sind etwa zweihundert. ‘N bisschen mehr.“
Harry erhob seinen Zauberstab wieder. „Denk scharf nach.“
Mundungus beäugte den Zauberstab misstrauisch. „Du wirst mich doch nich‘ verletz’n?“
„Das liegt ganz an dir.“
„Wieso wollt ihr es überhaupt so dringend?“ Mundungus legte das Armband auf den Tisch und holte eine Kristallkugel aus dem Sack. „Ist es sehr wertvoll? Oder will der echte Besitzer es zurück?“
Harry zog die Augenbrauen zusammen. „Welcher echte Besitzer?“
Mundungus zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Die Schlange hat ausgeseh’n wie ‘n S, da musste ich erst an Sirius denken – dann hab ich genauer über die Schlange nachgedacht. Das hat nich‘ zu Sirius gepasst. Passt besser zu Severus, hab ich mir gedacht. Ich hätt’s ihm ja selbst zurückgegeb’n, aber dann war da die Sache mit Dumbledore … Naja, ich weiß ja, der war das nich‘ wirklich. Ich kenn ihn. Ich hab ihn zwar schon lang nich‘ mehr hier geseh’n, aber immerhin wohnt er hier gleich um die Ecke.“
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